Reinhard Döhl | Zu Wolfgang Hildesheimers "Prinzessin Turandot"

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In seiner 1963 erschienen Bestandsaufnahme, "Dramaturgie und Geschichte" des Hörspiels, die zugleich wesentlich auch Plädoyer für das Hörspiel der 50er Jahre war, nennt Heinz Schwitzke vor allem drei Namen, ohne die das Hörspiel des letzten Jahrzehnts nicht zu denken wäre: Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer, Fred von Hoerschelmann, und hebt als eine besondere Leistung Hildesheimers hervor, daß er entgegen einem landläufigen Vorurteil "durch alles, was er" schreibe, "beweise, daß sich das Komplizierte und Absurde auch einfach darstellen läßt, sozusagen in einem Haydnschen Dur".

In dieses Lob waren ein gutes Dutzend Hörspiele eingeschlossen, die Hildesheimer seit 1952 in rascher Folge, z. T. als Vorstufe zu Bühnenfassungen geschrieben hatte, und die ihn schon rein quantitativ als wichtigen Hörspielbeiträger der 50er Jahre auswiesen.

1971 - der einst so fleißige Hörspielautor hatte in der Zwischenzeit nur noch zwei Hörspiele geliefert - antwortete Hildesheimer Walter Jens in einem Gespräch auf die Frage, welche seiner Werke er rückblickend eliminieren würde:

Zitat

Ja, von den existierenden Werken würde ich das "Paradies der falschen Vögel" eliminieren (...) und dreiviertel der Hörspiele; "Lieblose Legenden" nicht. Ja, ich meine, wenn es sein müßte, würde ich alles eliminieren außer den "Lieblose Legenden" und "Tynset" und "Die Verspätung" und "Das Nachtstück", den beiden Theaterstücken.

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Die Rigorosität dieser Rücknahme ist verblüffend und läßt sich - wenigstens zu Teilen - nur erklären aus einer Situation, wie sie sich in den beiden Hörspielen "Die Verspätung" und "Das Nachtstück" darstellt, aus der Position, die Ich-Erzähler und ihm nahestehender Autor in "Tynset" einnehmen, einer Position, die das Hörspiel "Monolog" 1964 vorformuliert.

Einspielung

Was wollte ich denn noch was außer schlafen? Hm, Nachrichten?
Nein, das auch nicht.
Das wiederholt ja nur nach einer gewissen Zeit und wenn es nicht dasselbe ist wie im vorigen
Jahr, so ist es dasselbe wie vorgestern. Nichts Neues, immer nur das Alte mit neuen Namen garniert.
Ja, ja richtig. Der Straßenzustand und selbst für nachprüfbare Tatsachen Unabänderliches, Straßen, Pässe gestern im ersten Schneefall; bei rechtem Anlauf noch passierbar mit rasselnden Schneeketten. Hinter mir einer, der kommt noch durch, der Nächste auch, aber der Übernächste bleibt stecken. Gelbe Nebellichter, Nebellichter, sie betasten den Schnee, stechen ihn an und so geht es bergauf über den Paß und nicht mehr hinab, sondern weiter und weiter und weiter. Ich stoße mich von der Straße ab. Ich schwebe über den Schnee und entferne mich, der Milchstraße entgegen.

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Mit diesem Hörspiel setzt im Werk Hildesheimers die radikale Wendung zum Monologischen ein, sind Autor und Ich in Hörspiel und Prosa oft kaum mehr zu trennen, nehmen die Arbeiten immer stärker die 11Form eines Bewußtseinsprotokolls" an, werden derart Bestandteile einer - wie Thomas Koebner formuliert hat - "Autobiographie des Nonkonformisten".

Das Werk, die Werkgeschichte Hildesheimers spiegelt auch die Krise des Schriftstellers der 50er Jahre, der nicht bereit war, sich angesichts von Wiederaufbau, Restauration und zunehmender Wohlstandsgesellschaft in eine Art Innerlichkeit zurückzuziehen. Dazu bietet schon die Biographie Hildesheimers, der 1933 emigrieren mußte nach dem Kriege zunächst am Starnberger See, bald jedoch aus Schweizer Sicht die deutsche Nachkriegsgeschichte erlebte, keinen Anlaß.

