Reinhard Döhl | Draußen vor der Tür

Wer sich mit der Hörspielgeschichte nach 1945 beschäftigt, wird für die ersten Nachkriegsjahre berücksichtigen müssen, daß Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt war, daß der Wiederaufbau der Rundfunkanstalten, die Entwicklung des Nachkriegsrundfunks von den einzelnen Besatzungsmächten wesentlich mitbestimmmt und geprägt wurde. Für sie war der Rundfunk das erste und zunächst wichtigste Medium eines Demokratisierungsprozesses.

Daß sich die Besatzungsmächte beim Auf- und Ausbau der Rundfunkanstalten jeweils ihren eigenen Rundfunk, ihre eigenen Rundfunkverfassungen zum Vorbild nahmen, ist dabei ebenso zu berücksichtigen wie ein unterschiedliches Demokratieverständnis, unterschiedliche Vorstellung, wie dieser Demokratisierungsprozeß nun eigentlich vor sich gehen sollte.

Daß hier deutlich zwischen dem Rundfunk der sowjetisch besetzten Zone und dem der Westzonen unterschieden werden muß, liegt auf der Hand. Aber auch zwischen britischer, amerikanischer und französischer Besatzungszone ist für die direkten Nachkriegsjahre sehr wohl zu differenzieren. Schwitzke deutet dies in seiner "Dramaturgie und Geschichte" an, wenn er die Engländer von den "anfangs etwas schwerfälligeren Amerikanern und etwas hochmütigeren Franzosen" abhebt:

"Vor allem die Engländer, die weder so viel Pharisäismus abzubauen hatten wie die Amerikaner noch so viel Chauvinismus wie die Franzosen, waren vorbildlich. Sie etablierten in ihrem Bereich - von Berlin und Schleswig-Holstein über ganz Norddeutschland, beherrschend bis fast zum Main hin - ein Instrument, das seinesgleichen bei uns noch nicht hatte, gerade auch im Hinblick auf die Freiheit nicht, die es in ihm trotz allem gab."
Das Einmalige dieses "Instruments" war bereits in seiner Organisation gegeben. Anders als die Amerikaner, die in der von ihnen besetzten Zone jedem Land seinen eigenen Rundfunk installierten, hatten sich die Engländer die BBC (British Broadcasting Corporation) zum Vorbild genommen und damit eine Verfassung, deren erklärte Absicht war, "dem Rundfunk demokratische Leitung und unabhängiges Handeln sowohl gegenüber den Parteipolitikern wie gegenüber der Regierung" zu sichern.

Diese Verfassung war Vorbild, diente den "britischen Rundfunkbeauftragten" als Modell "für die Organisation des Rundfunks in ihrer Zone. Es ist interessant zu beobachten, mit welchen Problemen und Schwierigkeiten die Umsetzung dieses Modells verbunden war. Emil Dovifat hat dies in seiner kleinen Geschichte des "NWDR in Berlin 1946 bis 1954" in dem Kapitel "Das Modell der BBC" skizziert.

Für unseren Zusammenhang wichtiger ist die Geschichte des NWDR (Nordwestdeutschen Rundfunks), für deren Skizze wir ebenfalls Dovifat folgen. Danach hatten sich die Engländer vorgenommen,

"das ganze von ihnen besetzte Gebiet durch eine demokratisch kontrollierte, aber einheitliche Sendeorganisation zu bedienen. Ein englisches militärisches Team übernahm die Arbeit zur Schaffung einer dementsprechenden deutschen Rundfunkorganisation in der britisch besetzten Zone Nordwestdeutschlands. Die Leitung hatte Hugh Carleton Greene, dem deutschen Publikum durch seine im Krieg ausgestrahlten deutschen Sendungen im englischen Rundfunk längst bekannt."
Am 4. Mai 1945 übernahm das Team den Hamburger Sender, der in der britischen Besatzungszone der am wenigsten zerstörte Sender war, zunächst mit einem kleinen Nachrichtendienst, aus dem sich "im Laufe des Jahres 1946 ein volles Programm" entwikelte, undzwar als Ergebnis englisch-deutscher Zusammenarbeit, die mit der Wahl des Kulturministers Dr. Adolf Grimme am 8. September 1948 zum ersten deutschen Generaldirektor ihr Ende fand.
"Hugh Carleton Greene, der das Amt des Generaldirektors geführt hatte, schied am 15. November 1948 mit dem Amtsantritt Grimmes aus. Das war der Zeitpunkt, an dem die Leitung des NWDR voll und ganz in deutsche Hände überging, die Zeit der Gründung, der englisch-deutschen Zusammmenarbeit im Übergang war beendet."
Bereits diese Skizze deutet an, warum sich für die Hörspielgeschichte des "Übergangs", der ersten Nachkriegsjahre vor allem das Programm des NWDR anbietet, wobei es auch gilt, einige Vorurteile über die Nachkriegsgeschichte des Hörspiels abzubauen, die in ihren Ansätzen interessanter ist, als die Hörspielgeschichtsschreibung lange Zeit wahrhaben wollte.

Für sie galten erst Günter Eichs "Träume" (1951) als "Neubeginn". Gerhard Prager hat sogar - und Schwitzke und viele andere sind ihm hier zitierend gefolgt - die Erstsendung der "Träume" am 19. April 1951 als "Geburtsstunde des deutschen Hörspiels" apostrophiert. Allenfalls wurde noch Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" genannt, in seiner Bedeutung allerdings unterschiedlich gewertet.

