Reinhard Döhl  | Das Hörspiel der 50er Jahre

Zitat

"...immer an der Wand lang.
Mit dem Touch der 'goldenen 50er Jahre'.
Ein tolles Kleid, das action bringt.
Wer's nostalgisch mag, findet dieses Kleid 'Spitze'.
In schmaler Silhouette mit betonten Schultern,
ganz im Stil, wie man es damals trug."

Autor

Mit solchen Sätzen warb, gewiß nicht ohne Erfolg, Anfang des Jahres ein großes westdeutsches Kaufhaus für seine Sommermode. Und die Schuhindustrie sekundierte mit einem "Hauch von Schuh". Es läßt sich nicht mehr verheimlichen: die 50er Jahre sind in. Oldies schnulzen durch die Hitparaden. Wolfgang Menge mit seinem, wie die ZEIT schrieb: "untrüglichen Instinkt für Trends und Moden" sorgte mit dem von Ulrich Schamoni gefällig inszenierten Fernsehfeature "Was wären wir ohne uns" für hohe Einschaltquoten. Zur "cleveren Nostalgieschau" (Die ZEIT) lassen Neuauflagen nachlesen, was damals gedichtet wurde. Und wie man malte, davon konnte man sich in Wuppertal und Hamburg unlängst sein Bild machen. Eine restaurative Zeit besichtigt ein restauratives Jahrzehnt, eine leicht verstörte Wachstumsgesellschaft schwelgt und stärkt sich in der Erinnerung an ihre Gründerjahre. Die frühe Adenauerära - konstatiert Bazon Brock den Tatbestand - ist "mythenfähig" geworden.

Dies sei ein wenig polemisch vorweggeschickt, um anzudeuten, was die folgende Lektion über das Hörspiel der 50er Jahre nicht sein will: Repertoire-Reprise, eine Anthologie zum Träumen aus der Hoch-Zeit deutscher Hörspielgeschichte.

Wie komplex und differenziert die Hörspiele dieses Zeitraums zu nehmen sind, haben wir bereits in mehreren Sendungen über das Hörspielwerk einzelner Autoren aufzuzeigen versucht. Sendungen über Autoren, die in den 50er Jahren zu schreiben begannen, deren Hörspiele aber eigentlich erst das Programm der 60er Jahre mitbestimmen, werden diese Versuche fortsetzen. Zuvor möchte die heutige Lektion so etwas wie eine Zwischenbilanz geben, auf einzelne Aspekte aufmerksam machen, Thesen formulieren, Fragen stellen. Zum Beispiel: ob die heute noch populären, immer wieder einmal gesendeten Hörspiele der 50er Jahre wirklich repräsentativ genommen werden dürfen. Ob nicht historisch bedeutende Stücke und Autoren inzwischen von einem durch zahlreiche Wiederholungen eingespielten Repertoire zu Unrecht verdeckt werden. Fragen, die wir in einer künftigen Sendung noch einmal stellen wollen und mit Hilfe beteiligter Regisseure und Dramaturgen zu beantworten hoffen.

Eine der Aufgaben, die sich die Hörspieldramaturgien schon bald nach dem Kriege stellten, war der Versuch, eine durch den Nationalsozialismus verschüttete Hörspielgeschichte wieder freizulegen. Hier begann Gerhard Prager 1949 in Stuttgart bereits recht früh mit der Reihe "Pioniere des Hörspiels", der Heinz Schwitzke 1959 in Hamburg mit den Reihen "Aus der Frühzeit des Hörspiels", bzw. "Frühe Hörspiele" (1962) folgte. Auch Ulrich Lauterbach bemühte sich in Frankfurt - zum Teil mit Neuaufnahmen unter historischen Bedingungen - erfolgreich um die Durchforstung der frühen Hörspielgeschichte. Und daß hier neben Manuskriptfunden auch heute noch Überraschungen möglich sind, bewies erst kürzlich das Wiederauftauchen des im Tri-Ergon-Verfahren aufgezeichneten, hörspielgeschichtlich wichtigen "Weekend" Walter Ruttmanns, seine kommentierte Aufführung durch Hansjörg Schmitthenner.

Aber nicht nur alte Hörspiele wurden wieder aufgeführt, neu inszeniert. Geht man die Rundfunkprogramme Ende der 40er / Anfang der 50er Jahre nach Autoren durch, die schon vor 1939 Rundfunkerfahrung gesammelt, Hörspiele geschrieben haben, so ist ihre Zahl weitaus größer als man zunächst annehmen möchte. Schon von daher ist die These, man habe nach 1945 gleichsam noch einmal bei Null beginnen müssen, kaum zu halten.

Auf die Gefahr hin, durch das Aufzählen von Namen ein wenig zu langweilen, sei deshalb einmal ein erster Bestand aufgenommen. Daß Günter Eich, Wolfgang Weyrauch, Fred von Hoerschelmann schon am Weimarer Rundfunk mitgearbeitet und von dort her Erfahrungen in das Nachkriegshörspiel eingebracht hatten, haben wir in früheren Sendungen schon ausgeführt. Ihnen gesellen sich, oft schon vor 1950, Walter Erich Schäfer, Walter Bauer, Josef Martin Bauer, Felix Gasbarra, Hans Rothe, Otto Rombach, Günter Weisenborn. Eduard Reinacher, Verfasser des härspielgeschichtlich so bedeutenden "Der Narr mit der Hacke", ist nach 1950 einmal im Programm vertreten, ebenso Ernst Johannsen und Erich Ebermeyer mit einer Hörspielbearbeitung von Saint-Exupérys "Nachtflug". Von Ernst Glaeser, mit Weyrauch Verfasser des Hörspiels "Anabasis", finden sich Funkerzählungen im Programm. Von Kurt Heynicke, der das nationalsozialistische Hör- und Thingspiel mit "Neurode" und "Der Weg ins Reich" beliefert hatte, stammen mehrere Funkkomödien. Hermann Roßmann, von dem das Deutsche Rundfunkarchiv zwei Tondokumente aus den Jahren vor 1933 aufbewahrt, ist zwischen 1946 und 1957 mit rund zehn neuen Hörspielen vertreten Und Oskar Wessel, der schon vor 1933 auch den Hörern des Westdeutschen Rundfunks als Autor bekannt war. So meldete er sich bereits 1948 mit einem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen "Hiroshima-Hörspiel zu Wort.