Das Werk Hildesheimers ist leicht überschaubar zu machen, wenn man einkalkuliert, daß sich Hildesheimer seinen Problemen von verschiedenen Seiten in den verschiedensten literarischen Redeformen nähert, so daß sich die Grenzen der einzelnen Gattungen gelegentlich zu verwischen scheinen. Dabei kann die Erzählprosa Vorlage für Hörspielbearbeitungen sein, so die "Lieblosen Legenden" für "Das Atelierfest" und "Die Bartschedelidee". Ähnliches gilt für den Roman "Das Paradies der falschen Vögel". Andere Hörspiele sind erste selbständige Ausformulierungen von Theaterstücken, z. B. die "Prinzessin Turandot", von der es zwei Hörspiel- und zwei Theaterfassungen gibt: "Der Drachenthron" bzw. "Die Eroberung der Prinzessin Turandot". Umgekehrt erfährt das Theaterstück "Mary Stuart" seine Bearbeitung, erhält seine selbständige Hörspielfassung als "Mary auf dem Block". Gelegentlich sind Hörspiele auch erste Erprobung von Themen, die ihre letztliche Ausformulierung in der erzählenden Prosa erfahren: "Monolog" und "Tynset", "Maxine" und "Masante". Wichtig ist für den Interpreten, daß er oft das eine nicht ohne das andere nehmen darf, daß sich zumeist in der Zusammenschau der jeweils zusammengehörenden Texte erst das ganze Bild ergibt, die Entwicklung genau erschließt: Thema als Variation.

Wie schon angedeutet, zeigt sich Hildesheimers Werk an der Oberfläche deutlich zweigeteilt, deutet sich mit den letzten Arbeiten, den Hörspielen "Hauskauf" und "Biospärenklänge" möglicherweise eine dritte Phase an.

Diese Oberfläche zeigt zunächst den gesellschaftskritischen Erzähler absurder, grotesker Geschichten, ihnen zugehörender - gerne durch einen Erzähler gegliederter - Dialog- und Rollenspiele, der sich über die Figuren umgedeuteter Geschichte und Überlieferung ("Turandot", "Helena", "Maria Stuart") Mitte der sechziger Jahre immer mehr auf sich selbst zurückzieht, wobei sich Autor und Erzähler immer mehr nähern. Den Identifikationsfiguren, (der falsche Prinz in "Prinzessin Turandot", "Helena", "Maria Stuart") folgt gleichsam die Fast-Identität von Autor und erzähltem Ich, der Monolog, die Hildesheimer schon in "Das Opfer Helena" und an anderer Stelle erprobt hatte, wird zur bestimmenden Redeform, ohne daß es gleich zu dieser Fast-Identität kommt. Hier erweist sich das zitierte "Monolog"-Hörspiel deutlich als Zwischenglied, als Vorstufe von "Tynset". In einem Gespräch mit Hans-Gerd Krogmann und Klaus Schöning hat Wolfgang Hildesheimer im Feburar 1965 selbst auf diese Zwischenlage im Wechsel von Dialog zu Monolog hingewiesen:

Einspielung Gespräch Hans-Gerd Krogmann, Klaus Schöning / Wolfgang Hildesheimer

Und dann auch in dem Hörspiel-Monolog, ich würde sagen, daß da der Sprecher des Monologs nicht unbedingt die Figur meiner Identifikation ist. Ich habe mich also bemüht, nach einer ganz gewissen Wandlung zum sogenannten Absurden hin das Geistreiche überhaupt auszuschalten, überhaupt eigentlich den Dialog, der aus Rede und Gegenrede besteht, auszuschalten, nicht wahr. Vielmehr monologisch zu werden und gerade zu demonstrieren, daß also kein richtiger Dialog zustande kommt. Das ist ja auch das wesentliche Thema der "Verspätung" eben, wo eigentlich gar kein Dialog, wo die Leute alle aneinander vorbeireden.

Autor

Vorausgegangen waren das Wechselspiel von Monolog und Dialog in "Das Opfer Helena", eine Verfeinerung und faszinierende Ausprägung des Dialogs zur Kontroverse für Stimmen, weitab von der Gesprächssituation der meisten dialogischen Hörspiele der damaligen Zeit. Vielleicht das Musterbeispiel dieser Dialogführung bietet Hildesheimers 1962 gesendetes Zwei-Stimmen-Stück "Unter der Erde" schon zu Anfang:

Einspielung

Frau: Was tust du da?
Mann: Siehst du nicht, daß ich säe?
Frau: Jetzt sehe ich es. Und was sähst du?
Mann: Rettiche.
Frau Rettiche?
Mann: Warum erstaunt dich das?
Frau: Weil du keine Rettiche zu züchten verstehst"
Mann: Woher weißt du das?
Frau: Bisher sind sie nie gut geworden.
Mann: Bisher. Ich säe Rettiche, um festzustellen, ob sie nicht doch einmal gut werden.
Frau: Außerdem ißt du doch Rettiche gar nicht.
Mann: Weil sie nie gut sind.
Frau: Bisher hast du auch gute Rettiche nicht gegessen.
Mann: Sie waren mir nie gut genug.
Frau: Was verleitet dich zu der Hoffnung, daß sie diesmal gut werden?
Mann: Nichts.
Frau: Und dazu noch so gut, daß selbst du sie magst?
Mann: Nichts. Aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß sie doch einmal gut werden.
Frau: Man kann beinahe sicher sein, daß etwas was jedes Jahr schlecht gewesen ist, nicht plötzlich eines schönen Jahres gut
wird.
Mann: Beinahe sicher. Aber nicht ganz sicher.
Frau: So gut wie sicher.
Frau: Ebenso gut könnte man annehmen, daß etwas, was jedes Jahr schlecht gewesen ist, eines schönen Jahres gut werden muß.

Autor

Solche Kontrovers-Dialoge sind nicht nur ein wesentliches Stilelement in Hildesheimers Hörspielen, sie sind gleichsam formaler Ausdruck einer antithetischen Grundhaltung des Autors. Mit Recht hat Thomas Koebner schon den Prüfungsdialog in "Prinzessin Turandot" eine Erörterung mit verteilten Rollen genannt, einen

Zitat

kontrapunktisch gegliederten Aphorismen-Monolog. Die Sprache ist nicht auf eine bestimmte Figur zugeschnitten, sondern schwebt über allen Charakteren - eine brillant stilisierte Antithesensuche.

Autor

Von ähnlicher Qualität, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, ist der entscheidende Dialog zwischen Adrian und Onkel Nikolaus in "Herrn Walsers Raben". In diesem Zusammenhang wichtig ist Hildesheimers Absichtserklärung zu seinem 1974 gesendeten Hörspiel "Hauskauf".

Zitat

Das Stück soll eine Mischung werden zwischen knappem Dialog wie in meinem besten Hörspiel "Unter der Erde" und artifiziellen, sehr stilisierten "Monologen.

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Diese Absichtserklärung versteht sich erst ganz beim Abhören des Hörspiels, wenn sich nämlich in der vorletzten Sequenz andeutet, daß das rhetorisch heruntermusizierte Stimmenspiel zwischen A und B, zwischen Verkäufer und Käufer, zwischen erklärtem Kampf gegen die "Ausrotter" und Flucht in die Idylle fiktiver Dialog ein und derselben Person sind.

Einspielung

A: Offensichtlich weißt du es besser.
B: Ich weiß es besser, ja. Wir kennen uns, wir können die Rollen tauschen.
A: Ja, tauschen wir. Ich habe meine Rolle ohnehin satt.
B: Also gut: Ich wollte fort aus diesem Haus. Ich wollte fernen Minderheiten helfen, da sich mir die nahen Ziele entziehen. Ich habe Vorbereitungen getroffen, habe verhandelt, gebaut und gebastelt, bis alles zu spät war. Zwar hatte ich damit nicht gerechnet...
A: ...aber in mir hat es damit gerechnet.
B: Und wie ist es mit Patagonien?
A: Ja, wie ist es mit Patagonien?
B: Ich weiß so gut wie du, daß ich dorthin niemals gelangen werde. - Wollen wir einmal wieder ehrlich miteinander sein?
A: Das haben wir inzwischen allzu oft versucht.
B: Wie du willst. Ich fand immer, es seien unsere besten Augenblicke.
A: Relativ.
B: Relativ natürlich. Zum Ruhm reicht es nicht.
A: Dazu hatten wir ja Williams.
B: Ja, dieser Williams, gefallen und wieder auferstanden...
A: Lassen wir ihn jetzt wenigstens ruhen. Die Spaltung in drei brauchen wir nun wirklich nicht mehr.
B: Wir brauchen auch die Spaltung in zwei nicht mehr. Ich bleibe ich.

