neue literatur in hof | Podiumsdiskussionen

Helmut Geißner | Literatur und Provinz. Nachgetragenes

1 Wer andere Provinzler nennt, ist selbst einer; wer andere nicht Provinzler nennt, ist deshalb noch nicht keiner.

2.1 "provincia" ist ein terminus technicus aus der römischen Amtssprache und bezeichnet a) die Ämter und ihren Geschäftsbereich (mihi provincia est...), z.B. die Jurisdiktion des Prätors (provincia urbana et peregrina); b) die Verwaltung eines unter röm. Herrschaft stehenden Gebietes (Proconsul od. Proprätor); c) ein derartiges Gebiet selbst (Asia, Africa, Gallia, Germania).
2.2 "provincialis" bezeichnet dementsprechend alles, "was die Provinz betrifft", aber auch "eine Amtsperson in der Provinz" (vgl. noch heute »Ordensprovinzial") und den "Mann aus der Provinz"
2.3 Der Mann aus der Provinz ist in der urbs, der Hauptstadt, peregrinus, fremd und unwissend Im Unterschied zum urbanus weiß er nicht nur weniger vom "römischen" Recht, er hat auch weniger Rechte: er ist nicht civis, allenfalls "Beute"-civis.
2.4 Außerdem kennzeichnen ihn: andere Mode, andere Sitten, andere Speisen, niedere oder keine Bildung und vor allem der "Provinzialismus" seiner Rede.
2.5 Das Denkmuster "urban - provinziell" ist komplett.
2.6 Es erfährt seine dialektische Umkehrung, wenn "die Leute in der Provinz" (schon a.Chr.n.) "provinziell" für das Ganze, Heile, Vernünftige, Gesunde, Saubere halten und alles Gedrechselte, Geistreiche(lnde), Freche, Angekränkelte, Schamlose als "urban" bezeichnen.
2.7 "Lieber der Erste hier (in der Provinz) als der Zweite in Rom" (Caesar, laut Plutarch).

3.1 Die römische Kirche überträgt für ihm hierarchische Organisation - gegen ihre ubiquitäre Spiritualität - das römische Weltmodell: urbi et orbi.
3.2 Der Bischof von Rom hat den Primat, alle anderer Bischöfe sind (auch) seine Statthalter (vgl. canon. Jurisdiktion); ihre Diözesen sind römische Provinzen.
3.3 Auf diesem Wege kommt der Begriff "Provinz" nach Mitteleuropa (Holland i. 4. Jhdt).

4.1 Die Herrscher von "Gottes Gnaden" machen ihre Metropole zur urbs.
4.2 Länder mit Zentralismus haben nur eine Metropole.
4.3 Deutschland hat nach dem Ende des 30jährigen Krieges über 500 selbständige Territorien; es hat damit über 500 "Metropolen"; es hat damit über 5OO "Provinzen".
4.4 Eine deutsche Reichshauptstadt gibt es von 1871-1945.

5.1 Die säkularen Wissenschaften verändern die Fundamente.
5.2 Die 1. soziale Revolution verändert das Gefüge.
5.3 Standortgebundene Irdustrien lösen Bevölkerungswanderungen zu der neuen Metropolen aus.
5.4 Verkehrs- und dann nachrichtentechnische "Universalität" steigern die soziale Mobilität.
5.5 Die 2. soziale Revolution führt zu neuer Umstrukturierung in Industrien und Städten.
5.6 Dazwischen liegt die 2. Kriegs- und Nachkriegs-Völkerwanderung.

6.1 Glauben ist überregional.
6.2 Denken ist überregional.
6 3 Wissenschaften sind überregional.
6.4 Es gibt keine pfälzische, sächsische, bayerische usf. Mathematik, aber auch keine deutsche, französische russische usf.
6.5 Es gibt auch keine Berliner Frankfurter, Würzburger usf. Germanistik, aber auch keine deutsche, amerikanische, japanische usf.

7 Einerseits divergieren historischer, politischer, geographischer, soziologischer Provinzbegritf, andererseits sind sie sämtlich ständig transzendiert von Glauben, Wissen, Wissenschaft und Technik.