Einspielung
Oskar Wessel: "Hiroshima"

Autor

Der religiöse Aspekt, der in dieser letzten Frage unüberhörbar ist, ist kein Zu- und Einzelfall im Hörspiel zumindest der frühen 50er Jahre. In den unterschiedlichsten Ausformungen, unter den verschiedensten Voraussetzungen begegnen wir ihm bis etwa zu Günter Eichs "Festianus Märtyrer" von 1958. Am 26. Oktober 1949 hatte der Süddeutsche Rundfunk zu einer Arbeitstagung "Glaube und Gegenwart" eingeladen, der eine Hörspielreihe gleichen Titels folgte.

(Ihre einzelnen Beiträge, u. a. Wickerts "Lot und Lots Weib", Walter Bauers "War Christus überall" sind exemparische Beispiele jenes Typs eines "religiösen Hörspiels, dem Heinz Schwitzke in seine "Dramaturgie und Geschichte des Hörspiels ein ganzes Kapitel einräumt, in dem Hörspiele der Marie Luise Kaschnitz ("Der Zöllner Matthäus", "Tobias oder das Ende der Angst") eine nicht unbedeutende Rolle spielen, in das möglicherweise Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan" als säkularisiertes Beispiel noch eingetragen werden müßte.)

Derartige Hörspielreihen - das sei hier wenigstens angemerkt - sind für das Hörspiel der 50er Jahre besonders typisch, die gewählten Reihentitel signalisieren spezifische Interessen und Programmschwerpunkte: "Der Krieg in Rückschau und Gleichnis" oder "Recht und Gerechtigkeit" oder "Die Bedrohung des Menschen im totaliären Staat" oder "Der junge Mensch in unserer Zeit" sind diese Reihen überschrieben, aber auch "Unter falscher Flagge. Von Spioninnen und Spionen". Und bereits 1959 zieht man "Aus dem Hörspielrepertoire 1949/1959" Bilanz. Der Pressetext des Süddeutschen Rundfunks zur einleitenden Sendung lautete:

Zitat

"Das Hörspiel hat im Laufe von anderthalb Jahrzehnten eine Entwicklung erfahren, die es erlaubt, in ihm ein besonderes und eigenartiges Medium zur Erfassung unserer modernen Wirklichkeit zu sehen. Seine Fähigkeit, differenzierte Gedanken- und Gefühlswelten aufzuschließen, verdankt es vor allem der eindringlichen Wirkung, die von der menschlichen Stimme ausgeht. Stimmen und Gestalten als Träger eines inneren Geschehens sollen daher auch im Mittelpunkt einer Sendung stehen, die - rückschauend auf Gelungenes und Erreichtes - die Bilanz einer vierzehnjährigen Hörspielarbeit zieht."

In dieser Reihe begegnet als Co-Autor auch Christian Bock, der mit über 50 Hörspielen zu den meistgespielten HörspielAutoren avancierte, heute aber - nicht nur wegen seines Stellenwertes in der Hörspiellandschaft der 50er Jahre - zu Unrecht kaum noch bekannt ist. Er war nicht nur, z.T. in Zusammenarbeit mit Herbert Reinecker, ein guter Handwerker des unterhaltenden Hörspiels mit durchaus kritischen Untertönen ("Der Teufel fährt in der 3. Klasse"), er setzte bereits in einem seiner Hörspiele Originalton ein, war erfindungsreich und lieferte mit "Vier Jahre und ein Tag" ein noch heute diskutables Heimkehrerstück. Mit den Stücken "Nachtgespräche" (1951) und "Ein Haus hat viele Türen" (1959) schrieb er gleichsam das fiktive Pendant zu Ernst Schnabels "Der 29. Januar" (1947) und "Ein Tag wie morgen" (1950).

Heute nur noch als Verfasser des unterhaltsamen "Ich denke oft an Piroschka" (1951) bekannt, schrieb auch Hugo Hartung in den 50er Jahren Hörspiele, darunter das nicht uninteressante "Kurierauftrag nach Breslau" (1953), deren Kontext dem Erinnerungsspiel um Piroschka durchaus einen ernsten Nebenaspekt gibt. Wie bei Bock und Hartung ist heute völlig vergessen, daß auch Heinz Oskar Wuttig schon Rundfunkerfahrung gesammelt hat.

Zur Hörspiellandschaft gehören neben den genannten und neuen, heute noch bekannten Autoren eine Reihe von Hörspielhandwerkern, die den Rundfunk mit der notwendigen Menge von Gebrauchshörspielen ernster und heiterer Art belieferten, 'Hörspieldichter' wie die Schweizer Peter Lotar, der vor allem den Westdeutschen Rundfunk, oder Walter Oberer, der vor allem den Süddeutschen Rundfunk mit zahlreichen Hörspielen versorgte, Ernst Wickert, der in den 50er Jahren nahezu zwanzig Hörspiele schrieb, 'Autorenfabriken' wie Walter Jensen und sein MitAutor Lutz Neuhaus, der mit realistisch-gesellschaftskritischen Hörspielen nicht nur quantitativ erfolgreiche Johannes Hendrich oder ein Autor wie Werner Jörg Lüdecke, der mit seinem Hörspiel "Unter der grünen Erde" gleichsam die Mitte zwischen Eichs "Die Mädchen aus Viterbo" und Billy Wilders 1951 abgedrehten Film "The Big Carnival" (Reporter des Satans) bezieht:

Zitat

"Sechs zufällig zusammengeworfene Menschen verirren sich in der Finsternis der Katakombengänge unter der grünen Erde Roms. Hier unten, unter dem unerbittlichen Griff der Dunkelheit und Angst, enthüllen sich... ihre Charaktere... Der großsprecherische Industrielle demaskiert sich als Feigling und Dieb, der Taschendieb erweist sich lediglich als ein Opfer seiner verworrenen, lieblosen Zeit, der Mörder als ein einfacher, rechtlich denkender, aber betrogener Bergbauer, die verheiratete Frau erkennt die Sinnlosigkeit ihrer Ehe, und das verunstaltete Kindermädchen findet die Kraft und innere Freiheit zu echter Liebe. Nur einer bleibt, der er war: der Blinde. Er, dem die Finsternis vertraut ist, fürchtet sie nicht, glaubt an die Rettung und hilft seinen Schicksalsgefährten durch Wort und Tat, die Stunde der Rettung... soweit es ihnen erlaubt ist... zu erleben. Werner Jörg Lüddecke hat dieses Erleben und Erleiden, Lügen und Bekennen, Kämpfen und Verzweifeln der sechs Menschen in der Finsternis unter der grünen Erde mit knapper, eindringlicher Sprache gestaltet und die Erschütterung noch gesteigert, indem er die Wahrheit des unterirdischen Geschehens unerbittlich kontrastierte mit der kalten Verlogenheit des Sensationsrummels, den die Welt über der grünen Erde um diese sechs Menschen entfacht."