- Für Schwitzke war es gleichsam ein erratischer Block im Vorfeld des Hörspiels der 50er Jahre, ein "fertiges Hörspiel", das "den Dramaturgen des Hamburger Senders [...] in den Schoß fiel, bevor es eine Hörspielkunst im Nachkriegsdeutschland überhaupt wieder gab";
- für Prager atmete es "Gipfelluft" und setzte "allen nachfolgenden Versuchen unverrückbare Maßstäbe", während
- für Werner Klose mit den Hörspielerfolgen von "Draußen vor der Tür", der "Träume" und Fred von Hoerschelmanns "Das Schiff Esperanza" (1953) "alle Voraussetzungen für die Blütezeit des literarischen Hörspiels gegeben" waren:

"Die Spiele Borcherts, Eichs und von Hoerschelmanns hatten exemplarische Stoffe und Formen entwickelt, und ihnen folgten zahlreiche Autoren der mittleren und jungen Nachkriegsgeneration nach. Gemeinsam war ihnen der zeitkritische Moralismus der Hörspielfabeln, verschieden die Formalstruktur von allegorischen oder symbolischen Spielhandlungen im Stile Borcherts über parabelhaft-phantastische Traumspiele nach Eich oder realistische Zeitstücke, wie sie Fred von Hoerschelmann schrieb."
Genauer als Klose trennt Burghardt Dedner zwischen den Hörspielen Borcherts und Eichs und ordnete sie verschiedenen Phasen des Nachkriegshörspiels zu. Aber auch für ihn geben Eichs "Träume" den eigentlichen Auftakt des Nachkriegshörspiels. Zwar sei ihnen Borcherts "Draußen vor der Tür" "um vier Jahre voraus"gegangen, sei das Hörspiel "schon 1950 [...] wieder soweit etabliert gewesen, daß an an die Edition jährlicher Sammelbände als Grundlage für die Weiterentwicklung der Gattung denken konnte", aber Eichs "Träume" seien
"nicht nur das erste große Werk des bedeutendsten deutschen Hörspieldichters der fünfziger Jahre, es ist vor allem das erste Hörspiel, in dem ausdrücklich die wichtigsten sozialen Charakteristika dieser und der folgenden Zeit ins Blickfeld gerückt werden. War Borcherts Blick noch auf die Erfahrungen des Krieges und des Zusammenbruchs fixiert, so reflektiert Eich schon über die Folgen der Währungsreform und der damit eintretenden ökonomischen, politischen und moralischen Saturierung, über Phänomene also, welche die fünfziger Jahre als Epoche charakterisiert."
Dieses Trennung der Hörspiele Borcherts und Eichs aus historischer Perspektive ist so richtig wie wichtig. Sie provoziert aber zugleich die Frage, ob die "Erfahrungen des Krieges und des Zusammenbruchs" denn außer "Draußen vor der Tür" bis 1949 kein weiteres nennenswertes Hörspiel hervorgebracht haben. Bemerkenswert ist, daß die herausgestellten Qualitäten des Borchertschen Spiels weniger inhaltlicher als formaler Natur sind. Geradezu das "Muster eines Hörspiels" nennt Schwitzke das Stück,
"an dem die Erzähl- und Blendtechnik, die Stilisierung der Figuren und der Grad möglicher Abstraktion, die Verinnerlichung des Schauplatzes und das Musikalisch-Fragmentarische der Handlungsführung, die Schluß-Koda mit der Wiederkehr aller Gestalten und das abrupte Stehenlassen des letzten Anrufs [...] studiert und exemplifiziert werden kann."
Wer so argumentiert, muß notwendigerweise wie Prager zu dem Schluß kommen, das Hörspiel sei mit Ausnahme von "Draußen vor der Tür" bis 1950 zu keiner überzeugenden Leistung befähigt gewesen. Aber - eine solche Argumentation, das ersichtliche Vor-Urteil des "literarischen Hörspiels" verstellen den Blick auf das, was hörspielgeschichtlich wirklich geschah, was an Ansätzen da war und vor allem, was an Sendetypen und -formen neben dem Hörspiel, ja sogar statt des Hörspiels versucht wurde.

Eine derartige Spielvielfalt hatte sich ergeben, weil in der Nachkriegszeit zunächst "ohne ängstliche Ressorteinteilung", ohne "geregeltes Kompetenzsystem" Programm gemacht wurde, was dem Rundfunk eine heute so kaum vorstellbare "unmittelbarste Art von Aktualität" ermöglichte.

"Im Programm ergaben sich dadurch völlig neue Typen von Sendungen. Als Formen der Darstellung und Orientierung auf politischsozialem Gebiet erfand man Kommentare und Features; für die intensiven und extensiven Auseinandersetzungen mit allgemeinen Problemen führte man [...] "Nachtprogramme" ein, die bei anderen Rundfunkanstalten die Bezeichnungen "Nachtstudio", "Abendstudio", "Radioessay" erhielten. Es handelte sich um eine Art Hochschulunterricht für die Lernbegierigen unter den Gebildeten, der beim NWDR, wo Ernst Schnabel mit Jürgen Schüddekopf den Plan zum erstmal verwirklichte, an fünf Abenden pro Woche stattfand. Die starke Ausstrahlung, die durch eine so umfassende und aktuelle geistige Repräsentanz im Rundfunk entstand, bewirkte, daß das Ansehen der Institution auch entstand, bewirkte, daß das Ansehen der Institution auch unter Intellektuellen und Künstlern zunahm wie nie zuvor. Und dies wiederum war die Voraussetzung dafür, daß dann auch die eigentliche Kunstform des Rundfunks, das Hörspiel, in die Mitte der Auseinandersetzungen rücken konnte."
Dieses Zitat zeigt nicht nur die vielfältigen Möglichkeiten eines Programmspektrums auf, wie es die unmittelbare Nachkriegszeit bot, es deutet auch die Chancen an, die auf einer gleitenden Skala "von der reinen Gebrauchsware der eingekleideten Information bis zum zweckfreien 'poetischen' Spiel" sich gerade dem Hörspiel boten. Und es läßt zugleich ablesen, wie hier Weichen falsch gestellt wurden, als aus der gleitenden eine Wertskala wurde, wenn vom Hörspiel als "der eigentlichen Kunstform des Rundfunks" die Rede ist, wenn diese "Kunstform" "in die Mitte der Auseinandersetzungen" gerückt wird.

Helmut Heißenbüttel hat 1969 in seinem Aufsatz "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese" auf die Problematik, die hier historisch faßbar wird, allgemein hingewiesen, wenn er gegenüber der Auffassung vom literarischen Hörspiel als "der eigentlichen Kunstform des Rundfunks" aufstellt, daß sich "im Gebrauchscharakter einer populären Hörspielform, die unmittelbar ins Feature" übergehe "und literarisch-ästhetische Kriterien nur als grob handwerkliche Regeln" anerkenne, "die erste legitime Form" zeige, "die sich aus dem Medium" "entwickelt". Das mag, da sich zwei der folgenden Kapitel ausführlicher mit dem Feature beschäftigen werden, als Hinweis zunächst genügen.

