Während Selbstentblößer wie Bohlen, Naddel & Co ihre aufgeblasene Unbedarftheit zu Markte tragen und Boris [Bobbele] Becker [Bumm Bumm] - ich zitiere jetzt wörtlich - "den ganzen Reichtum seines 35jährigen Lebens" - Zitat Ende - auf 320 (313?) Seiten anspruchsvoll unter der Überschrift "Augenblick, verweile doch..." ausbreitet, hat Claus Henneberg 1943, also in seinem 15. Lebensjahr, Goethes Faust wirklich gelesen, einschließlich des Puppenspiels, und sich mit diesem frühen Interesse an klassischer Lektüre seinen Klassenkameraden zum Spott gemacht. Nachzulesen in dem jetzt erschienenen "Selbstportrait", das Claus Henneberg, gut doppelt so alt wie Boris Becker, auf 122 Seiten von sich zeichnet.
Für meinen Versuch, dieses Selbstbildnis und seinen Autor ein wenig vorzustellen, ergaben sich zunächst einige Probleme. So las ich im 15. Abschnitt (S. 75) über den Autor und seinen Vorredner:
Leichter hatte ich es mit der von Claus Henneberg ebendort beschriebenen
Unter Autobiographie versteht die Fachliteratur eine "literarische Darstellung des eigenen Lebens oder größerer Abschnitte daraus". "Bezeichnung und Wesensbestimmung der Autobiographie stammen aus dem Ende des 18. Jahrhunderts nach einer für die deutsche Aufklärung typischen theoretischen Beschäftigung mit Autobiographien". "Als Autobiographie im engeren Sinne gilt seit dem 18. Jahrhundert die Aufzeichnung des eigenen geistig-seelischen Entwicklungsprozesses, der Persönlichkeitsbildung im Austausch mit der äußeren Welt, gestaltet als Retrospektive von einem meist abgeklärteren, reifen Standpunkt aus."
Selbstportrait oder Selbstbildnis verweist dagegen auf die bildende Kunst und ist meines Wissens außer von Claus Henneberg nur noch ein zweites Mal als Titel einer literarischen Selbstdarstellung gewählt worden, undzwar von Jakov Lind für die Übersetzung von "Counting my steps" (1969), für deren Umschlag zusätzlich ein aquarelliertes Selbstportrait des Autors*) verwendet wurde. Anders als bei Claus Henneberg, für dessen "Selbstporträt" als Titelbild eine Collage des Freundes Paul Krüger gewählt wurde, was im Vergleich und interpretatorisch auch nicht uninteressant ist.
*) Lind beschäftigt sich damals intensiv mit Aquarellmalerei (diverse Ausstellungen und Lehraufträge) und hat sich auch als Schauspieler versucht.
Dieser Hinweis ist keine Jean Paulsche Fußnote oder Abschweifung, denn in Claus Hennebergs "Selbstporträt" erfährt der Leser auf S. 82:
"An Jakov Lind, einem jüdischen Schriftsteller, der unter verschiedenen falschen Namen als Schiffsjunge auf einem Schleppkahn den Nazihäschern entronnen war, konnte ich studieren, wie man zur Seite geschoben wird, wenn man nicht wirklich zur Zunft gehört. Obwohl er zur Messe seine Erzählungen 'Eine Seele aus Holz' im Luchterhand Verlag herausgebracht hatte, stand er allein und verlassen in einer Ecke des Saales, in dem ein Empfang des Verlages stattfand, während sich um Günther Grass, der in einer anderen Ecke des Saales Hof hielt, die Bewunderer, Presseleute und Literaturagenten drängten. Ich fühlte mich veranlaßt, dem einsamen Kollegen Gesellschaft zu leisten und mich zu ihm zu gesellen."