Autor

Die Liste der genannten Namen ist sicherlich nicht vollständig, der zitierte Hörspielinhalt nicht repräsentativ für einen Hörspieldurchschnitt der 50er Jahre. Sie sind dennoch ausreichend, eine Hörspielbreite anzudeuten, von der sich aus unterschiedlichsten Gründen die auch heute immer wieder einmal gesendeten rund 20 Repertoirestücke abheben, aus denen der heutige Hörer wesentlich seine Kenntnis des Hörspiels der 50er Jahre gewinnt. Sie sind ferner ausreichend, anzudeuten, daß das, was immer wieder als Charakteristika des Hörspiels der 50er Jahre aufgezählt wird - Innerlichkeit, Erfahrung des Leids in der Konfrontation mit Grenzsituationen, eine gleichsam existentielle Wahrheitssuche - bereits in diesem Hörspieldurchschnitt nachweisbar ist.

Eine hörspielgeschichtlich interessante Gegenüberstellung ermöglichen die beiden damals gesendeten Lukullus-Spiele. 1949 brachte München Bertolt Brechts "Das Verhör des Lukullus" und stellte damit seinen Hörern in einer deutschen
Erstaufführung ein seltenes Exilhörspiel vor. 1940, während des Einmarsches der Hitlertruppen in Frankreich von Radio Beromünster gesendet, war dieses Hörspiel Warnung vor falschem Heldentum und Antikriegsstück in einem. In München noch in seiner ursprünglichen Fassung mit offenem Schluß gesendet, mußte das Hörspiel nach Krieg und Nürnberger Prozessen für den deutschen Hörer einen besonderen Reiz haben.

Einspielung
Bertolt Brecht: "Das Verhör des Lukullus"

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Aber nicht dieses Hörspiel wurde populär, vielmehr ein schon im Theater des Dritten Reiches erfolgreiches Theaterstück, Hans Hömbergs "Kirschen für Rom" (1953). Für Gründgens-Fans ein Rarissimum - Gustav Gründgens spricht hier nach "Hans Sonnenstößers Höllenfahrt" (1937) als Lukullus seine zweite Hörspielrolle. "Kirschen für Rom" schildert die Entmachtung des Feldherrn Lukullus durch den Militär Pompejus, seine Rückkehr nach Rom, seinen Verzicht auf Erfolg und Liebe und seine schließliche Bescheidung.

Einspielung
Hömberg/Huber: "Kirschen für Rom"

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Bereits dieser Schluß zeigt im Vergleich mit Brecht, in welchem Umfang wir es hier mit literarischer Verdrängung zu tun haben. Aber die Sache ist komplizierter, als sie das erhaltene Tondokument abhören läßt. Das für den Rundfunk von Heinz Huber bearbeitete Manuskript weist eine Vielzahl historischer und zeitgeschichtlicher Anspielungen auf, die in der Produktion fehlen. Einige Beispiele: So hatte der Bearbeiter in historischem Rückblick durchaus nicht unironisch die "tapfere kleine Soldatenfrau" eingefügt, "Geheime Kommandosachen - Gekados", die "Heeresverpflegungsvorschrift", die "Schwächung der Heimatfront", "Kübelwagen" und "Schlangenfraß", spricht er von "Umerziehung" und davon, "wie man die minderwertigen Subjekte liquidiert". Dies alles wurde außer in den Intermezzi von der Regie entweder historisch korrekt verbessert - aus "Sprenggranaten" wurden wieder "Römerspeere" - oder gestrichen, ebenso wie die Zeitanzüglichkeiten des Bearbeiters, als da wären Milchbars, Mixgetränke, Düsenjäger, Chanel, oder die schnoddrige Bemerkung eines Küchenjungen:

Zitat

"Wenn die Atome erst einmal statt kalter Superbomben den heißen Busen der Liebe sprengen werden".

Autor

Die Absicht des Bearbeiters ist offensichtlich. Die eingefügten sprachlichen Fremdkörper sollten den gedankenlosen Konsum dieser Funkkomödie verhindern, sie sollten den Hörer sprachlich auf eine Vergangenheit zurückverweisen, deren kriegerischer Größenwahn und falsches Heldentum bereits in Vergessenheit zu geraten drohten. Und sie sollten den Hörer sprachlich zugleich an seine Gegenwart erinnern, eine Gegenwart, in der die Bundesrepublik auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges begann, wieder aufzurüsten. Es ist hier nicht der Ort, zu diskutieren, ob die Bearbeitung von Heinz Huber die Lustpielvorlage für den Hörer verbindlicher gemacht hätte. Sicher ist, daß die Eingriffe der Regie die Absichten des Bearbeiters ins Unverbindliche zurückgestrichen haben.

Gleichnishaftes, die bei Brecht entlehnte aber falsch verstandene Parabelstruktur: das vorherrschende dramaturgische Gesetz: an Einzelschicksalen ein Stück Geschichte oder Zeitgeschichte zu exemplifizieren, machen - so will es jedenfalls scheinen - das Hörspiel als Instrument der Zeitkritik unscharf.

Aus dem Jahr 1955 stammt Leopold Ahlsens preisgekröntes Hörspiel "Philemon und Baucis", das in einer beliebten Anlehnung an eine klassische Figurenkonstellation ein griechisches Bauernpaar vorführt, das, im Partisanenkrieg zwischen deutschen Besatzungstruppen und griechischen Partisanen, zwischen alle Fronten gerät in dem vergeblichen Versuch, das menschliche Gesetz der Gastfreundschaft aufrecht zu erhalten. Nicht der tragische Tod von Marulja und Nicolaos erhellt das Unmenschliche des Krieges, die Unmenschlichkeit des Krieges konturiert vielmehr das private Schicksal, den Philemon-und-Baucis-Tod der beiden Alten, demonstriert den Wert menschlicher Liebe über den Tod hinaus. Wenn der Partisan Alexandros schließlich desertiert, um die verwitwete Schwiegertochter der beiden zu heiraten, geschieht dies nicht aus Einsicht in die brutalen Mechanismen des Krieges, sondern unter dem Eindruck eines "Herz zerreißenden" Todes. Seine Ehe mit Alka wird die Ehe der beiden Alten fortsetzen, ihre Geschichte weiterschreiben bei praktisch nicht veränderten äußeren Bedingungen.