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Dieser von ferne an Beckett erinnernde Dialog-Monolog könnte so etwas wie eine Synthese der absurden "Spiele in denen es dunkel wird" und der Erinnerungsmonologe der 6Oer Jahre sein. Er kann aber zugleich als Vorstufe zu Hildesheimers letztem Hörspiel von 1977 "Biospärenklänge" gedeutet werden, in dem - wiederum in einem einsam gelegenen Landhaus - ein Mann und eine Frau einen Gast erwarten, der nicht kommt. Stattdessen sprechen gewisse Zeichen für Endzeit, die Getränke schmecken schal, die Uhr ist stehen geblieben, die Telefonleitung ist tot. Mann und Frau verstehen diese Zeichen ebenso wenig zu deuten wie einen tot vom Himmel fallenden Vogel, einen plötzlich erklingenden raumlosen Ton. Es bleibt die Frage, was kommen wird, auf was man sich einzurichten hat, bevor man sich die Ohren verstopft.

Einspielung

Mann: Vielleicht sollten wir uns etwas in die Ohren stopfen.
Frau: Dann verstehen wir einander nicht mehr.
Mann: Dach, letzten Endes verstehen wir einander auch ohne zu reden. Verzeih den Pathos.
Frau: Ich verzeihe alles - ich meine d i r.
Mann: Darauf wollte ich hinaus. Hatte ich Recht, daß wir jetzt zusammenhalten?
Frau: Du hattest in allem Recht.
Mann: Wie gern hätte ich in vielem Unrecht gehabt.
Frau: Es war besser, das Unrecht anderen zu überlassen. Was tun wir jetzt?
Mann: Falls wir einander noch etwas in Worten mitzuteilen haben, wäre jetzt der Augenblick gekommen. Gibt es noch etwas zu sagen?
Frau: Laß mich überlegen. - Nein, ich wüßte nichts.
Mann: Ich auch nicht.

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Hildesheimers Hörspielwerk ist, so sagten wir schon, an der Oberfläche abgelesen, zweigeteilt in eine Dialog- und eine Monologphase, es ist, will man die letzten Hörspiele als wieder aufgelöste Monologe verstehen, in ein dritte Phase eingetreten. Die genaue Beobachtung, wie Hildesheimer Monolog und Dialog handhabt, bietet bereits eine weitgreifende Sonde in dieses Hörspielwerk.

Bevor wir abschließend auf die "Prinzessin Turandot" zu sprechen kommen, muß aber noch eine weitere Möglichkeit, die Hildesheimersche Werkentwicklung zu gliedern, vorgestellt werden. Diese Gliederung würde sechs kleinere Entwicklungsstufen im heute überschaubaren Gesamtwerk herausstellen.

Danach beginnt Hildesheimer mit gesellschaftskritischen, gesellschaftssatirischen Erzählungen und Hörspielen, die einer immer wirtschaftswunderlicher sich gebärdenden Wohlstandsgesellschaft einen Spiegel vorzuhalten versuchen, ohne daß sich der damalige Leser oder Hörer eigentlich in diesem Spiegel erkannt hätte.

Der auch aus der Entstehungssituation dieser frühen Hörspiele erklärbare Erzähler verschwindet in der nächsten Werksphase allmählich, spielt seine letzte große Rolle im Hörspiel "Das Opfer Helena", in dem Hildesheimer mit eingeschobenen Dialogsequenzen, in einer Art Doppelpunktdramaturgie, Helena ihre Geschichte aus ihrer eigenen Sicht erzählen läßt. Wie schon zuvor in "Prinzessin Turandot" erfährt auch in diesem Hörspiel die Überlieferung eine Uminterpretation. Wobei Hildesheimers Uminterpretation hörspielgeschichtlich schon deshalb interessant ist, weil sie am Ende einer Reihe von Hörspieladaptionen bzw. Hörspielen steht, die in sichtlichem Bezug zum zweiten Weltkrieg den trojanischen Krieg zum Thema haben, angefangen mit Jean Giraudoux "Der trojanische Krieg findet nicht statt" (1945) über Peter Bamms "Muschel der Kalypso" (1948) und andere. Auch auf diese Rezeption des trojanischen Krieges als Vergangenheitsbewältigung scheint mir Hildesheimers "Helena" eine Antwort zu geben:

Einspielung

Helena: Immerhin, es war eine Genugtuung für mich, daß dieser Krieg niemandem genützt hat. Die Griechen haben bekanntlich gesiegt. Aber was haben sie davon gehabt? Nichts! Ihre Armeen wurden vernichtet, Krieg und Pest raffte die Männer dahin, Schiffe wurde versenkt zerschlagen oder verbrannt. Reiche und Ländereien verkamen. Ich war 41, als Menelaos mich aus dem zerstörten Troja nach Sparta zurückführte, als einzige Beute sozusagen.
Menelaos: Du siehst, liebe Helena, ich habe dich zurückerobert.
Helena: Immerhin hast du zehn lange Jahre dazu gebraucht.
Menelaos: Lang? Ich nehme doch nicht an, daß dir die Zeit lang geworden ist, zumindest nicht, bevor dein Paris gefallen ist.
Helena: Sei mir nicht böse, lieber Menelaos, aber darüber möchte ich mich nicht mit dir unterhalten.
Menelaos: Ganz wie du willst, meine Liebe. Ich nehme an, du möchtest fortan deinen Erinnerungen leben.
Helena: Ich hoffe, du bist mit deinem Sieg zufrieden. Du solltest es sein, als einziger Überlebender König.
Menelaos: Außer Nestor.
Helena: Ach, Nestor lebt auch noch. Das sind trübe Aussichten.
Menelaos: Es wird mich freuen, in Zukunft meinen alten Kriegskameraden oft bei uns zu sehen.
Helena: Nun, ich werde mein Schicksal zu tragen wissen.
Menelaos: Das freut mich, daß du zur Vernunft gekommen bist.
Helena: Nur so, wenn du willst. Jedenfalls scheint es das einzige zu sein, was du aus diesem Krieg gewonnen hast, oder habe ich irgend etwas übersehen?
Menelaos: Von dir, liebe Helena ist es kaum zu erwarten, daß du für unsere Taten und Ziele Sinn hast.
Helena: Für die Taten bestimmt nicht, die Ziele kenne ich nicht.
Menelaos: Dafür, daß ich zehn Jahre unter bitteren Entbehrungen vor den Toren von Troja gelegen habe, daß du im Überfluß gelebt hast und dich mit deinem Paris und seinen Brüdern vergnügt hast.
Helena: Und wäre es so gewesen, mein Freund, wer trüge eigentlich die Schuld daran?
Menelaos: Ach wahrhaftig, von dir kann man kein Verständnis erwarten fr unseren harten Kampf, der die Griechen die schwersten Verluste gekostet hat.
Helena: Aber wofür, mein Freund, wofür? Was habt ihr gewonnen? Wo ist eure Beute? Eure Goldkolonien? Ich nehme an, dafür führt man Kriege. Wo ist Achilles, Patroklus? Erschlagen! Giomedis, Ajax tot? Odysseus verschollen. Wofür habt ihr denn gekämpft?

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"Das Opfer Helena" wurde, nach einer damaligen Modeformulierung, Max Frisch folgend als "erfundene Wahrheit" gehört, als Spiel mit der Überlieferung und nicht so sehr als Parallele der jüngsten Vergangenheit. Auf Mißverstädnis stieß schließlich Hildesheimers dritter Versuch einer Uminterpretation von Überlieferung, die mit 15jährigem Abstand geschriebene historische Szene "Mary Stuart", die in einer stark veränderten Fassung 1971 unter dem Titel "Mary auf dem Block" auch als Hörspiel gesendet wird. Wiederum geht es Hildesheimer auch hier nicht um Historizität, um philologische Korrektur.

Zitat

In Wirklichkeit war sie sehr langweilig -

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entdeckte er bei seinen Forschungen zur historischen "Mary Stuart". Es geht auch hier um die Umdeutung einer durch Legendenbildung, nicht zuletzt das klassische Drama Schillers trächtigen Überlieferung, wobei sich Hildesheimer auf die letzten zwei Stunden vor der Hinrichtung beschränkt, auf die Zeit, in der sich "Mary Stuart" auf ihre Hinrichtung vorbereitet.

Es ist sicherlich kein Zufall, daß dieser "Versuch" Hildesheimers, ein absurdes Geschehen auf die Bühne zu verlagern, das so unwahrscheinlich es auch sei, stattgefunden haben muß, daß dieser Versuch ebenso mißverstanden wurde, wie der ebenfalls im Düsseldorfer Schauspielhaus zwei Tage vorher uraufgeführte "Titus Andronicus" von Dürrenmatt nach Shakespeare zum Skandal wurde. Auch die historische Nähe dieser beiden sonst so ungleichen Stücke, hier die Vorlage des großen Dichters des elisabethanischen Zeitalters, dort das klägliche Ende der Gegenspielerin Elisabeths, deutet einen nachdenkenswerten Zusammenhang an.