In welchem Maße Claus Henneberg selbst die Erfahrung machen mußte, "zur Seite geschoben" zu werden, "wenn man nicht wirklich zur Zunft gehört", ist auch an anderer Stelle des "Selbstporträts" nachzulesen, wenn er z.B. nach seiner Begegnung mit der Pound- und Cummings-Übersetzerin Eva Hesse festhält: "In gewisser Weise hatte ich ein ähnliches Problem - man nahm mich nicht ganz ernst. Ich stammte aus einem bürgerlichen Haus, war einigermaßen gut erzogen und erweckte nicht den Anschein, eines Tages Geld durch meine schriftstellerische Arbeit verdienen zu müssen, - mit einem Wort: ich war nicht vom Bau." (40)
Unter Selbstporträt oder Selbstbildnis, um damit zum Thema zurückzukehren -
unter Selbstporträt oder Selbstbildnis versteht die Fachliteratur die Selbstdarstellung eines Künstlers in Malerei oder Zeichnung (und Plastik). Das Selbstbildnis stellt dabei keine eigentlich eigenständige Bildgattung dar, sondern gehört der Geschichte des Bildnisses an. Dennoch ist das Selbstbildnis von besonderer Aussagekraft: der Betrachter wird zum Partner des forschenden Dialogs des Künstlers mit sich selbst vor dem Spiegel. - Literarisch bezeugt für Antike und Hellenismus erscheint das Selbstbildnis anscheinend schon dort in einem für alle Selbstbildnisse kennzeichnenden engen Zusammenhang mit dem Werk des Künstlers.
Übertrage ich meine Fachsimpelei auf Hennebergs "Selbstporträt", sehe ich in ihm
"Ich kam am 16. Juli 1928 in Hof an der Saale auf diese Welt..."
Wenn der Leser jetzt aber erwartet, Genaueres über die Kindheit in Hof zu erfahren, zu erfahren, wie der Geburtsort im Guten und Bösen prägend auf den Erzähler gewirkt, ihn gar geformt hat, wird er alsbald enttäuscht. Wichtiger ist vielmehr bereits im zweiten Abschnitt dieser ersten Seite, daß Claus Henneberg in den Sommerferien bei den Großeltern in Hagen-Haspe hört, daß man "dort das Platt des Ruhrgebiets" spricht "und nicht so wie in Hof", und nicht so wie die Eltern, die hochdeutsch sprechen. "Wahrscheinlich bin ich dadurch darauf gestoßen, daß es so etwas wie Sprache gibt" (S. 5).
Und bereits auf der nächsten Seite notiert der Erzähler "Mein erstes Gedicht - ein kleines Gebet - kritzelte ich im Alter von acht Jahren mit Bleistift auf Briefkarton, als ich mit meiner Mutter wegen meines Heufiebers den Sommer auf Baltrum verbrachte". Und er ergänzt: "Mein Vater datierte ein anderes Gedicht, das er zu Hause aus meiner Hosentasche fischte, auf den 18.XI.36 und fügte hinzu: 'In einer ängstlichen Stunde geschrieben, Mutti war mit Papi im Kino'." (S. 6)
Eine dritte, ebenfalls noch auf der zweiten Seite des "Selbstporträts" zu findende Notiz hält als Folge der ersten intensiveren Lektüre der damals noch neuen Kasperle-Bücher (1920-1930) von Josephine (nicht Johanna!) Siebe und der Märchen der Gebrüder Grimm fest: "Mich faszinierte dabei immer von neuem das Buch genannte Objekt, in dem das alles aufgeschrieben und gedruckt stand. Letztendlich wurde ich dadurch angeregt, selbst kleine Büchlein herzustellen, in die ich hineinkritzelte." (S. 6)
Noch vor 1939 finde ich als vierte wichtige Notiz: "Viel lieber als im Jungvolk Dienst zu tun, lud ich andere Kinder in unsere Wohnung in der Luitpoldstraße zu einem Varieté unter dem Motto 'Lachen tut gut' ein. Das Programm hatte acht Nummern, wobei die Pause als Nummer gezählt wurde, und dauerte 43 Minuten. Unter die Devise 'Immer im Tempo der Zeit' setzte ich zwar meinen vollen Namen, änderte jedoch das C meines Vornamens in K, damit es nicht so fremdländisch aussah." (S. 8 f.)