Einspielung
Ahlsen: "Philemon und Baucis"

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Keine der durchgesehenen Kritiken fragte danach, wieweit sich etwa die Wiederaufrüstungsdebatte, ihre öffentliche Diskussion in diesem Hörspiel spiegelt. Rückwärts blickend besorgt sich lediglich die Funk-Korrespondenz:

Zitat

"ob es angebracht sei, solch ein Thema - das leicht alte Wunden aufreißt - den deutschen Hörern zu präsentieren".

Autor

Um so einheitlicher wird der Stoff als "ideal für ein Hörspiel", seine Gestaltung als "knappes Meisterstück" gespriesen, lobt die Rundfunkzeitschrift "Gong":

Zitat

"Ein ergreifendes Spiel um einen tragischen Konflikt, zeitlos und doch zeitbezogen: ein Aufruf, zwischen allen Fronten der Macht und der Gewalt das Recht auf Menschlichkeit zu behaupten."

Autor

Eine solche Reaktion stimmt nachdenklich, läßt rückblickend fragen, ob die in den 50er Jahren recht beliebte Anlehnung an klassische Figurenkonstellationen oder Vorlagen es dem Hörer nicht zu leicht machte, ihn vom konkreten Problem weg und ins Allgemeine führte. Friedrich Dürrenmatts Exkurs nach Abdera, sein "Prozeß um des Esels Schatten" war hintergründig Parabel des Kalten Krieges mit seiner, wie es heißt, "schlimmstmöglichen Wendung". Aber wurde er wirklich so gehört? Bot die klassische Vorlage derartiger Hörspiele, der Versuch, gleichsam durch Anspielung auf Weltliteratur dem Realen der Gegenwart einen übergreifenden Sinn zu verleihen, dem Hörer nicht zugleich einen Ausweg aus seiner Realität? Es sollte in diesem Zusammenhang einmal gefragt werden, ob die nur schwer verständliche Theatersequenz in Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan" im Kontext des Spiels nicht genau dieses Dilemma zwischen Ästhetik und Wirklichkeit anzielt:

Einspielung
Bachmann: "Der gute Gott von Manhattan"

Autor

Politisch aufregend, trotz der Hörspielreihen wie "Die Vergangenheit ist noch nicht beendet" oder "Selbstportrait der Zeit" (1957, bzw. 1960) wurde es in der Hörspiellandschaft der 50er Jahre selbst im sogenannten zeitkritischen Hörspiel eigentlich nie. Das belegt auch die 1962 von Hansjörg Schmitthenner vorgelegte Auswahl "16 deutsche Hörspiele", die u. a. "ein Spiegel zweier Jahrzehnte deutscher Geschichte sein" wollte,

Zitat

"ein Spiegel, in dem sich schon Millionen von Hörern wiedererkennen, prüfen und klären konnten. Wer die in diesem Band gesammelten Hörspiele liest, wird erkennen, daß es sich bei dem deutschen Zeithörspiel, von dem hier die Rede ist, nicht um Tendenz- oder Thesenstücke handelt, sondern um echte Literatur, die über Phrasen, Programme und Alltagsprobleme hinweg auf das innere Wesen des Menschen zielt, dorthin, wo erlebt, gedacht und entschieden wird, auf jenes Humanum, aus dem allein eine neue Welt ihren Ursprung nehmen könnte."

Autor

Der zeitgebundenen, zeitbezogenen Thematik nahmen sich die Feature-Redaktionen an. Zeitgeschichtliche und politische Themen diskutierten in der Folgezeit zum Beispiel Alfred Anderschs' Indochina-Feature "Die Bürde des weißen Mannes" (1954), Peter Adlers "Die Vergessenen" (1956) oder Ernst Schnabels "Anne Frank - Spur eines Kindes" (1958). Große Wellen schlug, gerichtliche Folgen hatte Erich Kubys "Nur noch rauchende Trümmer - Das Ende der Festung Brest" (1954).

Dagegen kam das Zeithörspiel - womit nichts über seine ästhetische Qualität gesagt ist, nur in Ansätzen über die unverbindliche Parabel hinaus, begegnen, wie im Falle der deutschen Wiederaufrüstung, auch andere Themen der damaligen Jahre: Atombombe und Koreakrieg, poetisch verschlüsselt. Als poetisch-moralischer Appell z.B. schon 1951 in Eichs "Träumen", im Anschluß an die erste Sequenz:

Zitat

"Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen jedermann beweisen wird, daß er unschuldig war.
Denke daran: Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, aber in deinem Herzen.
Denke daran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen, das sich fern von dir abspielt."

Autor

Es geht uns hier um keine Interpretation dieser komplizierten Verse. Sie sind logisch ebenso wenig aufzulösen wie die Gedichtzeilen

Zitat

"Alle wissen,
daß Mexiko ein erfundenes Land ist".

Autor

Eichs Verse können vielmehr als poetische Formel die Überschrift für eine Vielzahl von Hörspielen abgeben, die damals auf den Bombenabwurf auf Hiroshima, auf Atom- und Wasserstoffbombentests, auf die öffentliche Diskussion um die Atombombe und auf den Koreakrieg, die durch sie ausgelösten Ängste albtraumhaft reagierten, wobei sie emotionale Darstellung oft mit politisch-moralischen Appellen abschlossen. Wie sehr die Autoren andererseits - wohl auch aus Einsicht in die politische Ungenügsamkeit und Ohnmacht ihrer Spiele - auf sie angewiesen waren, sie als Nutzanwendung ihrer Spiele verstanden und wollten, belegen die berühmten und vielzitierten Schlußverse der "Träume", die im erhaltenen ursprünglichen Manuskript noch fehlen:

Zitat

"Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben, für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!"