Zehn Jahre vor der "Mary Stuart" läßt sich für die Werkentwicklung Hildesheimers mit den absurden Theaterspielen, "in denen es dunkel wird", eine dritte Phase festmachen. Wenn auch die meisten dieser Stücke als Hörspiele bearbeitet und gesendet wurden, das eigentliche und bereits über sie hinausweisende Hörspielpendant dieser im engeren Sinne absurden Phase des Hildesheimerschen Werkes sind die Hörspiele "Herrn Walsers Raben" und "Unter der Erde". Ein "rabenschwarzes" Spiel, hat Günter Eich das erstere genannt und es in einem Nachwort zum Erstdruck zwischen Märchen und Satire eingeordnet:

Zitat

Mit dem Hörspiel "Herrn Walsers Raben" ist Hildesheimer zu den früheren unkomplizierten Spielformen zurückgekehrt - "Herrn Walsers Raben", ein lustiges Spiel, aber rabenschwarz. Viel mehr als den Einsiedler Adrian scheint es auf der Welt nicht mehr zu geben, und der Posteingang ist verwunderlich. Der Blick aus dem Fenster auf die Rabenversammlung erweckt Assozisationen von Nachher und Nevermore, und die Komik in der Verwandlung läßt die Frage zu, ob es ganz abwegig wäre, sich auf schwarzen Flügeln davonzumachen. Das Glück der Zurückbleibenden ist die Resignation, ein von Selbstironie und einer liebevollen Köchin verklärter Lebensabend. Das ist viel, wenn man bedenkt, daß die meisten weniger zu erwarten haben.

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Wir müssen uns aus Zeitgründen ein Zitat aus diesem Hörspiel schenken, z.B. den schon genannten Dialog auf Leben und Tod zwischen Adrian und seinem Onkel Nikolaus, möchten aber anmerken, daß sich dieses Hörspiel, in dem sich Adrian durch die Fähigkeit, andere Menschen in Raben verwandeln zu können, seiner gesamten Geld- und besitzgierigen Verwandschaft entledigt, daß sich dieses Hörspiel in einer Bedeutungsschicht auch erschließen läßt als Satire auf Wirtschaftswunder und Eigenheimmentalität. Damit ließe sich für dieses Hörspiel eine inhaltliche Annäherung an die Gegenwart seines Autors feststellen, eine Annäherung, die ebenfalls die Uminterpretationen von märchenhafter zu vorgeschichtlicher zu geschichtlicher Überlieferung erkennen lassen.

Hildesheimer hat selbst die Problematik seiner frühen und mittleren Arbeiten im Spielen mit einer zu weit zurückliegenden Vergangenheit gesehen, das seine aktuellen Intentionen gleichsam anachronistisch verspielt:

Zitat

Ja, ich sehe das natürlich jetzt so, daß gerade daran die "Lieblosen Legenden" kranken; an der Abwesenheit, an dem Spielen mit einer Vergangenheit, die wirklich eigentlich schon zur Zeit des Schreibens vergangen gewesen ist. Die Schrecknisse, die in "Tynset" als Punkte, als Hauptform des Rondos benutzt werden, sind ja bereits in "Tynset" auch schon Vergangenheit. Heute - ich schreibe an einem neuen Buch "Meona", da sind die Gefahren der Jetztzeit, die Gefahren und die Schrecknisse, die potentiellen Schrecknisse der Jetztzeit verarbeitet.

Autor

Und in der Tat holt Hildesheimer mit dem Hörspiel "Maxine", 1969, mit der Erzählprosa "Zeiten in Cornwall", 1971, und "Masante", 1973, die Jetztzeit ein, um sie in den Hörspielen "Hauskauf", vor allem aber "Biosphärenklänge" gleichsam in Richtung einer Endzeit zu überschreiten.

Auch dieses eine Möglichkeit, das Werk Hildesheimers gliedernd zu überschauen, ein Werk, aus dessen zweiter Phase unser heutiges Beispiel , die "Prinzessin Turandot" gewählt ist.

Wir behaupten zu Anfang, Hildesheimers Veröffentlichungen, seine Hörspiele spiegelten auch die Krise des Schriftstellers der 50er Jahre, der nicht bereit war, sich angesichts von Wiederaufbau, Restauration und zunehmender Wohlstandsgesellschaft auf eine Literatur der Innerlichkeit zurückzuziehen. Was für die Werkentwicklung allgemein gesagt war, läßt sich an der "Prinzessin Turandot", an ihren vier Fassungen im Einzelfall aufzeigen.

