Ludwig Harig: Die Ordnung der Dinge
[Claus Henneberg: Jugendgeschichten. Hof: Hoermann Verlag 1995]

Nach öffentlichen Lesungen aus autobiographischen Romanen beobachte ich immer wieder, wie in anschließenden Gesprächen und Diskussionen sich die Zuhörer in zwei Lager spalten. Auf der einen Seite stehen die literarisch Interessierten. denen es um die Kunst des Erzählens, die Beschwörungskraft der Sprache geht, auf der anderen die an sogenannten Tatsachen Orientierten, denen der Erzählende lediglich als Medium, ja als Katalysator dient, Selbsterlebtes zu reproduzieren. Ich erschrecke vor dem Ausruf: "Was Sie da zum besten geben, ist nichts verglichen mit dem, was ich aus meinen Leben erzählen könnte."

Claus Henneberg. 1928 in Hof an der Saale geboren, der zu Anfang der sechziger Jahre mit zwei Büchern (im Luchterhand Verlag) debütierte, gehört zu den anspruchsvollen Erzählern. Seine unlängst erschienenen "Jugendgeschichten" zeigen uns eine Erzählsprache, aus der sich das Kleine, das Alltägliche, die beziehungsreiche Einzelheit transzendierend entbindet. Henneberg erzählt aus seiner Kindheit und Jugend im Dritten Reich, aber er erzählt das Unspektakuläre, das jedem Zugestoßene. Es gibt nichts Sensationelles aus seinem Leben zu berichten. Der Autor verbirgt sich sogar hinter einem ER, den er vorschiebt, um sich selbst so verdeckt wie möglich nach außen zu kehren.

Sinnliches Zeichen, Dingsymbol, woran das Erinnerte untrennbar gebunden ist, sind bezeichnenderweise Buch und Staub: ,,Wie gern riecht er den Staub, der sich auf die Einbände gelegt hat zwischen die Seiten gekrochen ist und nach dem Öffnen und Zusammenklappen entweder in sonnendurchstrahlten bläulichen Wolken hervorquillt oder ganz dicht und fein in den Lichtstrahlen tanzt, die durch die flitzen der Schiefer auf die langriemigen Fußbodenbretter zielen, diesen Tanz unzähliger Teilchen einst ganzer und fester, nun aber zerfallener, zerbröselter, verrotteter Dinge und Wesen."

Das genau Beobachtete, sinngebend erzählt, provoziert Wiedererkennen: die Topographie der Heimatstadt, die Soziographie der Gesellschaftsschicht, die Biographie der Familie. Man liest Schul- und Hitlerjungenanekdoten, Episoden braver Konfirmanden und Liebesgeschichten naiver Halbwüchsiger, die bei älteren Lesern mit den Identifizierungslüsten auch die besorgten Wünsche hervorrufen, Erinnerungsarbeit zu leisten.

Die Erzählung beginnt mit einfachen, fast lapidaren Sätzen, wird komplizierter, verschachtelter, spiegelt in ihrer formalen Plausibilität die Entwicklung des Lebens wider. Sogar die diffusesten Ereignisse erhellen sich in scharfgezeichneten Szenerien. Die Techniken des Nouveau Roman wirken nach, spärliche Handlung erfährt ihre Sinngebung aus der filigranen Beschreibung "der ungestörten Ordnung der Dinge". Claus Henneberg bestätigt mit diesen "Jugendgeschichten" die oft noch fragmentarisch gebliebenen Erzählstücke seiner frühen Schreibversuche, so daß man geradezu begierig darauf ist, ihn jetzt bald in der Fülle seiner Erzählkunst zu erleben.


Süddeutsche Zeitung 30/31.3.1966