Autor

Um nicht mißverstanden zu werden: die meisten Autoren der 50er Jahre wollten keine politischen Autoren sein, versuchten sehr wohl aber den indirekten politischen Appell. Wie sehr sie eine direkte Aussage vermieden, läßt sich ebenfalls mit den "Träumen" belegen, in deren späterer Fassung ein Gedicht folgenden zunächst einleitenden Sprechertext ersetzt:

Zitat

"Am ersten Juni 1949 wurde in Dortmund ein Kind mit zwei Köpfen und drei Armen geboren. Bei diesem Anlaß wurde die Behauptung aufgestellt, die Mißgeburten bei Menschen und Tieren hätten seit den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und
Nagasaki und seit dem Atomversuch von Bikini zugenommen. Der zuständige Standesbeamte hatte indessen lediglich die allerdings schwierige Frage zu entscheiden, ob eine oder zwei Geburten zu registrieren waren.

Der Atomversuch von Bikini fand am 18. August 1947 statt. Die Atombombe wurde unter Wasser zur Explosion gebracht. Es war bei Beginn des Versuchs nicht bekannt, wieweit sich die Kettenreaktion fortpflanzen würde. Es wird in Zukunft die Aufgabe der Wissenschaft sein, experimentell festzustellen, unter welchen Umständen jegliches Leben auf der Erde unmöglich und damit die Wissenschaft überflüssig wird.

Die Atombombe verhält sich zur Wasserstoffbombe wie eine Steinschleuder zu einem modernen Flakgeschütz. Ächtet deshalb die Atombombe.

Im Handbuch für Stabsoffiziere, Ausgabe 1980, werden Sie folgende Sätze lesen: 'Der Abwurf von Bazillen über feindlichem Gebiet ist eine veraltete Kriegsmaßnahme. Sie ist nicht wirkungslos, kann aber nicht als kriegsentscheidend angesehen werden'."

Autor

Wie der Hörer auf derartige Albträume reagierte, erfuhr der Nordwestdeutsche Rundfunk in Anschluß an die Erstsendung des Eichschen Hörspiels 1951. Eine Flut von "empörten und beleidigten Höreranrufen" wurde damals auf Band mitgeschnitten und liefert die soziologisch interessante Begleitmusik zur "Geburtsstunde des Hörspiels". In ihr wie in einer das Hörspiel in Mehrheit ablehnenden Hörerpost, im Zerbrechen einer jahrelangen vorherrschenden "Solidarität zwischen Hörern und Rundfunk" sieht Heinz Schwitzke rückblickend den Beginn einer "Literatur und entsprechend des Hörspiels", "die in hohem Maße dem Publikum zuwider..., in Auseinandersetzung mit ihm" geschieht.

Einspielung
Höreranrufe zu "Träume"

Autor

Nimmt man die Höreranrufe, die Hörerpost alles in allem, ließe sich die Schwitzkesche Begründung der "Geburtsstunde" des Hörspiels vielleicht noch in eine Richtung präzisieren, die zugleich eine Teilantwort auf das Dilemma des Zeithörspiels, aber auch des "literarischen Hörspiels" der 50er Jahre geben könnte. Angesichts der diesen Höreranrufen, diesen Hörerzuschriften in ihrer Mehrheit zu entnehmenden bereits tief greifenden Verdrängungsmechanismen ließe sich fragen, wieweit hier Hörererwartung eine Hörspielproduktion, wenigstens indirekt, beeinflußt hat, wieweit eine immer stärker aufs Allgemeine zielende Poetisierung möglicherweise auch einen öffentlichen Verdrängungsprozeß spiegelt. Immerhin nahmen die Rundfunkanstalten auf das Publikum soweit Rücksicht, daß man die Hörspiele zeitlich richtig zu plazieren versuchte. So führt Fritz Eberhard in "Der Rundfunkhörer und sein Programm" (1962) zu den Hörspielterminen des Süddeutschen Rundfunks, einem Mittwochabend- und einem Sonntagnachmittag-Termin (übrigens schon seit 1946) aus:

Zitat

"Die Wahl von zwei so verschiedenen Hörspielterminen, wie es Sonntagnachmittag und Mittwochabend sind, kommt den verschiedenen Wünschen der Hörspielfreunde offensichtlich entgegen."

Autor

Das Buch Eberhards, das all denen zu empfehlen ist, die sich für die 50er Jahre mit Zahlenmaterial versorgen wollen, verzeichnet ferner seit 1950 "im UKW-Programm" noch "an einem anderen Abend" einen weiteren Hörspieltermin, von der Zahl der Besitzer entsprechend ausgerüsteter Apparate her gerechnet, zunächst für eine Minderheit. Hinzu kam, ebenfalls nach 1950, ein mit 23 Uhr, später 22 Uhr sehr spät liegender Funkstudiotermin, zu dem die damalige Dramaturgie Hörspiele plazieren konnte, die sie dem durchschnittlichen Hörspielhörer noch nicht glaubte zumuten zu können.

Im "Funkstudio" wurden zum Beispiel zum ersten Mal - mit Rücksicht auf die unübliche Form - Otto Heinrich Kühners "Übungspatrone" gesendet, ferner Wolfgang Weyrauchs 'Ballade' "Die Minute des Negers", Martin Walsers erste Hörspiele. Die jeweiligen Einleitungen machen deutlich, wie sehr man sich zuweilen um eine "ästhetische Erziehung" des Hörers bemühte. So in der Einleitung zu einem Walser-Hörspiel.

Einspielung
Einleitung zu "Draußen".

Autor

Vom Hörspielhörer und seinen Erwartungen handelt, wenigstens zu Teilen, ein Hörspiel Heinz Hubers, "Früher Schnee am Fluß" (1952), das in der Literatur als Reagenz auf den Koreakrieg gelegentlich noch zitiert wird. Auch Hubers Hörspiel kennt den Appell.

Einspielung
Heinz Huber: "Früher Schnee am Fluß"

Autor

Auch für Hubers Hörspiel gilt, daß menschlich-privates Schicksal sich vor das Zeitgeschehen (Koreakrieg) und seine weltpolitischen Implikationen drängt. Aber, und das haben Hubers Kritiker überhört: der Stoff ist authentisch, und: der Auftrag, den der Reporter des Hörspiels mit nach Korea nimmt, der ihn veranlaßt, die Geschichte einer Hinrichtung so zu erzählen, wie er sie erzählt, dieser Auftrag ist von seinem Vorgesetzten im Hinblick auf den Hörer, die "Familie Schneider" genau formuliert:

Einspielung
Heinz Huber: "Früher Schnee am Fluß"

Autor

Wenn man so will, kann man die Familie Schneider dieses Hörspiels durchaus gleichsetzen mit einem Großteil der Anrufer, die sich anläßlich der Eichschen "Träume" beim Nordwestdeutschen Rundfunk meldeten, thematisiert Hubers Hörspiel, in Gegenüberstellung eines angenommenen betroffenen und des in Wirklichkeit durch das Geschehen sich belästigt fühlenden Hörers, durchschnittliches Rundfunkpublikum und seine Reaktionen (ohne diese allerdings psychologisch zu hinterfragen).