Die Hörspielarbeit (nicht nur) des Nordwestdeutschen Rundfunks war in den Nachkriegsjahren zunächst von einer regen Hörerpost begleitet, die bis auf wenige Ausnahmen leider dem Reißwolf zum Opfer gefallen ist. Dabei läßt sich aus dem zufällig und oft nur bruchstückhaft erhaltenen Material leicht schließen, wie wichtig für das Verständnis des Nachkriegshörspiels und Features diese Hörerzuschriften wären.

Soweit das noch erhaltene Material Schlüsse zuläßt, hat es sich bei dieser umfänglichen Hörerpost zu einem großen Teil um ein bestätigendes Echo gehandelt, bei einem weiteren, ebenfalls noch größeren Teil um fragende Reaktion, was heißen soll, daß die jeweiligen Hörspiele oder Features persönliche Fragen ausgelöst hatten. Nur ein geringer Teil der Zuschriften scheint Ablehnung formuliert, ablehnende Kritik enthalten zu haben. Wieweit das positive Echo spezifische Sendeformen bestätigen half, wieweit die fragende Reaktion vor allem auf die Feature-Sendungen indirekt Einfluß nahm, ist bei Verlust des meisten Materials nur hypothetisch zu beantworten. Eine Rückwirkung der Hörerpost auf die Sendungen ist mit Sicherheit anzunehmen, ihr Ausmaß jedoch unbekannt.

Nimmt man einmal eine solche Rückwirkung als gegeben, und rechnet man hinzu, daß Ernst Schnabel 1947 auf seine Bitte um Mitarbeit fast 35000 Zuschriften für ein Hörspiel-Feature bekam, das einen "poetischen Querschnitt durch den Alltag eines ganzen Volkes" (Schwitzke) versuchen wollte, dann deutet sich das Ausmaß einer Rückkopplung, eines feed back an, das in der deutschen Hörspielgeschichte ohne gleichen ist. Wie Schwitzke allerdings anzunehmen,

"daß zwischen 1947 und 1950 eine fast vollständige Solidarität zwischen Hörer und Rundfunk bestand, die damals auch durchaus notwendig und heilsam war,"
vereinfacht dieses Phänomen zu sehr. Wie immer man jedoch dieses Phänomen erklären will, mit den Jahren 1949/1950 endet jedenfalls diese "Solidarität", geht die Hörerpost im beginnenden Wirtschaftswunder rapide zurück, um nur noch einmal bei der Erstsendung der "Träume" anzuschwellen, jetzt allerdings überwiegend ablehnend. Auch von diesem Reaktions-Wechsel und seiner hörspielgeschichtlichen Bedeutung wird in einem späteren Kapitel noch einmal zu reden sein.

Ähnlich dürftig wie mit der Hörerpost sieht es mit Tondokumenten aus. Fast alle der damals auf Tonband aufgezeichneten und erhaltenen Hörspiel- und Featuresendungen der ersten Nachkriegsjahre wurden gelöscht, sind also als Tondokument nicht mehr zugänglich. Doch kann man sich hier wenigstens mit den zahlreicher erhaltenen Funk- bzw. Regiemanuskripten notdürftig behelfen. Und das sind bereits für die Jahre 1946 bis 1948 allein für den Hamburger Sender 206 Manuskripte. Verteilt man die Zahl der Manuskripte auf die einzelnen Jahre, entfallen auf das Jahr 1946 56, auf das Jahr 1947 70 und auf das Jahr 1948, in das auch der erste Hörspielwettbewerb nach dem Kriege fällt, 90 Manuskripte.

Sieht man einmal von rein unterhaltenden Spielen, Bearbeitungen komödiantischer Stoffe und Dialekthörspielen ab, die unter anderem eine vom Hörer gewünschte Ablenkungsfunktion hatten -

"Haben wir nicht genug von Mord und Totschlag gehört? Bringen Sie uns lieber etwas, was den Alltag vergessen macht, heitere Komödien oder Singspiele mit flotter Musik so wie neulich" -
sieht man von derartigen Unterhaltungshörspielen ab, lassen sich die restlichen Manuskripte relativ leicht in drei Gruppen teilen, undzwar nach ihrer Häufigkeit im Programm in:

1. Adaptionen von Theaterstücken, zumeist des angelsächsischen Auslands, ferner Frankreichs, aber auch deutschsprachiger Autoren, darunter Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit", Bertolt Brechts "Galileo Galilei" und Max Frischs "Nun singen sie wieder".

2. Hörspielbearbeitungen epischer Vorlagen, vor allem wiederum des Auslands, z.B. Ernest Hemingsways "Wem die Stunde schlägt", aber auch deutschsprachiger Autoren wie B.Travens "Totenschiff", wie Heinrich Manns "Der Untertan",  Anna Seghers' "Das siebte Kreuz" oder Theodor Pliviers "Stalingrad".

3. Originalhörspiele, u.a. von Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Weyrauch, Oskar Wessel, Alfred Prugel, Christian Bock, um nur die Bekannteren zu nennen. Ebenfalls noch 1948 wurden auch die ausgezeichneten Hörspiele des schon genannten ersten Hörspielwettbewerbs nach dem Kriege gesendet, meldet sich aber auch eine "Hörspielarbeitsgemeinschaft Hamburger Studenten" zu Wort und deutet an, wie populär das Hörspiel bereits wieder geworden war.