Ich schließe ein letztes Zitat an, aus der ersten Zeit nach dem Umzug der Familie auf die Haidthöhe im Frühjahr 1939, der Zeit, in der Claus Henneberg auch auf das humanistische Gymnasium wechselte: "Mit dieser Ausrede gewann ich viel Zeit für mich und meinen kleinen Hund, einen Rattenfänger, mit dem ich im Garten auf Maulwurfsjagd ging. Ich arbeitete ihm beim Wühlen mit dem Spaten vor, bis wir auf das Nest stießen, in dem der Maulwurf mit seinen Jungen lag In meiner Komödie 'Rasenspiel' wird der Protagonist selber zu einem Maulwurf." (S. 9)
Man muß dies, wenn man das "Rasenspiel" heute lesen oder besser noch aufgeführt sehen würde, natürlich nicht wissen. Doch schadet ein solches Wissen schon deshalb nicht, weil es zeigt,
in wolle geht das grüne
meer
bringt braten tee &
mustard her
"So verwurzelt ich (...) bin, so sehr drängt es mich immer wieder zu einem fernen Ziel, das hinter allen Horizonten und in keiner Richtung der Windrose liegt. Es ist das Nirgendland, in dem meine Phantasie und meine Träume zu Hause sind. Ich habe es als junger Mann den raumlosen Raum genannt, in den wir uns mit unserer moralischen Kraft nicht erheben können. Der künstlerischen Vorstellungskraft aber sind keine Grenzen gesetzt.
Für Hans Arp ist es das Land, wo ein Träumer unter seinen Armen Berge fortträgt, in deren Wäldern er sich wochenlang verirrt und wundervolle Begegnungen hat." (120)
Claus Hennebergs Leben ist - noch einmal "überspitzt und grundsätzlich" gesprochen - in vielfältiger Weise durch Begegnungen unterschiedlichster Art mit Literaten und Künstlern, mit Kunst und Literatur bestimmt worden. Das aber war nur möglich, weil Claus Henneberg sehr früh bereits die Erfahrung gemacht hatte, "daß es so etwas wie Sprache gab", weil er festgestellt hatte, daß man auch mit Sprache spielen, etwas herstellen konnte, Gedichte zum Beispiel, und daß es da ein "Buch genannte[s] Objekt" gab, "in dem [sich] das alles" aufschreiben und drucken ließ.
Claus Henneberg ist, auch das lehrt die Lektüre seines "Selbstporträts", diesem "Buch genannten Objekt" während seines ganzen Lebens treu geblieben. Überall scheint Literatur durch, wird, was ihm begegnet, zu Literatur. Angefangen bei den Kindheits- und Jugendlektüren, über die Texte des angehenden Autors, über die ersten Veröffentlichungen, bis dahin, wo Claus Henneberg sich anschickt, seine Sache, die Sache der Literatur, zu vermitteln, bei den Tagen für neue Literatur, dann als Verleger und schließlich als Buchhändler, bis er sich schließlich als Schriftsteller auf die Haidthöhe zurückzieht.
Die Akten der Literaturtage sind für den Interessierten im Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt und können dort in ihrer Fülle eingesehen werden: Mit dem Archiv des Literaten Henneberg wird es bald ähnlich sein. Hier bietet das "Selbstporträt" einen ersten zusammenfassenden Einblick - nicht zuletzt auch auf die Fülle unveröffentlichter Werkzustände und -zusammenhänge. Was ich mir deshalb von Claus Henneberg und seinem Verleger für die Zukunft wünschen würde, wäre ein schrittweises Zugänglichmachen dieser Fülle - im Buch.
"Es geht also weiter", schließt das "Selbstporträt" mit einem Selbstzitat aus dem "Spaziergang nach Sanssouci".
"Es geht also weiter, dachte er und lächelte in sich hinein. Denn ein Punkt bezeichnet das Ende eines Satzes und bedeutet seinen Stillstand, aber nach einem Beistrich setzt er sich fort. Wie froh ich bin, daß ich mich geirrt habe, und es kein Punkt ist, sondern ein schönes richtiges Komma!"