Einspielung
DER MANN (mit vollem Mund): Junge mach mal das Radio leiser, oder such' etwas anderes, (schluckt hinunter) Musik oder so. Ich kann dieses ewige Gerede nicht mehr hören.

Autor

Was der Hörer erwartete, war zunächst und zu einem großen Teil Entspannungshilfe nach einem Arbeitstag, Ablenkung von seinen Alltagsproblemen oder doch wenigstens ihre Lösung für den Moment des Spiels. Sein belastetes Gewissen angesichts einer ausschließlich materiellen Wohlstandsentwicklung ließ die Erinnerung an ungelöste Probleme, an moralisches Versagen und Schuld nur in homöopathischen Dosen zu.

Es ist aus dem historischen Abstand eine nachdenklich stimmende Erfahrung, in alten Pressemitteilungen nachzulesen, wie von Autoren und Dramaturien versucht wurde, auf derartige Verdrängungen hinzuweisen, Versäumnisse aufzuzeigen, so 1953 anläßlich eines Hörspiels von Walter Kolbenhoff, "20 Paar Seidenstrümpfe".

Zitat

"Diese zwanzig Paar Seidenstrümpfe sind Anlaß einer ernsten, beinahe tragischen Geschichte, die in der verrückten, trostlosen Nachkriegszeit beginnt, in der Zeit der überfüllten Züge, des schwarzen Marktes, des Hungers. Und dies heute?

Mußte dies noch einmal heraufbeschworen werden? Ja, diese Geschichte mußte geschrieben werden, und sie mußte gesendet werden, gerade heute, da schon wieder zu viele Leute nur allzu bereit sind, zu vergessen, wie es damals war, die Not zu vergessen, aber auch die menschliche Hilfsbereitschaft, die Versuchungen zu vergessen, aber auch die großen Möglichkeiten, die wir alle in jener Zeit hatten - und meist versäumt haben.

Walter Kolbenhoffs Hörspiel erzählt von zwei Männern, die den Versuchungen jener Zeit erlegen sind, und davon, was aus diesen beiden Männern geworden ist, die damals genau die gleiche Chance hatten: Reichtum beim einen, Gefängnis beim anderen. Und es erhebt sich die Frage: Wer stellt die Weichen, die zu diesen Stationen führen. Die Antwort wird nicht gegeben, da sie niemand geben kann."

Autor

Die Verweigerung der Antwort, die Begründung, daß niemand sie geben könne, paßt eigentlich schon gar nicht mehr in die damalige Landschaft der Hörererwartung, ist aber ebenso wie Dürrenmatts Neigung, dem jeweiligen Geschehen seine
"schlimmstmögliche Wendung" zu geben, dem Hörer poetische Lösungen und mit ihnen die Möglichkeiten des Ausweichens zu verstellen, ihn auf seine eigene Verantwortung zu verweisen, ein wichtiger Aspekt des Hörspiels der frühen 50er Jahre.

Das vielleicht wichtigste Hörspiel dieser Art stammt von Eich und wurde 1950 vom Norddeutschen Rundfunk, 1952 noch einmal vom Südwestfunk gesendet: "Die gekaufte Prüfung".

Einspielung
Eich: "Die gekaufte Prüfung"

Autor

Eich wollte die Geschichte des Lehrers Dr. Wolburg, der sich vor der Währungsreform, um seine Familie vor dem Verhungern zu bewahren, von einem Schüler bestechen läßt und Prüfungshilfen gibt, dadurch aber in einen kaum lösbaren seelischen Konflikt gerät, Eich wollte die Geschichte dieses Lehrers für den Hörer offen lassen. Er sollte aus seiner Erfahrung das Ende der Geschichte selbst finden.

Dieses Vorhaben Eichs ist so interessant wie die Reaktion der Hamburger Hörspieldramaturgie, die drei Schlüsse zur Auswahl schreiben und senden ließ, für das Wechselverhältnis Hörererwartung-Dramaturgie bezeichnend erscheint.

Eine Aktivierung des Hörers zu eigener Entscheidung scheint kaum mehr möglich, allenfalls seine emotionale Erschütterung. Wie dies von der Seite derjenigen aussah, die seit 1951 den Hörspielpreis der Kriegsblinden zu vergeben hatten, von welchem Hörspielverständnis die Juroren ausgingen, formuliert l971 Friedrich Wilhelm Hymnen in einem Rückblick auf die damals 20jährige Geschichte dieses Preises:

Zitat

"Vor zwanzig Jahren war alles noch so klar und einfach. Da ließ sich noch ohne Zwist durch gemeinsames Abwägen der Juroren ermitteln, welches Hörspiel von den Ursendungen des vergangenen Jahres das 'beste' war, und in der Monatszeitschrift 'Der Kriegsblinde' war es zu lesen, als im Juli 1951 der Preis vorgestellt wurde: 'Wenn wir nach dem besten deutschen Hörspiel fragen, so meinen wir damit das gewinnreichste, also jenes Hörspiel, das uns noch lange nach der Sendung am tiefsten bewegt und das uns innerlich bereichert. Wir suchen also jenes Hörspiel, das vom Menschlichen her uns anredet und uns eine Hilfe gibt, mit dem Dasein besser fertig zu werden oder die Zusammenhänge und Aufgaben unseres eigenen Lebens besser zu verstehen.

Die 'Aussagekraft' müsse allerdings, so hieß es, mit künstlerischer Qualität verbunden sein, und aus diesem Grunde unterlag bei der ersten Jurysitzung ein Hörspiel von Waldemar Maas - weil 'dem Traktat zu nahe', wie damals in der Diskussion argumentiert wurde -, aber es unterlag zugleich auch Günter Eich mit seinem heute so berühmten Hörspiel "Träume", weil diese Visionen der Angst, wie es dann in der Kriegsblindenzeitschrift hieß, 'ohne ein Wort des Trostes oder des Auswegs gezeigt werden', und sich Eich 'aller helfenden Aussage entzieht'."