Die Vielzahl adaptierter Theaterstücke, die Menge der Hörspiele nach epischen Vorlagen mutet wie ein Rückfall in die Frühgeschichte des Hörspiels an und war es doch nicht. Ging es doch einmal darum, sich einer Literatur (wieder) zu vergewissern, von der man jahrelang ferngehalten war, verbrannter oder verbotener Literatur, der Literatur des Auslands und der Emigration. Zum anderen hat Prager nur Recht, wenn er von einem "vorsichtigen und eher unsicheren Wiederbeginnen, eigentlich ohne Autoren" spricht. Vergleichbar antwortete im Oktober 1946 Otto Kurth, der damalige Leiter der Hörspielabteilung des NWDR, auf einen Hörerbrief:

"[...] in dem Sinne, lieber Hörer, bitten wir Sie, von uns keine Patentlösung für die schwebenden geistigen oder politischen Fragen unserer Wirklichkeit zu erwarten. Viele deutsche Autoren scheinen sich noch nicht von der Lähmung der letzten Jahre erholt zu haben."
Allerdings meint Kurth, anders als Prager, nicht ausschließlich den Hörspielautor. Dennoch scheint uns verfehlt, von den zahlreichen Adaptionen ausländischer Theaterstücke, epischer Vorlagen als "Nothelfern" zu sprechen. Eine Erinnerung Schwitzkes läßt ihre Funktion, die wichtige Vermittlerrolle des Rundfunks leicht einsehen:
"Man kann sich die Szenerie gar nicht deutlich genug machen, um die einzigartige Funktion der Rundfunksender nach 1945 und die Nachkriegsgeschichte des Hörspiels zu verstehen.

Denn es gab weder Theater, noch Kinos, nicht einmal Säle, um sich für Theater-, Film- oder Musikaufführungen zu versammeln. Es gab weder Filme noch Kostüme noch Instrumente. Es gab weder Verleger noch Zeitungen, nicht einmal Papier war vorhanden. Und die Vielzuwenigen, die das Vielzuwenige herstellen oder herbeischaffen oder verteilen durften, um das sich alle drängten, waren 'Lizensierte', oft nicht die Geschicktesten, manchmal auch nicht die Besten. Dennoch aber drängten sich alle: mit dem Hunger in den Eingeweiden war der Hunger nach geistiger Nahrung, nach geistigem Besitz keineswegs vergangen, sondern so groß geworden wie nie."

In einer solchen Situation war eine Sendung von Jean Giraudoux' "Der trojanische Krieg wird nicht stattfinden", 1945, in der Bearbeitung und unter der Regie von Helmut Käutner, ebenso wenig "Nothelfer" wie eine Sendung von Molières "Tartuffe", 1946, unter der Regie Kurths. Speziell im Falle der Giraudoux-Adaption wäre die Kenntnis der Hörerreaktion von einigem Interesse, hat doch das später auch auf den Theatern häufig nachgespielte Stück seinen historischen Stellenwert in der Vorkriegsspannung zwischen Frankreich und Deutschland, in der Antizipation einer gewaltsamen Auseinandersetzung, die, unausweichlich, sich menschlicher Einflußmöglichkeit entzog.

Leider fehlen für 1945 jegliche Hörerpostunterlagen. Daß aber und wie solche Stücke sehr wohl zeitanzüglich und zeitbezüglich verstanden wurden, läßt sich einem fragmentarisch als Zitat erhaltenen Hörerbrief zur "Tartuffe"-Inszenierung ablesen.

"Dein letztes Hörspiel nach dem Molière-Lustspiel "Tartuffe" - bravo! In diesem heuchlerischen und bigotten Tartuffe, der so brav daherredet und dabei nur an sich denkt, der sicher einen famosen Nazi abgegeben hätte, hat wahrscheinlich jedermann, der es ehrlich mit sich meint, ein bißchen sich selbst erkannt."
Daß im Falle von Giraudoux' "Der Trojanische Krieg wird nicht stattfinden" keine Hörerreaktion bekannt ist, ist bei der Popularität des Stücks auch deshalb bedauerlich, weil es das erste einer Gruppe von Hörspielen aus dem Umkreis des Trojanischen Krieges war, dem 1948 im Rahmen einer ersten Hörspielreihe nach dem Kriege, "Hörspiele der Zeit", u.a. Peter Bamms "Muschel der Kalypso" folgte und an deren Ende schließlich Wolfgang Hildesheimers "Das Opfer Helena" (1955) steht. Was auch andeutet, wie sehr sich ein Stoff zur Diskussion aktueller Probleme anbieten kann.

Giraudous Troja-Spiel wurde im November 1945 und damit 5 Monate vor seiner deutschen Theatererstaufführung gesendet. Ähnliches gilt, immer auf die deutsche Erstaufführung bezogen, für Thornton Wilders "Our Town" ("Unsere kleine Stadt"), für Max Frischs "Nun singen sie wieder", das in direkter Nachbarschaft mit Borcherts "Draußen vor der Tür" gesendet wurde, oder für das in den Nachkriegsjahren so erfolgreiche "Thunder Rock" ("Leuchtfeuer") von Robert Ardrey, das am 7. Januar 1946 im Rundfunk uraufgeführt wurde und in seiner naiven Zukunftsgläubigkeit exemplarisch genommen werden kann für eine Literatur, die man sich damals verschrieb:

"Eines Tages wird es keinen Krieg mehr geben. Aus dem Chaos dieser alten Welt bauen wir eine neue. Eine neue Welt, die Unterdrückung, Arbeitslosigkeit, Hunger und Krieg ausrottet, wie die alte Welt Seuche und Pest ausgerottet hat. Ja ich glaube daran. Dieser Glaube soll den Menschen den Weg in eine verdusterte Zukunft erhellen, wie mein Leuchtfeuer den Schiffen den Weg durch die Dunkelheit gewiesen hat. Das ist unsere Aufgabe."
Ein solche Stück war, wie der zitierte Schluß mehr als deutlich macht, nicht nur "Predigt zum Zweck der moralischen Aufrüstung", es war "moralische Aufrüstung" statt Auseinandersetzung, ehrliche Gesinnung statt Reflexion der Katastrophe, der "Erfahrungen des Krieges und Zusammenbruchs", auf die man "fixiert" war. Es war Versprechen, nicht konkreter Lösungsvorschlag "für die schwebenden geistigen und politischen Fragen unserer Wirklichkeit".

Man muß dies im Auge behalten, wenn man die Wirkung des ein Jahr später gesendeten Borchert-Stücks richtig einschätzen will. Denn sie war fraglos mit vorbereitet von einer Literatur dieser Art, einer Literaturerwartung, der "Ergriffenheit statt Bedenken, Mitleid statt Geistestätigkeit, Stimmung als Philosophie" (Walter Killy) galten.

