Claus Henneberg | Grenznähe
Gedichte

KORFU | CLUNY | KASSEL | NÜRNBERG | KINDERLIED | BRÜCKENSCHWALBE | LEIPZIG | UTOPIA | KOSMISCH

Verschwiegene Widmung

KORFU

Der Giebel
Die Gorgo!

(ihre lachende Zunge)

das odysseische Schiff
reizte mich nicht
sondern
die Sperlinge
der Aphrodite

später die Steinsaat der Worte
am Pantokrator

(Bienen
und abermals
Bienen)

da geriet ich
in deine Träume von mir
auf Kerkyra

(in die schwarzen Netze
der Träume)

und wir machten Hochzeit
in Strilinas
under the elmtree
 

CLUNY

die Wurzel
der riesigen Säule
(ein freigelegtes Geschwür)
und der waagrechte Schnitt
durch die Wurzel

Zerstörung
wohin du blickst,
und Myrmidonen,
die aufbauen
zu Zerstörendes

Tintinabulum
der Ton des Todes
ein Glockenspiel

du aber
(kirchengeil)
vielmehr
die kyprische
schwarze

picknickten wir
mit Blick auf Cluny
am praktischen Klapptisch
auf gelben Stühlen
 

KASSEL

auf der Schwelle sitzen
kein Dach tragen
die Schuhe ausziehen
barfuß durch den Regensee laufen
immer den selben Ton hören
über ein Brett ans andere Ufer gehen
aus einer Sandmu<de trinken
(das bist du)
ein anderer werden
(und doch wieder nicht)
kein Nest haben
hindurchgehen
sich niederlassen
wieder aufbrechen
alles abbrechen
unfertig bleiben
davonfliegen
schwinden
 

NÜRNBERG

unter der Burg
die Mauer, der Markt,
und auf der Fleischbrücke
über den Fluß
Ave Maria

der Englische Gruß

am Schönen Brunnen
vorbei
am goldenen Ring gedreht
alles verbrannt,
auch der Engel

Nürnberger Tand

hinter dem Weihnachtsflitter
der Buden
öffnen sich
schwarze Löcher
in die Unendlichkeit

(getrennt
fernsprechend
jeder
in einer gläsernen Zelle)

später dann Dürer
im Sturm auf der Scheide

(ein Draht läuft
durchs Haus
von Stockwerk zu Stockwerk
und öffnet
dem Fremden die Tür)

nisten, ja
das wollte man gern
in den Brückenbogen
über dem Fluß

(sie überspannte
den Tajo)

sag mir,
warum lache ich
lieber bei Steinen
als vor den Gittern
in einem Zoo?

ach, alles verbrannt
alles verloht
und flackernd aufgefahren
die Dachschrägen, die Hände
die Flügel

Evchens
aschenes Haar
in St. Katharina

(schon damals
stieg aus der Esse
ein bläulicher
Rauch)

Allmächtiger
alles versungen,
alles vertan

komm heiliger Geist
zum Reichsparteitagsgelände

mit dir aber
hinüber
für Augenblicke
auf einer zusammenbrechenden
Brücke

(Maria im Blumenoval
mit dem Engel)

nd so spricht der Fremde
zu der Fremden
in der Fremde:

Gegrüßet seist du
im Fleisch
 

KINDERLIED

erinnerst du dich an den Rialto,
den Fischmarkt
und die ungaren Scampis?

(auf dem Ponte Vecchio die Häuser)

in den Wäldern liegen noch Minen
(Minen wie Pilze)
Watch your ste ps!