8.1 Diese Transzensionen sind Korrelate der Zeit (physikalische Zeit, Geschichtszeit, Bewußtseinszeit).
8.2 Wer die Zeit mißachtet, verspätet sich.
8.3 Seine "Transzensionen" sind überholt, sie kommen nicht hinüber, sie treten am Ort.
8.4 Es entsteht eine Lücke, ein "cultural lag"
8.5 Wird diese Rückständigkeit von opinion leaders sanktioniert und von pressure groupes als normativ durchgesetzt, dann ist das "provinziell".
8.6 Derart "Provinzielles" gib es in Metropolen und in der Provinz.
8.7 Transzendierendes Bewußtsein und Provinzielles spiegeln sich in der Sprache.

9.1 Literatur ist aus Sprache gemacht.
9.2 Sprache interpretiert Welt: Sprechen interpretiert Sprache.
9.3 Sprachen - Welten.
9.4 Eine Sprache ist ein Spannungsgefüge von Sprachstufen (Hochsprache, Umgangssprachen, Mundarten) und Sprechstuten (Hochlautung, Umgangslautungen, Mundarten).
9.5 Das individuelle Spannungsgefüge richtet sich nach dem Kommunikationsradius, den Denkinhalten und der Formstufe.
9.6 Nicht auf jeder Sprachstufe läßt sich alles denken und sagen.
9.7 Man muß nicht Mundartsprecher (gewesen) sein, um denken und dichten zu können.

10.1 Jeder Autor partizipiert am Sprachprozeß.
10.2 Nicht: die Grenzen seiner Provinz, sind die Grenzen seiner Dichtung; sondern "die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt" (Wittgenstein).
10.3 Er kann auf dem flachen Land Weltliteratur und Provinzielles in der Großstadt schreiben.
10.4 Die Teilhabe am urbanen Literaturbetrieb bedeutet keinen literarischen Vorsprung.
10.5 Wer unbewußt rückständig schreibt, ist rückständig.
10.6 Wer bewußt rückständig schreibt, schreibt literaturpädagogische Literatur. (Das ist eine Oualitätsfrage.)
10.7 Oder: wer bewußt rückständig schreibt, betreibt die Negation der Negation.

11.1 Der Literaturkonsum ist keine Instanz der literarischen Qualität: vgl. die Auflageziffern von Rilkes "Cornet" zu der seiner "letzten" Gedichte und die Rilkes insgesamt mit der Trakls.
11.2 Es gibt epochale Verspätungen im Literaturkonsum (Hölderlin, Büchner, Kafka...)
11.3 Esoterisch ist nicht der Gegensatz zu provinziell.
11.4 Im hermeneutischen Horizont korrelieren Zeit, Bewußtsein und Sprache.
11.5 Der Leser erweist in seinem Verständnis seine Bewußtseinslage.

12.1 Literarische Qualität hat keinen spezifischen Ort.
12.2 Literarische Qualität hat kein spezifisches Sujet.
12.3 Wird die Provinz literarisches Sujet, dann ist sie bereits "aufgehoben" (Hegel).
12.4 Nur in dieser Distanziertheit wird literarische Provinz Weltsujet und transferierbar.
12.5 Die Distanz äußert sich als Kritik, Satire, Groteske, Absurdes, Ironie, Utopie auf dem Niveau der jeweiligen Wissenschaften. der Philosophie(en), der Psychologie(en) usf.
12.6 Analytische Literatur bedarf der Sujets, d. h. der in Sprache geschehenden Auslegung von Fakten.
12.7 Nicht-analytische Literatur hat als Sujet die Faktizität der Sprache. d. h. sie ist metasprachliche Literatur.
12.8 Poetik ist überregional wie Mathematik und Logik.
12.9 Poetischer Kalkül ist keine neue Erfindung.
12.10 Literaturkritik und Ästhetik haben in der "Natur des Gegenstandes" ihre Aufgabe.
12.11 Eine nur historisch-qualifizierende Methode ist von den "Sachen selbst" überholt.

13 Literatur in ihren drei Parametern: Autor, Werk, Leser, Ljteraturkritik, Literaturtheorie und Literaturwissenschaft haben keine originäre Beziehung zur Provinz: das "und" in der Formel "Literatur und Provinz" verdeckt das Problem.