Auch Borcherts "Draußen vor der Tür", "Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will", gehört zu jenen Stüken, die zuerst im Rundfunk (am 13.2.1947) und erst dann im Theater (am 21.11.1947) aufgeführt wurden. Über die Frage, ob es sich überhaupt um ein Theaterstück handelt, ob es nicht vielmehr und ureigentlich Hörspiel sei, ist heftig gestritten worden. Zwar gibt es zwei Fassungen, die ungedruckte Hörspielfassung und die im Druck verbreitete, fast um ein Drittel umfänglichere Theaterfassung. Doch stellen die Striche der Hörspielfassung weder formale noch substantielle Eingriffe dar. Es sind vielmehr

"bloß 'Innenstriche' um des Tempos willen. Struktur und Dynamik [...] sind hier wie dort vollständig gleich" (Schwitzke).
Während Kindlers Literaturlexikon zwischen Hörspiel- und Bühnenfassung für die Aufführungsdaten trennt, ansonsten neutral von "Stück" spricht, wird es in der Literaturwissenschaft und im Deutschunterricht (mit der Ausnahme Kloses) im theatergeschichtlichen, von Prager, Schwitzke und anderen jedoch energisch im hörspielgeschichtlichen Zussammenhang gesehen. Im Grunde ist dieser Streit müßig. Borchert schrieb sein Stück, ohne damit zu rechnen, "daß es jemals aufgeführt werden könnte" (Bernhard Meyer-Marwitz), mit anderen Worten: er schrieb ein Stück ohne Rücksicht auf die medialen Bedingungen, weder des Theaters, obwohl er an dieses zuerst gedacht haben dürfte, noch des Rundfunks. Die Frage lautet denn auch weniger: Hörspiel oder Theaterstück, vielmehr, für welches Medium dieses Stück denn am besten geeignet ist. Und um sie zu beantworten, müßte man die Filmfassung von 1948, "Liebe 47", Regie Wolfgang Liebeneiner, und auch die stark zusammengestrichene Fernsehfassung Rudolf Noeltes hinzuziehen. Aber selbst dann ist die Frage kaum, wenn überhaupt zu beantworten, will man sich nicht in die Gefahr formalisierender Gattungsspalterei begeben.

Historisch gesehen waren sowohl Hörspielsendung wie Theateraufführung außerordentlich erfolgreich und wirkungsvoll für einen bestimmten Zeitraum. Versuchte Neuproduktionen bzw. Neuinszenierungen nach 1952 scheiterten jedoch zumeist und erweisen dadurch zugleich die ausgesprochene Zeitgebundenheit des Stükes. Hier wäre vor allem der Versuch einer Hamburger Neuproduktion aus dem Jahre 1952 zu nennen, die aus dem "Empfinden" heraus, Borchert gebe sich sprachlich "mehr expressiv und weniger intensiv, als einem Hörspiel zuträglich" sei, "in der Hoffnung" unternommen wurde,

"man könne vielleicht bei genau gleicher Regie und Besetzung hörspielgemäßer unterspielen und intensivieren. Doch hat sich dabei erwiesen, daß der Text das nicht zuläßt; er braucht die für unseren Geschmack übermäßig ekstatische Darstellung. Die erste Inszenierung aus dem Geist der Zeit, in der Bocherts Werk entstand, ist trotz oder vielleicht gerade wegen des mangelnden Understatements wahrscheinlich für immer unübertrefflich." (Schwitzke)
Eine Fülle von Wiederholungen der ersten Inszenierung seit 1952 - im Jahr seiner Erstsendung war das Hörspiel nur einmal wiederholt worden - deuten an, wie sehr man Borcherts Stück als Repertoirestück empfand, als "gültiges literarisches Dokument jener Jahre", obwohl sich aus dem heutigen Abstand die Vermutung aufdrängt, daß die Wiederholungen der Jahre 1952, 1955, 1956 und zweimal gleich 1957 auch so etwas wie eine Alibifunktion hatten gegenüber der zunehmenden Erkenntnis, daß man sich um eine wirkliche Auseinandersetung mit der Katastrophe herumgedrückt hatte, daß die Vergangenheit nicht eigentlich bewältigt war.

Als man anläßlich des zehnten Todestages seines Verfassers das Stück noch einmal vor vollen Häusern auf die Bühne brachte, war man enttäuscht. Die Wirkung war dahin, jedenfalls auf dem Theater. Nicht so im Buch. Als preiswertes Taschenbuch vor allem in den Schulen verbreitet, findet Borcherts "Draußen vor der Tür" bis heute seine Leser. Die Auflagenzahlen deuten hier eine erstaunliche Konstanz an:

1.-1000. Tausend 1956-71 / 1001.-1050. Tausend Januar 1972 / 1051.-1110. Tausend November 1972 / 1111.-1160. Tausend August 1973 / 1161.-1210. Tausend April 1974 / 1211.-1260 Januar 1975 / 1261.-1295. Tausend undsoweiter unsofort.
Auch wer primär nur an der Wirkung des Borchertschen Hörspiels interessiert ist, sollte, das deutete sich bereits an, den Programmkontext mitberücksichtigen. "Draußen vor der Tür" - der Arbeitstitel lautete etwas nüchterner, aber nicht weniger programmatisch "Einer von denen" - wurde am 13.2.1947 gesendet. Für dieses Jahr 1947 muß nach Schwitzke eine Hörspielgeschichte dreierlei festhalten:

1. das Aufkommen des Features;
2. ein "fertiges Hörspiel", "bevor es eine Hörspielkunst im Nachkriegsdeutschland überhaupt wieder gab";
3. eine "danach erst" einsetzende "dramaturgische Aktivität bei den Hörspielabteilungen der Sender, die freilich jahrelang noch nicht viel ausrichtete".

