Ralf Sziegoleit | Dichtung und Wahrheit: Von H. nach P. Claus Hennebergs neues Buch "Zeitsprünge"

HOF - Im vergangenen Sommer, mit fast 72 Jahren, ist der Hofer Schriftsteller Claus Henneberg nach Potsdam gewandert. Darüber hat er einen Text geschrieben, der jetzt in einen Buch veröffentlicht wurde. Nicht allein allerdings: Vorangestellt sind dem "Spaziergang nach Sanssouci" die Ich-Erzählung "Albert-Augusts Bekenntnisse", die das ausgehende 19. Jahrhundert beleuchtet, und neun Geschichten aus der Zeit "Nach dem Kriege", dem Zweiten Weltkrieg nämlich, dessen Ende, die er es selbst es erlebte, der Autor in dem Band "Rabenpost" (1998) beschrieb. So läßt sich das neue Buch einesteils als Fortsetzung lesen. Aber zugleich bündelt es wie Auseinanderliegendes und schlägt einen Bogen über mehr als 100 Jahre; "Zeitsprünge" lautet denn auch sein Titel.

Fragen wir zuerst, wer Albert-August ist. Die Antwort: Es ist der Großvater des Autors. Oder genauer: Der das "bekennend" erzählt, ist der Großvater Paul Mannheims, wie Claus Henneberg in drei Büchern seit 1995 sein Alter Ego benannte. Von "quasi-autobiografischen Geschichten" ist darum berechtigterweise im Nachwort der "Zeitsprünge" die Rede. Es handelt sich um Vermischungen von Dichtung und Wahrheit, um Fiktionen, die sich an erlebter Realität orientieren, und keinesfalls um Memoiren, sondern - Henneberg, der schon in den 60er Jahren zwei Bücher bei Luchterhand veröffentlicht hat, ist Literat - um Kunst.

Albert-August also: der Großvater, dessen Wiege, 1865, in Leipzig stand; der sich als junger Mann in eine Friederike Rollwenzel, "achtbarer Leute Kind aus H.", verliebte und deren Ehemann wurde, zugleich als solche "stiller Teilhaber in der Fa. Rollwenzel (Bürsten, Seile, Sattlereiartikel)". H., natürlich, ist Hof, das aufs Erste einen niederschmetternden Eindruck" auf den damals noch jungen Großvater macht; und allerdings gibt's die "Goldene Sieben", die zu "galanten Abenteuern" einlädt, und schön ist auch der Dämmerschoppen im "Hotel Strauß" oder im "Roten Roß". Nur ungern freilich atmet Albert-August die "Comptoirluft" in der Rollwenzel-Firma. Das hat "Molesten", auch in der Ehe, zur Folge. Nein, man dürfe sich nicht immer "im Göpel (!) der Pflicht drehen", bekennt Pauls Opa am Ende und wettert gegen die "Duckmäuser, Pfahlbürger, Langweiler, Feuerwehrmänner und Streber, das heißt die Rollwenzels dieser Erde".

Dem Claus Henneberg alias Paul Mannheim spricht er damit wohl aus der Seele. Jedenfalls weist Nachwortschreiber Reinhard Döhl, ein alter Freund und Kollege des Autors, darauf hin, "daß die in den Geschichten Pauls ausgesparten Jahre - wir fügen hinzu: zwischen Kriegsende und dem 'Spaziergang' - bereits von Jean Paul als Jahre des Kleinstädtisch-Spießigen, der Enge und Bedrückung erzählt wurden". Womit einer der Namensgeber des Alter Ego gefunden ist: Jean Paul, der in Hof (dem er in Haßliebe verbunden war) seinen berühmten "Siebenkäs" schrieb. Ein zweiter Vorbild-Paul ist Paul Krüger, der nach dem Krieg als Maler und Bettelmann am Schloßplatz wohnte, wie einst Jean Paul. Seine Arbeiten, drei davon Fensterbilder auf eben diesen Platz, wurden von Henneberg als Titelbilder für "Pauls Geschichten" gewählt, deren vierten - und mutmaßlich letzten - Band wir nun vor uns haben.


Paul Krüger: Blick über den Schloßpatz 1949, 1946; Schloßplatz, 1948

Noch einmal zu Albert-August zurück: Den läßt der Autor im Stil der Zeit "bramarbasieren", sehr altmodisch-schrullig, doch kunstvoll-elegant. "Nach dem Kriege" ist ein anderer Ton angesagt. "Wie schwülstig war die Sprache gewesen, die Paul einst in Ekstase versetzt hatte", so lesen wir. Nun weiß Paul, als angehender Schriftsteller, Ernest Hemingway zu schätzen. Und genauer Beobachtung befleißigt er sich. Er erzählt, wie die "Amizeit" die Nazizeit abgelöst hat (und wie diese doch nicht wirklich zu Ende ist, die "große Zeit" nennt sie der Opa noch immer); er beschreibt das Leben danach, die Leichtigkeit und die Schwere des Seins, und höchstens trübt ihm die "unbestimmte Sehnsucht nach Liebe" den Blick.

Das sind schöne, spannende, bewegende Geschichten, die, über die Örtlichkeit hinausweisend, Zeitgeschichte trefflich illustrieren; und sie sind zugleich ein Portrait des Autors als junger Mann, übrigens endend mit einer "Kleine[n] Stadtbeschreibung" aus Anlaß einer Radtour von Haidt nach Moschendorf: Dort holt Paul seinen aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrenden Vater ab, um ihm am Abend mit fester Stimme zu sagen, seine Frau sei ihm, aller Versuchungen zum Trotz, stets treu gewesen: "So treu wie Penelope, Papi!"

Am Ende des "Spaziergang[s] nach Sanssouci" kehrt er dann selber wie Odysseus zu seiner Penelope heim: Das Großepos des Homer, nebst Hölderlins Gedichten, hat er im Gepäck gehabt und immer mal wieder zur Hand genommen. Überhaupt weisen die "Zeitsprünge" viele Echos auf, die Verbindungen zwischen dem Auseinanderliegenden knüpfen.

Was Hennebergs jüngsten Text betrifft, so enthält er, oberflächlich gesehen, vor allem Mosaiksteine zu einem aktuellen Bild von Mitteldeutschland zehn Jahre nach der Wende. Darunter jedoch sind Subtexte zu entdecken, wozu Reinhard Döhl im Nachwort, auf offene und verdeckte Bezüge hinweisend, mancherlei Anweisung gibt. Aber von den "zusätzlichen Perspektiven" mal abgesehen: Die kuriose Unternehmung dieses "Spaziergangs" erzählt eine sehr private Geschichte, und nur nebenbei geht es um die Klärung der Frage, die sich der Autor anfänglich stellt, nämlich: welches Satzzeichen sich zwischen "Sans" und "Souci" befindet. Es ist, so zeigt sich am Ende, ein Komma, nicht - wie der wandernde Schriftsteller-"Greis" vermutete - ein Punkt. Kommentar des Literaten Henneberg, der daraus folgert, daß es im Text weitergeht: "Wie froh ich bin."



Frankenpost, Hof 5./6.5.2001