Schafe gingen hinüber
von einer Weide zur anderen,
Brücke
auf den einfachsten Nenner gebracht

(die Kemnitz,
ein schmales Gewässer)

die Photographie zeigt mich
im Regenmantel,
einen zusammengerollten Schirm
unter dem Arm

dagegen
die Brücke
die wegbrach
(von siebzehn Bögen
noch vier)

Ich lebe hier auf dem Land,
auf den Straßen schießen
Drachenzähne aus dem Asphalt,
und ihre Kinnbacken
sind aus Beton

die gegenüberliegende Wiese
unkrautig und steil
(Schierling und Kletten)
aber du
in schwarzen Gummistiefeln voraus

was denkt dein Schoß,
wenn er mich birgt?

siehe,
ich habe dich dort berührt,
wo sich die Steine,
die immerfort
stürzenden
stützen

(das Gewölbe
über dem Haupt
Kleist und Würzburg,
die Brücke über den Main)

nun vermehre ich mich im Alter
durch Sporen
an verschiedenen Stellen
im Wald

ist dein Antlitz
ein Wipfel
und deine Wurzel
ein Fuß?

später erklärte ich dir umständlich
den kurzen Grund meines Daseins
und die Wanderung um den Berg
endete vor einem Stacheldrahtzaun

sagte sie leichthin
geh schon mal weiter
und trocknete sich
mit einem Blatt

im kommenden Frühling,
das verspreche ich dir,
tanzen wir beide
auf einer Kinderliedbrücke
über die Rhône
 

BRÜCKENSCHWALBE

Trautfremde, du
Utopische, im Unland
hausende,
reißend schnelle
im Luftreich,
im Vorüber
Bleibende,
von einer Ferne
zur andern,
im unmöglichen
Sommer,
am Abend
im dachlosen
Nest
gemörtelt
aus Speichel und Lehm,
zwitschernd
von dem,
was gelebt
 

LEIPZIG

Leipzig,
ich und die Menschenfrau
auf seliger Insel
lichtstrahlend, lieblich
inmitten Zerstörung
& Aufschwung Ost

primo
die Raum gewordene Musik
Bach, Thomanerkirche
auf dieser Orgelempore
filmte Jean Mane Straub

abwärts per Lift
in die Therme,
wo das Geschlossene erlaubt
was das Offene verwehrt,
mit gemaltem Meer
Capri,
die Blaue Grotte

(das nackte Mädchen)

endlich Theater,
Euripides Bakchen
und die Zusammensetzung
von Pentheus
zerstücktem Leichnam
zu den Klängen der Stotterarie
aus Purcells King Arthur

Leipzig,
ich und die Menschenfrau,
einer Mutter Sohn
Agaues,
nicht mehr
und nicht weniger,
der Wiedererstandene

'Tis I, 'tis I,
'tis I
that have warm'd ye
 

UTOPIA

Wo wir wohnen,
verabreden die Getrennten sich
am Horn der müßigen Träume,
fallen in Eiderdaunen
die ungeflügelten Engel,
tanzen die Vernunftlosen
auf Stecknadelköpfen
Fandango

Wo wir wohnen,
weissagen falsch
die Propheten,
hängt die Wahrheit
zwischen zwei Binsen
und baut auf die Planke
des Schiffbruchs
die Liebe
 

KOSMISCH

verborgen
im inwendig zugeriegelten
Raum

(Kleist und sein Glück)

auf einer Brücke begegnet
über das wilde Gras

die Windsbraut gejagt
in der wirbelnden Luft
und sie begattet -
einen Kranich im Flug

aufgefahren gen Himmel,
Planeten gesehen,
Kometen
und erloschene Sterne,
in denen kein Licht brennt,
durch Milchstraßen gereist
in deiner Umarmung

den Wettlauf zum Abgrund
gewonnen

(La Course à l'abîme
auf einem Torflügel
der Hölle)

allein im Kosmos
mit dir
längst ohne Kontakte
zur MIR

wir sind gewesen
wo immer wir waren
zu Hause
im Raum der Welt

Privatdruck in einer limitierten Auflage von 200 Exemplaren, von denen 100 numerierte Exemplare vom Autor signiert worden sind. Gesamtherstellung Hoermannverlag Hof. Copyright Claus Henneberg. April 1998