Daß letzteres kaum richtig ist, läßt sich mit dem schon mehrfach zitierten Aufsatz Kurths "Über das Hörspiel" belegen, der im Oktober 1946 in den "Nordwestdeutschen Heften" erschien, einer Zeitschrift, die, im Auftrag des Nordwestdeutschen Rundfunks von Axel Eggebrecht und Peter von Zahn herausgegeben, Sendungen des NWDR in Auswahl nachdruckte und kommentierte und so ein wichtiger Programmspiegel ist. Dieser Aufsatz Kurths ist heute weniger interessant durch das, was er über das Hörspiel sagt, als durch das, was er nicht schreibt:

"Es bliebe noch viel zu sagen, zum Beispiel, warum es heute noch so wenig wirkliche Hörspiele gibt, und weshalb die wenigen Autoren, die eins schreiben könnten, um das Zeitstück meistens einen großen Bogen machen. Man müßte gelegentlich auch mal untersuchen, welche Rolle das Finanzamt wohl als Schreibtischhindernis spielt."
Aus was für Gründen auch immer Kurth seine Fragen nicht beantwortet, zweierlei stellen sie dennoch klar: daß man 1946 bereits das "wirkliche Hörspiel" wollte, und daß es ein "Zeitstück" sein sollte. Das Hörspiel "Akazienallee 4", auf das sich Kurth in seinen Ausführungen bezieht und für dessen Regie er verantwortlich zeichnete, ist zugleich eines der drei originalen Hörspiele des Jahres 1946, die vorlagen, als Kurth seinen Ausatz schrieb. Es sind dies in der Reihenfolge ihrer Sendung: Wenn Schwitzke diesen Hörspielen bescheinigt, daß sie "ordentlich gebaut, aber ohne poetische Intensität" seien, muß er sich fragen lassen, ob "poetische Intensität" ein Kriterium ist, wenn es darum geht, sich mit "Vorgängen und Problemen" auseinanderzusetzen, "die kaum mehr als ein Jahr zurücklagen". Immerhin diskutieren alle drei Spiele in hörspielgemäßer Form aktuelle Fragen: Starkes "Der Held" die Frage militärischen Ungehorsams aus menschlicher Verantwortung, Renate Uhl, wie schon ihr Titel sagt, die Schuldfrage.
"Wäre es dir lieber, wenn ich zu den politisch Belasteten gehörte?
Ja, es wäre mir lieber, wenn du wenigstens zu denen gehörtest, die guten Glaubens gewesen sind, die ihre Söhne gaben, weil sie meinten, daß die Idee, für die sie kämpfen sollten, gut sei. Einen falschen Weg gegangen zu sein, ist keine Schande. Auch auf falschen Wegen gibt es Idealisten. Und ob und warum ein Weg falsch war, erkennt man oft erst viel zu spät."
Es geht bei diesem Zitat, das sich beliebig durch andere Dialogsequenzen der genannten Hörspiele ersetzen läßt, nicht um die Art der Argumentation, sondern um den Beleg, daß in diesen Hörspielen zu einem Problem, zu einer aktuellen Frage argumentiert wurde und nicht, wie später bei Borchert, nur gefragt.

Die sehr spärlich erhaltenen Fragmente von Hörerzuschriften deuten an, wie das, was die Hörspiele an einem Einzelfall vordiskutierten, jetzt ins Gespräch mit den Hörer geriet. Zwei Reaktionen auf Starkes Hörspiel sollen dies andeuten.

"Ich war [...] von dem Hörspiel "Der Held" gepackt wie selten, es zeigte schonungslos in die Abgründe dieses Abenteurerkrieges und auf die wirklich Schuldigen",
schreibt zum Beispiel ein Hörer, während ein zweiter widerspricht:
"Das Hörspiel "Der Held" war eine grobe Geschichtsfälschung und stellt den Versuch des Verfassers dar, die Schuld an den verbrecherischen Taten und Fehlern auf die NSDAP allein abzuwälzen, die Militärkreise als schuldlos oder aber mindestens als verführt hinzustellen."
Worauf Kurth antwortet:
"Anregungen und Anerkennung sind uns im gleichem Maße willkommen wie Korrektur und Kritik [...]. Unser Hörspiel "Der Held" [...] will als Anfang und Wegweiser verstanden sein [...], nicht als Vollendung und Weg. Denn welche Feder könnte heute schon dem Ungeheuren gültig Ausdruck geben! Über hundert Jahre vergingen, bevor der Ungehorsamstat eines anderen Helden ein Denkmal gesetzt wurde. Und wurde dann nicht sogar Kleists "Prinz von Homburg" noch eine Geschichtsfälschung genannt?"
Die von Kurth abschließend formulierten Absichten der Hörspielredaktion lassen in ihrer Pauschalität auch Hilflosigkeit erkennen, sind aber historisch, d.h. für die wiedereinsetzende oder besser: eine nach dem Kriege neu ansetzende Hörspielarbeit, die alsbald das Feature mit einschloß, nicht uninteressant:
"Was wollen wir? Was wollen wir nicht?
1. Angreifen - aber nicht verurteilen.
2. Bilden - aber nicht schulen.
3. Anregen - aber nicht amüsieren."
1947 folgt dann die Erstsendung des Borchertschen Hörspiels, jedoch nicht, was bisher immer übersehen wurde, für sich alleine, sondern als drittes eingebunden in einen Zyklus von drei Hörspielen: Daß hier nicht nachträglich ein Zyklus konstruiert wird, belegt ein einzelner Hörerbrief aus dem Jahre 1952, der anläßlich der Rücksendung der Frisch- und Kaschnitzmanuskripte festhält:
"Die Durchsicht dieser Werke gab mir einen guten Einblick in den Charakter des damaligen Zyklus, dessen Gesamtumfang man kennen muß, um die Reaktion der Öffentlichkeit auf Borcherts dramatischen Versuch zu verstehen."
Aber der Brief gibt noch einen weiteren wichtigen Hinweis:
"Manche Ablehnung, die er [= Borchert, R.D.] in den Hörerbriefen erfuhr, ist sicherlich auf die Tatsache zurückzuführen, daß er am Ende einer ganzen Reihe von gleichgearteten Totenbeschwörungen stand, die ihm gewissermaßen den Wind aus den Segeln nahmen."
Dieser Hinweis ist deshalb so wichtig, weil er die Behauptung einer fast vollständigen und sich identifizierenden Zustimmung der Hörer und damit eine gefährliche Legenbildung in Frage stellt. Hier bedürfte es einer genauen Kenntnis aller Zuschriften, um die einzelnen Gründe der Ablehnung kennen zu lernen. Sicher ist lediglich, daß die Sendung des Hörspiels nicht nur "brüderliche Schreie als Echo des Borchertschreis" (Schwitzke) zur Folge hatte, daß nur ein (wenn auch überwiegender) Teil der Hörer "das Gefühl" hatte,
"daß Beckmann - ob nun gegenüber dem Lieben Gott oder dem General, dem Kabarettdirektor oder Frau Kramer - immer in ihrem Sinne plädiere, ihr stimmgewaltiger Anwalt sei. So wurde Beckmann schon zum Mythos, ehe man ihn als poetische Figur verstand." (Schwitzke).
Wie die Hörer hat auch die Kritik durchaus nicht nur positiv auf die Funksendung bzw. Theateraufführung reagiert. Ein ausgewogenes Urteil ist jedoch kaum zu finden, am ehesten noch beim hellsichtigen Herbert Jhering in seiner Rede "Entscheidungsjahre des deutschen Theaters", die er im September 1948 vor den Intendanten der Sowjetischen Besatzungszone gehalten hat, einer Rede, in der er Bocherts Stück mit den verkannten Arbeiten anderer Dramatiker in Beziehung setzt:
"Ich finde es deshalb auch falsch, daß man, wie es in Berlin manchmal geschehen ist, Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" entweder mit grimmigen Worten ablehnt oder auf der anderen Seite mit hymnischen Worten preist, weil diese szenische Dichtung doch gerade das Verhängnis eines jungen, hochbegabten und todkranken Menschen aufzeigte, dessen hoffnungslose Situation wir für uns überwinden müssen. Weder die einseitige Verdammung noch die einseitige Preisung war in diesem Fall richtig, sondern die Einordnung. [...] Dasselbe gilt für die Verkennung der Stücke von Friedrich Wolf und Günther Weissenborn. Wir haben die Pflicht, diese Dichter zu spielen, sie richtig zu spielen und einzuordnen. Wenn im Falle Borchert das Weltflüchtig-Dichterische überschätzt wurde, das heißt, gerade die Ekstatik des Ausweglosen, so wird bei Friedrich Wolf oft die direkte, nüchterne, absichtlich undichterische Sprache unterschätzt."
Es ist keine unzulässige Übertragung, zu fragen, ob nicht auch für die Hörspielgeschichtsschreibung gilt, daß sie "im Falle Borchert das Weltflüchtig-Dichterische, [...] die Ekstatik des Ausweglosen" über- und die "ordentlich gebauten, die handfesten Zeitstücke ohne literarischen Ehrgeiz" aus dem Jahre 1946 ebenso unterschätzt hat wie die Spiele der Kaschnitz' und Frischs.

