1 Wer andere Provinzler nennt, ist selbst einer; wer andere nicht Provinzler nennt, ist deshalb noch nicht keiner.
2.1 "provincia" ist ein terminus technicus
aus der römischen Amtssprache und bezeichnet a) die Ämter und
ihren Geschäftsbereich (mihi provincia est...), z.B. die Jurisdiktion
des Prätors (provincia urbana et peregrina); b) die Verwaltung eines
unter röm. Herrschaft stehenden Gebietes (Proconsul od. Proprätor);
c) ein derartiges Gebiet selbst (Asia, Africa, Gallia, Germania).
2.2 "provincialis" bezeichnet dementsprechend
alles, "was die Provinz betrifft", aber auch "eine Amtsperson in der Provinz"
(vgl. noch heute »Ordensprovinzial") und den "Mann aus der Provinz"
2.3 Der Mann aus der Provinz ist in der
urbs, der Hauptstadt, peregrinus, fremd und unwissend Im Unterschied zum
urbanus weiß er nicht nur weniger vom "römischen" Recht, er
hat auch weniger Rechte: er ist nicht civis, allenfalls "Beute"-civis.
2.4 Außerdem kennzeichnen ihn: andere
Mode, andere Sitten, andere Speisen, niedere oder keine Bildung und vor
allem der "Provinzialismus" seiner Rede.
2.5 Das Denkmuster "urban - provinziell"
ist komplett.
2.6 Es erfährt seine dialektische
Umkehrung, wenn "die Leute in der Provinz" (schon a.Chr.n.) "provinziell"
für das Ganze, Heile, Vernünftige, Gesunde, Saubere halten und
alles Gedrechselte, Geistreiche(lnde), Freche, Angekränkelte, Schamlose
als "urban" bezeichnen.
2.7 "Lieber der Erste hier (in der Provinz)
als der Zweite in Rom" (Caesar, laut Plutarch).
3.1 Die römische Kirche überträgt
für ihm hierarchische Organisation - gegen ihre ubiquitäre Spiritualität
- das römische Weltmodell: urbi et orbi.
3.2 Der Bischof von Rom hat den Primat,
alle anderer Bischöfe sind (auch) seine Statthalter (vgl. canon. Jurisdiktion);
ihre Diözesen sind römische Provinzen.
3.3 Auf diesem Wege kommt der Begriff
"Provinz" nach Mitteleuropa (Holland i. 4. Jhdt).
4.1 Die Herrscher von "Gottes Gnaden" machen
ihre Metropole zur urbs.
4.2 Länder mit Zentralismus haben
nur eine Metropole.
4.3 Deutschland hat nach dem Ende des
30jährigen Krieges über 500 selbständige Territorien; es
hat damit über 500 "Metropolen"; es hat damit über 5OO "Provinzen".
4.4 Eine deutsche Reichshauptstadt gibt
es von 1871-1945.
5.1 Die säkularen Wissenschaften verändern
die Fundamente.
5.2 Die 1. soziale Revolution verändert
das Gefüge.
5.3 Standortgebundene Irdustrien lösen
Bevölkerungswanderungen zu der neuen Metropolen aus.
5.4 Verkehrs- und dann nachrichtentechnische
"Universalität" steigern die soziale Mobilität.
5.5 Die 2. soziale Revolution führt
zu neuer Umstrukturierung in Industrien und Städten.
5.6 Dazwischen liegt die 2. Kriegs- und
Nachkriegs-Völkerwanderung.
6.1 Glauben ist überregional.
6.2 Denken ist überregional.
6 3 Wissenschaften sind überregional.
6.4 Es gibt keine pfälzische, sächsische,
bayerische usf. Mathematik, aber auch keine deutsche, französische
russische usf.
6.5 Es gibt auch keine Berliner Frankfurter,
Würzburger usf. Germanistik, aber auch keine deutsche, amerikanische,
japanische usf.
7 Einerseits divergieren historischer, politischer, geographischer, soziologischer Provinzbegritf, andererseits sind sie sämtlich ständig transzendiert von Glauben, Wissen, Wissenschaft und Technik.
8.1 Diese Transzensionen sind Korrelate
der Zeit (physikalische Zeit, Geschichtszeit, Bewußtseinszeit).