In dem schon zitierten Gespräch zwischen Hans-Gerd Krogmann, Klaus Schöning und Wolfgang Hildesheimer berichtet Hildesheimer über die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Turandotfassungen:

Einspielung Gespräch Hans-Gerd Krogmann, Klaus Schöning / Wolfgang Hildesheimer

Schöning: Wann ist die "Turandot" entstanden?
Hildesheimer: Das war, glaube ich, mein drittes Hörspiel, wenn ich mich recht entsinne, das muß 1954 gewesen sein. Ich habe es zugleich geschrieben mit dem Theaterstück "Der Drachenthron".
Schöning: Es ist in der gleichen Zeit entstanden?
Hildesheimer: Ja, ja, ich meine, das ist ja das gleiche Thema, nicht wahr, Ich habe angefangen mit dem Theaterstück, habe das Theaterstück liegen lassen, habe dann das Hörspiel geschrieben und habe dann danach das Theaterstück fertig geschrieben.
Schöning: Es gibt mehrere Versionen des Turandot-Stoffes bei Ihnen?
Hildesheimer: Ja, es gibt fünf. Also nachher wollte der Süddeutsche Rundfunk eine andere Version haben mit einem Un-Happyend und die Notwendigkeit des Un-Happyends habe ich dann auch eingesehen und habe es umgeschrieben, das heißt, natürlich mußte die Neigung zum Un-Happyend viel früher eingehakt werden als am Ende, aber ganz befriedigt hat mich diese Version dann auch nicht. Dann habe ich nachher noch eine zweite Theaterversion geschrieben, auch mit dem Un-Happyend, die mir eigentlich heute ganz gut gefällt.
Schöning: Unter welchem Titel war das?
Hildesheimer: "Die Eroberung der Prinzessin Turandot". Ich finde sie ein recht gutes Theaterstück. Sie ist sehr schwer, eine sehr schwere Komödie. Und dann kam später auch noch die Fernsehspiel-Version, die ich auch selbst gemacht haben.

Autor

Sieht man von der Fernsehspiel-Version einmal ab, lassen sich das gleichzeitige Arbeiten an Hörspiel- und Theaterfassung ebenso wie die wiederholten Bearbeitungen des Schlusses, ja seine substantielle Änderung als Symptome der von uns behaupteten Krise deuten.

Dazu müssen wir den zweiten, den Stuttgarter Hörspielschluß einspielen. Zur Erinnerung sei gesagt: in der ersten Fassung besiegt der falsche Prinz Turandot im Rededuell. Turandot unterwirft sich dem Abenteurer, während sie dem richtigen Prinzen ihre Vertraute Phina als vermeintliche Prinzessin Turandot überläßt. Beide fliehen.

In der zweiten, der Stuttgarter Fassung, nimmt der falsche Prinz die Unterwerfung der besiegten Turandot nicht an. Er verläßt sie, während der echte Prinz sich der Vertrauten Phina nur bedient, um die Stadt mit seinen Truppen zu besetzen, um danach auch von Turandot Besitz zu ergreifen.

Einspielung:

Ja, da bin ich wieder, Prinzessin Turandot. Kommen Sie, das Volk ruft uns.
Sie? Was wollen denn Sie hier?
Was ich wollte, ist alles getan.
Was soll das heißen?
Ich habe Ihre Hauptstadt besetzt.
Besetzt?
Mit meiner Armee.
Mit Ihrer Armee?
Ein paar ...(unverständlich, R.D.) sind auch dabei. Ihre Armee ist soeben bei der Eroberung Persiens, das kam mir sehr zustatten. Hier ist bald die Ruhe wieder hergestellt. Dann werden wir zusammen auf Eroberung ausgehen.
Zusammen? Aber Sie wollten doch heute nacht mit Phina, ich meine: mit der Prinzessin.
Ihr Spiel war reizend, aber mein Spiel war besser. Ihre Schönheit hat Sie verraten, Prinzessin. Ich war keinen Augenblick im Zweifel darüber, wer die echte Prinzessin ist. Inzwischen habe ich Zeit gehabt, die Stadt einzunehmen. Ihre Sklavin hat mir dabei, allerdings unter Zwang, mehrfache Dienste geleistet. Ich werde ihr dafür einen meiner Brüder geben.
Sie haben es gewagt, uns anzugreifen?
Nicht anzugreifen, einzunehmen! Das ist nicht immer dasselbe.
Sie sind uns also in den Rücken gefallen? Da soll noch einer sagen, ich hätte nicht Recht daran getan, euch Männer hinrichten zu lassen.
Mich werden Sie nicht hinrichten lassen. Hören Sie den Lärm? Er gilt mir. Ich habe sie besiegt, nicht mit Worten sondern mit Taten.
Er gilt dem, der mich im Gespräch besiegt hat, dem Erwählten der Götter.
Die Götter haben mich erwählt.
Aber ich nicht.
Sie werden mich erwählen. Sie sind im Gespräch besiegt. Der Sieger hat sich meinen Namen angeeignet, so werde ich mir seinen Sieg aneignen.
Prinz, ich bin es nicht gewöhnt, mich mit Zuständen abzufinden, deren Ursache ich nicht selbst bin.
Wie war das?
Ich bin nicht gewöhnt zu tun, was andere wollen.
Sie werden sich daran gewöhnen. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.