Zwar wird, wenn auch in anderem Zusammenhang, Kaschnitz' "Totentanz" wenigstens erwähnt als

"immerhin originales, aber heute fast unlesbares Vershörspiel" (Schwitzke),
aber dann wäre auch darauf hinzuweisen gewesen, daß in der direkten Nachkriegszeit der die Sprache ordnende Einsatz des Verses bei viele Autoren bewußte Formsetzung gegen eine aus den Fugen geratene Zeit war. Wobei im Falle des Kaschnitz-Hörspiels zusätzlich die Datierungsfrage mit zu bedenken ist. Denn sehr wahrscheinlich enstanden die Blankverse bereits 1944, also noch vor Kriegsende.

Nirgends in der Literatur über das Nachkriegshörspiel wird dagegen Frischs "Versuch eines Requiems", "Nun singen sie wieder", erwähnt. Das ist umso erstaunlicher, als dieses Spiel mit seinen zwei Ebenen, der Kriegswirklichkeit und einer Art Totenreich, dem Hörspiel ebenso entgegenkam wie der Kunstgriff seines Verfassers, die Brutalität des Krieges - es geht vor allem um Geiselerschießung - nicht direkt darzustellen, vielmehr "in das Bewußtsein von Einzelpersonen" zu projizieren, im Bewußtsein der Spielfiguren zu spiegeln. Von hier aus gesehen wäre ein Nebeneinander von Hörspiel- und Theaterfassung ähnlich wie bei "Herr Biedermann und die Brandstifter" durchaus vorstellbar. Manfred Durzak hat in einer Analyse aufgezeigt, daß Frischs Kunstgriff etwas erreichen solle, das man "als  Verwesentlichung der Thematik bezeichnen", aber "auch im negativen Sinne als Verinnerlichung deuten" könne,

"da die politisch-historischen Dimensionen, die den Krieg im zeitgenössischen Kontext exakt definieren, von Frisch ästhetisch überspielt werden, indem er seine Perspektive auf den Bewußtseinshorizont der einzelnen Personen beschränkt und sie damit künstlich in eine Entscheidungssituation hineindrängt, die ihrer faktischen Situation im Kriegsgeschehen zumeist kaum entspricht."
Allerdings ist eine solche Einschätzung erst aus historischem Abstand möglich. Sie kann also nicht der Grund sein, warum Frischs "Versuch eines Requiems", der 1947 noch einmal wiederholt wurde und auf dem Theater, ja sogar im Fernsehen recht erfolgreich war, als Hörspiel wenig Anklang fand. Die wenigen Hinweise in den Hörerbriefen lassen ablesen, daß man Frisch "seitens der deutschen Öffentlichkeit das Ausmaß" seiner "Anklage" verübelte, daß man ihm fehlende persönliche Kriegserfahrung vorhielt und nicht zugestehen wollte, daß der Krieg auch ihn, den Schweizer, etwas anging, der als vom Krieg noch einmal Verschonter "die selten gewordene Freiheit" hatte, "gerecht zu bleiben". Als "gerecht" empfanden das Hörspiel jedenfalls weder der Schreiber des Hörerbriefes noch jener "junge Obergefreite, der vor Stalingrad" war und mit dessen Vorwürfen sich Frisch in seinem "Tagebuch" auseinandersetzt.