Autor

Ein Hörspiel mit "Ausweg" und "Aussage" setzt aber das Angebot identifizierbaren Geschehens, identifizierbarer Schicksale voraus, in dem sich private Perspektive der Hörer und Perspektive des Autors treffen können. Hier entspricht die Tendenz des Hörspiels nach 1950, historisch oder zeitgeschichtlich reales Geschehen als privates, in privatem Schicksal darzustellen recht eigentlich der Hörererwartung.

Auch die drei populärsten Hörspiele zum Schicksal der Juden unter Hitler (Eichs "Mädchen aus Viterbo", Hoerschelmanns "Die verschlossene Tür" und Walter Jens "Ahasver") bezogen ihre Wirkung und Popularität nicht zuletzt aus ihren Identifikationsangeboten. Zwar möchten wir Dedner nicht zustimmen, wenn er für "Die Mädchen aus Viterbo" festhält, Eich nähme "das Schicksal zweier auf die SS wartender Juden zum Vorwand, um über die rechte Haltung dem Tode gegenüber
Betrachtungen anzustellen", aber daß das Hörspiel mit seinen zwei Spielebenen dem Hörer diesen Ausweg ermöglicht, wenn er sich mit den Gedankenspielen Gabrieles und ihres Großvaters identifiziert, muß wohl konstatiert werden. Ähnlich verhält es sich mit Jens' "Ahasver", der Geschichte eines jüdischen Arztes, "der immer dann vor der SS fliehen muß, wenn er gerade glaubt, eine neue Heimat gefunden zu haben" (Dedner), um schließlich, nach Deutschland zurückgekehrt, feststellen zu müssen, daß er in seiner alten Heimat, bedingt durch das schlechte Gewissen seiner Nachbarn, nunmehr auch ein Fremder ist.

Jens nimmt 1956 diesem durchaus politischen Stoff seine Schärfe, wenn er das Einzelschicksal zur Geschichte des ewigen Juden (= Ahasver) stilisiert. Darüber hinaus liegen im Jahr der Erstsendung Flucht und Heimatverlust noch so deutlich im Erfahrungsbereich der Hörer, daß sich das Hörspiel statt als Schilderung jüdischen Schicksals allgemein als Spiegelung von Heimatverlust, Flucht, Heimatlosigkeit hören ließ. Daß ein derartiges Hören die Intentionen des Spiels verfehlen mußte, liegt auf der Hand.

Der rückblickende Anfang des Jens'schen Hörspiels ist auch aus einem technischen Grunde interessant. Wir sagten bereits, daß es für das Hörspiel der 50er Jahre ein dramaturgisches Gesetz war, Probleme zu personalisieren, in einer Spielfigur ein Stück der gesamten Zeit zu zeigen. Diesem gesellt sich, nicht nur als technisches Gesetz, eine "Theorie der Blende". Heinz Schwitzke hat ihr in seiner "Dramaturgie und Geschichte" des Hörspiels ein ganzes Kapitel gewidmet und in ihm zwischen "Schauplatzblende", "Zeitblende", "Realitätsblende" und "Stilblende" unterschieden, wobei er der "Zeitblende" mit ihren Spielformen des "Zeitraffens", des "Zeitsprungs", der "Zeitdehnung" und der "Rückblende" das größte Gewicht beimißt. Haben wir es danach bei Eichs "Die Mädchen aus Viterbo" mit einem exemplarischen Fall von "Realitätsblende" zu tun, so ist der Anfang des "Ahasver" ein exemplarischer Fall von "Rückblende". Dabei ist - und das läßt sich in beiden Fällen sehr schön zeigen - die Blende nicht bloß technisches Mittel, sondern Form, entsprechen sich Inhalt und Form in einem funktionablen Wechselverhältnis. Im Wechsel von vordergründigem Spielgeschehen und Gedankenspiel ermöglicht es die Blende in "Die Mädchen aus Viterbo", beide Ebenen so aufeinander zu beziehen, daß schließlich die eine die andere bedingt, allerdings in diesem Wechselspiel zugleich vom konkreten Ausgangspunkt abhebt. Die "Rückblende" in "Ahasver" ermöglicht eine Sinndeutung vom Tode her und von daher die Überführung des Einzelfalls ins Allgemeingültige: Lebensrückblick, Lebensüberblick als existentielles Paradigma.

Auch zur Befriedigung eines Nachholbedürfnisses weisen die Hörspielprogramme der 50er Jahre eine Vielzahl bearbeiteter Theaterstücke auf, deren Durchsicht gelegentlich recht Interessantes zutage fördert, so eine Einrichtung des "Urfaust" durch Alfred Andersch, eine Bearbeitung des Shakespeareschen "König Johann". als "Ballade vom Prinzen Arthur" durch den Übersetzer Hans Rothe. Daß derartige - oft zu Reihen aufbereiteten - Bearbeitungen sehr wohl in aktuellen Zusammenhängen vorgestellt werden konnten, mag ein kurzes Zitat aus Lessings "Nathan der Weise" belegen, das von dem schon kranken Erich Ponto gesprochen,

sich nach Krieg und Judenverfolgung vom Hörer nicht einfach nur als Drama der Toleranz konsumieren ließ:

Einspielung
Lessing: "Nathan der Weise"

Autor

Es sind vor allem aber zwei heute weitgehend vergessene Hörspiele, die jüdisches Schicksal für den Hörer am wenigsten ausweichbar vorführten. Da ist zunächst Heinz Oskar Wuttigs "Columbushaus", die Geschichte des nicht nur Berlinern bekannten, vom jüdischen Architekten Erich Mendelsohn gebauten Gebäudes an der westlichen Seite des Potsdamer Platzes. 1931 gebaut überstand dieses Gebäude gleichsam als architektonisches Mahnnal eines verfolgten Juden die Nazizeit, die Gestapo als 'Mieter', den Krieg und den Kampf um Berlin, wenn auch schließlich nur als Fassade, um am 17. Juni 1953 von Demonstranten angezündet, noch einmal in Flammen aufzugehen, womit sein Schicksal endgültig besiegelt war. Daß der Erbauer diesen Brand lediglich um drei Monate überlebte, gibt dem Hörspiel einen besonderen Akzent.