Autor

Findet in dieser Fassung das Märchen-Ungeheuer Turandot gegenüber dem etwas zu märchenhaft-lieblich geratenen ersten Schluß, so scheint uns Hildesheimer diese Änderung angesichts der politischen Nachkriegsentwicklung, der Restaurationsphase des Wiederaufbaus mit Recht vorgenommen zu haben. Noch im Nachwort zu "Der Drachenthron" hat Hildesheimer diesen Schluß ausdrücklich verteidigt. Der falsche Prinz, wenn auch Abenteurer so doch auch Bote einer besseren Welt, geht wieder weg und mit ihm die Hoffnung. Alles, so sagt diese Fassung für den zeitgenössischen Zuhörer mehr als deutlich, bleibt beim Alten. Die Zukunft entspricht der Brutalität des Eroberers und seiner Eroberten.

Aber bei diesem harten Schluß wollte Hildesheimer es wohl nicht belassen. Jedenfalls wird in der erst 1967 erstaufgeführten Fassung "Die Eroberung der Prinzessin Turandot" das Märchenungeheuer - mit den Worten eines Interpreten - humanisiert, zur resignierenden Träumernatur verwandelt, die gerade wegen ihres Widerwillens gegen ordinäre Dummheit als beinahe blindes Werkzeug vom politisch kalkulierenden Hof benutzt wird. Erst und einzig der falsche Prinz überzeugt sie davon, daß auch sie eine falsche Prinzessin ist. Sie gibt Titel und Namen an eine ehrgeizige Sklavin ab und beschließt zusammen mit ihrem erwählten Abenteurer anonym hinter den Thronsesseln versteckt den barbarischen Herrschern Worte menschlicher Regierungsart einzuflüstern.

Dieser Schluß, das ist zu seinem richtigen Verständnis mit zu bedenken, fällt in die sechziger Jahre, gegen deren Ende auch andere Autoren als Hildesheimer hofften, der Intellektuelle könne sich als anonymer Gedanken- und Ratgeber ausreichend und erfolgreich politisch engagieren. Und:

Zitat

Die Einsamkeit des 'Phantasiemenschen', des überlegen analysierenden und kritisierenden Raisonneurs ließe sich in einer irdischen Zweisamkeit aufheben.

Autor

Thomas Koebner, der diese Hoffnungen als der vierten Fassung immanente Doppelthese herausgearbeitet hat, stellt mit Recht fest, daß Hildesheimer beide Thesen in den "Vergeblichen Aufzeichnungen", in den Nachtmonologen ("Monolog", "Nachtstück", "Tynset") selbst aufgehoben habe. Ob Hildesheimer mit seinem rigorosen Strich, mit dem er 1971 Dreiviertel seiner Hörspiele bedachte, alle Turandot-Fassungen oder nur einen Teil, und wenn, welche er dann gestrichen haben wollte, wissen wir nicht. Für den Historiker bleiben sie in ihrer Gesamtheit ein wichtiger Beleg für das Dilemma des Hörspiels in den fünfziger Jahren, wichtige Stationen in seiner Nachkriegsentwicklung, Demonstrationsobjekte für die Schwierigkeiten des nonkonformistischen Engagements. Offen ist auch, ob Hildesheimer noch Hörspiele der besprochenen Art, fiktive Stücke schreiben wird. In einem Vortrag hat jedenfalls Hildesheimer kürzlich bezweifelt, daß Fiktionen der Dichter überhaupt noch das Gewicht erlangen können, einer großen humanen Sache zu dienen. Das Ende der Fiktionen" war ein Gespräch überschrieben, das Hildesheimer im April 1977 mit Hanjo Kesting führte. Hildesheimers Erzählprosa "Masante" folgte 1977 ein Mozartbuch. Vielleicht folgt den "Biosphärenklängen" ein Rubens-Hörspiel.

WDR III, 8.5.1978