Ganz anders könnte derselbe "junge Obergefreite" auf Borcherts "Draußen vor der Tür" geantwortet haben:

"Vater und Mutter habe ich verloren. Es war Krieg. Und ich war Soldat. Als ich zurückkam, waren sie tot. Begraben von fremden Menschen. Ich habe nicht geweint. Ich habe es nicht einmal als Schmerz empfunden. Es war eben so. Alles war Tot, zertrüümert, heimatlos. Wir hatten zuviel gelitten, um noch Schmerz zu empfinden. Wir - die Generation ohne Abschied. O - wie liebe ich diese Worte. Mit diesen Worten ist mir Wolfgang zum Bruder geworden."
So oder ähnlich klangen die zahlreichen "brüderlichen Schreie als Echo des Borchertschreis" (Schwitzke):
"Daß ich plötzlich erschrak und wußte - Du bist nicht allein. Da ist ein Mensch. Ein Mensch, der spricht wie du. Der denkt wie du. Der leidet wie du. Ein Mensch. Das hat mich froh gemacht, das hat mir Kraft gegeben."
Beide Zuschriften zeigen, in welchem Maße Borcherts "Draussen vor der Tür" als Identifikationsangebot verstanden und angenommen wurde, zu [einer] Stunde, da es am meisten benötigt wurde, zur Stunde Null. Der richtige Augenblick und die Aufrichtigkeit der Erfahrung standen für die Wirkung ein; und so wurde das Angebot angenommen, und all die vielen, welche ihre Erfahrungen in denen Beckmanns wiederfanden, erkannten sich in ihm.

Walter Killy hat 1972 in der Sendereihe "Hörspielretrospektive / Hörspielanalyse" des Norddeutschen Rundfunks aus dem historischen Abstand von 25 Jahren den Versuch unternommen, der Wirkung des Stückes auf die Zeitgenossen, seiner langanhaltenden Wirkungsdauer kritisch auf die Spur zu kommen. Und er kam dabei zu dem verblüffenden Ergebnis, daß diese Wirkung - überspitzt formuliert - gerade in der Unvollkommenheit, in den dichterischen Mängeln des Stückes begründet liege.

Da wäre zunächst mißverstandenes, vereinfachtes Welttheater, der allegorische Charakter des Personals: "der alte MANN, an den keiner mehr glaubt" gleich Gott, "der BEERDIGUNGSUNTERNEHMER mit dem Schluckauf" gleich Tod, "die ELBE", die Beckmann wieder an Land wirft, gleich Leben, "der ANDERE, den jeder kennt", gleich Beckmanns Alter ego. Aber, schreibt Killy,

"zwischen ihnen und ihren Vorbildern, von der mittelalterlichen Allegorie bis zu Hofmannsthals "Großem Welttheater", besteht ein wesentlicher Unterschied. Sie sind nicht deutbar, man kann sie kaum interpretieren, sie tragen ihre Bedeutung selbst vor, plakat- und spruchbandartig. Man kann sie unbedacht übernehmen, denn sie ist hinlänglich vereinfacht."
Zu dieser vereinfachten Bedeutung und "Deutlichkeit der allegorischen Figuren" tritt zweitens eine überdeutliche Symbolsprache, das überdeutliche Symbol "der nirgendhinführenden Straße" oder "der Tür, die sich verschließt und Beckmann draußen läßt". "Stehen wir nicht alle", fragt es Borchert in einem Brief, "'vor der Tür'? Geistig, seelisch, beruflich?"

Stilistisch knüpft Borchert "bei der vorigen oder vorvorigen Generation" an, bei den Expressionisten, bei Rilke und anderen. Auch der stilisierte Gebrauch der Umgangssprache ist, wie Killy festhält, "dem Stil, nicht der Sache nach" "Hauptmannscher Realismus". Mit anderen Worten: Borchert benutzt in seinem Stück eine literarische Sprache, Stillagen, die dem Publikum vertraut waren.

Alle Stationen des Beckmannschen "Leidensweges" haben dabei eine wirkungsintensivierende "gleiche Grundstruktur":

"bestimmt von der erregten Hoffnung verkehren sie sich in die erlebte Enttäuschung und lassen den passiven Helden immer wieder vor der Tür, allein mit sich und seinen Fragen."
Aber diese Fragen treiben nicht weiter, führen die Handlung nicht in eine Argumentation. Sie drängen vielmehr ins Allgemeine. Sie formulieren Emotionen und rufen Emotionen hervor:
"In immer erneutem Anlauf werden Erregungszustände unterhalten - weshalb auch die lyrische Reihung immer wiederkehrt."
Zu Recht hat Killy darauf verwiesen, daß dieser ständige "Wechsel zwischen Realität und Lyrik" "mehr [sei] als ein stilistischer Wechsel":
"Jede Szene, die mit der Realität konfrontiert, führt nicht zu realistischer Handlung, sondern wird kurzgeschlossen zur weltanschaulichen Grundfrage."
Aber Borchert verwehrt seinem Beckmann die Antwort. "Beckmann", schreibt er in einem Brief vom 27.1.1947,
"Beckmann [...] schreit nach Antwort! Er fragt nach Gott! Er fragt nach der Liebe! Er fragt nach dem Nebenmann! Er fragt nach dem Sinn des Lebens auf dieser Welt! Und er bekommt keine Antwort. Es gibt keine. Das Leben selbst ist die Antwort. Oder wissen Sie eine?"
Fixiert auf Kriegsende und Zusammenbruch, begnügten sich Borchert und sein Publikum mit der Frage statt der Antwort, nahmen sie, wie Killy formuliert,
"das Versprechen für die Einlösung, das bloße Stellen der Frage als Antwort. Dem kam entgegen, was uns heute als Mangel des Hörspiels erscheint: die Tatsache, daß es nur Emotion hervorruft und nicht Reflexion. Eben diese Tatsache war eine Ursache des unvermittelten Erfolges. [...] Alles liegt an der Oberfläche und ist schon ausgesprochen, alles ist schon allegorisiert oder plakatiert, alles hat den Anschein von Bedeutung, ohne doch bedeutend zu sein. Das sind Bedingungen, die in einem schlechten Deutschunterricht verkannt werden und dazu verleiten, die Erbübel deutscher Literaturbetrachtung, deutschen Literaturgenusses zu exerzieren: Ergriffenheit statt Bedenken, Mitleid statt Geistestätigkeit, Stimmung als Philosophie. Die guten Gesinnungen des Stückes gehen gar zu leicht in die Annahme über, es handle sich um ein durchaus gutes Stück."


WDR 15.3.1976 (VGTHL 27)

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