8.2 Wer die Zeit mißachtet, verspätet
sich.
8.3 Seine "Transzensionen" sind überholt,
sie kommen nicht hinüber, sie treten am Ort.
8.4 Es entsteht eine Lücke, ein "cultural
lag"
8.5 Wird diese Rückständigkeit
von opinion leaders sanktioniert und von pressure groupes als normativ
durchgesetzt, dann ist das "provinziell".
8.6 Derart "Provinzielles" gib es in Metropolen
und in der Provinz.
8.7 Transzendierendes Bewußtsein
und Provinzielles spiegeln sich in der Sprache.
9.1 Literatur ist aus Sprache gemacht.
9.2 Sprache interpretiert Welt: Sprechen
interpretiert Sprache.
9.3 Sprachen - Welten.
9.4 Eine Sprache ist ein Spannungsgefüge
von Sprachstufen (Hochsprache, Umgangssprachen, Mundarten) und Sprechstuten
(Hochlautung, Umgangslautungen, Mundarten).
9.5 Das individuelle Spannungsgefüge
richtet sich nach dem Kommunikationsradius, den Denkinhalten und der Formstufe.
9.6 Nicht auf jeder Sprachstufe läßt
sich alles denken und sagen.
9.7 Man muß nicht Mundartsprecher
(gewesen) sein, um denken und dichten zu können.
10.1 Jeder Autor partizipiert am Sprachprozeß.
10.2 Nicht: die Grenzen seiner Provinz,
sind die Grenzen seiner Dichtung; sondern "die Grenzen meiner Sprache sind
die Grenzen meiner Welt" (Wittgenstein).
10.3 Er kann auf dem flachen Land Weltliteratur
und Provinzielles in der Großstadt schreiben.
10.4 Die Teilhabe am urbanen Literaturbetrieb
bedeutet keinen literarischen Vorsprung.
10.5 Wer unbewußt rückständig
schreibt, ist rückständig.
10.6 Wer bewußt rückständig
schreibt, schreibt literaturpädagogische Literatur. (Das ist eine
Oualitätsfrage.)
10.7 Oder: wer bewußt rückständig
schreibt, betreibt die Negation der Negation.
11.1 Der Literaturkonsum ist keine Instanz
der literarischen Qualität: vgl. die Auflageziffern von Rilkes "Cornet"
zu der seiner "letzten" Gedichte und die Rilkes insgesamt mit der Trakls.
11.2 Es gibt epochale Verspätungen
im Literaturkonsum (Hölderlin, Büchner, Kafka...)
11.3 Esoterisch ist nicht der Gegensatz
zu provinziell.
11.4 Im hermeneutischen Horizont korrelieren
Zeit, Bewußtsein und Sprache.
11.5 Der Leser erweist in seinem Verständnis
seine Bewußtseinslage.
12.1 Literarische Qualität hat keinen
spezifischen Ort.
12.2 Literarische Qualität hat kein
spezifisches Sujet.
12.3 Wird die Provinz literarisches Sujet,
dann ist sie bereits "aufgehoben" (Hegel).
12.4 Nur in dieser Distanziertheit wird
literarische Provinz Weltsujet und transferierbar.
12.5 Die Distanz äußert sich
als Kritik, Satire, Groteske, Absurdes, Ironie, Utopie auf dem Niveau der
jeweiligen Wissenschaften. der Philosophie(en), der Psychologie(en) usf.
12.6 Analytische Literatur bedarf der
Sujets, d. h. der in Sprache geschehenden Auslegung von Fakten.
12.7 Nicht-analytische Literatur hat als
Sujet die Faktizität der Sprache. d. h. sie ist metasprachliche Literatur.
12.8 Poetik ist überregional wie
Mathematik und Logik.
12.9 Poetischer Kalkül ist keine
neue Erfindung.
12.10 Literaturkritik und Ästhetik
haben in der "Natur des Gegenstandes" ihre Aufgabe.
12.11 Eine nur historisch-qualifizierende
Methode ist von den "Sachen selbst" überholt.
13 Literatur in ihren drei Parametern: Autor, Werk, Leser, Ljteraturkritik, Literaturtheorie und Literaturwissenschaft haben keine originäre Beziehung zur Provinz: das "und" in der Formel "Literatur und Provinz" verdeckt das Problem.