Heute unbekannter Autor von Feature und Hörspielen ist auch Peter Adler, der sich in "Der Frieden unserer Stadt" (1959) mit einem Teil des Jens'schen "Ahasver" begnügt: der Rückkehr nach Deutschland, bzw. ihrer Verhinderung. Denn in "Der Frieden unserer Stadt" wird die Rückkehr des alten Rosenstein und seines Sohnes -, Einwohner schlugen ihm in der 'Kristallnacht' ein Auge aus -, von den Bewohnern einer Kleinstadt mit allen Mitteln verhindert. Verhindert nicht nur, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, sondern auch, weil handfeste ökonomische Interessen zu 'verteidigen' sind, womit einmal geschehenes Unrecht für alle Zeiten festgeschrieben wird.

Einspielung
Adler: "Der Frieden unserer Stadt".

Autor

Wuttigs "Columbushaus" und "Asternplatz" mit Einschränkung, Adlers "Der Frieden unserer Stadt" verstoßen zwar nicht gegen das dramaturgische Gesetz, Zeitgeschehen und Probleme zu personalisieren, sie enthalten aber dem Hörer weitgehend die Identifikationsmöglichkeiten vor. Und nicht zuletzt dies - möchten wir eine These versuchen - könnte Grund dafür sein, daß sich diese Hörspiele nicht ins Repertoire einspielten.

Mit dem dramaturgischen Gesetz der Personalisierung, der Theorie der Blende wären die äußeren Bedingungen des Hörspiels der 50er Jahre nur unvollständig beschrieben, vergäße man die Einführung der Ultrakurzwelle und ihre hörspielgeschichtlichen Folgen.

Sicher ist, daß viele Hörer nach 1950 nicht sofort über Geräte mit UKW-Teil verfügten. Statistisch gesichert ist auch, daß nicht alle Hörer mit UKW-Empfangsmöglichkeit auch UKW hörten. Der Chronist muß also davon ausgehen, daß die Möglichkeit, Hörspiele auf UKW zu empfangen, erst allmählich von den Hörern ausgeschöpft wurde. Dabei war die Einführung dieser Welle für die Entwicklung des Hörspiels von wesentlicher Bedeutung. Es war jetzt möglich, wegen des ausgezeichneten Empfangs ohne atmosphärische Nebengeräusche einen Inszenierungsstil zu entwickeln und zu pflegen, der die Textvorlage unterschwellig umsetzen, Pausen mitinszenieren und noch intensiver auf die mitschöpferische Kraft der Hörerphantasie rechnen konnte. Der Regisseur, der diesen Stil wesentlich mitgeprägt hat, ist Fritz Schröder-Jahn.

Einspielung
Gespräch Schöning/Schröder-Jahn

Autor

Heinz Schwitzke hat in seiner "Dramaturgie und Geschichte" des Hörspiels der Entwicklung dieses Stils größeren Raum zugewiesen und ihn als "Methode" charakterisiert, "bei der plötzlich alles, was bis dahin galt" ins Gegenteil verkehrt wurde.

Zitat

"Stille, das war nicht mehr die Lücke zwischen Worten und Tönen, sondern Worte und Töne schwammen vereinzelt und vorsichtig in dem Meer der Stille, das sie trug. Die Qualität einer Inszenierung wurde geradezu daran meßbar, daß es der Regisseur wagen konnte, sekundenlang und immer wieder Stille vorherrschen zu lassen, ohne das sie unausgefüllt schien. Niemals wurde ein Geräusch als szenische Grundierung verwendet. Es durfte mit dem Wort nicht zusammenfallen und dem Wort als Zeichen ebenbürtig werden. Das Laute war nicht etwa die Steigerung des Leisen sondern eher umgekehrt. Lautes konnte unversehens und ohne Vorbereitung einen Augenblick lang hervorbrechen, dann aber war alles wie vom Schreck weggewischt, und nach einer langen, gleichsam beleidigten Stille kam die Möglichkeit dichtetester Intensität durch den leisesten Ton."

Autor

Daß derartige Inszenierungen gleichsam den akustischen Kontrapunkt zur Hektik stürmischen Wiederaufbaus, lautstarker politischer Auseinandersetzungen, zu lärmendem Wirtschaftswunder und weltpolitischen Krisen bildeten, kann sicher so
gesagt werden. Und auch, daß das Hörspielerlebnis so etwas wie Stille und Besinnung bieten sollte, der äußeren Hektik gleichsam ein Inneres, dem Geschwätz die Stille entgegenstellen. Eine besondere Qualität bekommt die Stille, das Schweigen im Hörspielwerk Günter Eichs.

Einspielung
Gespräch Schöning/Eich

Autor

Was diese Äußerungen formulieren, ist die Eichsche Auffassung, daß Schweigen die Abwesenheit von Sprache ist, die der Sprache bedarf um dies zu sagen. Daß Sprache zugleich die unvollkommene Übersetzung von Schweigen ist, daß Schweigen
gewissermaßen den Urtext darstellt, aus dem der Dichter in die Sprache übersetzt.

Unter anderen Voraussetzungen thematisiert ein heute völlig vergessenes Stimmenspiel Paul Ohlmeyers von 1949, "Odilo", die Stille.

Einspielung
Paul Ohlmeyer: "Odilo"

Autor

Aus ihr läßt der Souffleur Odilo nacheinander schon von ihrem jeweiligen Wortschatz her 'unmenschliche' Stimmen heraustreten, wieder verstummen, sich umkreisen, bis ins fast Unverständliche überlagern. Sie bilden mit ihren stereotypen, überwiegend banalen Worten oder Sätzen das akustische Umfeld zu einer immer dominierenderen Stimme, die gleichsam zitierend, jüngste Geschichte rekapituliert und zu ihrer unausweichlichen Katastrophe führt.

Einspielung
Paul Ohlmeyer: "Odilo"

Autor:

Das Ende scheint endgültig. Nur der 'Stimme der Liebe' bleibt die zugesicherte Hoffnung der Unsterblichkeit, während die anderen Stimmen von der Stille wieder aufgesogen werden:

Einspielung
Paul Ohlmeyer: "Odilo"

Autor

"Odilo" wurde von Helmut Jedele inszeniert, der zusammen mit Martin Walser, Heinz Huber, Peter Adler und Hans Gottschalk zu den Mitarbeitern in Gerhard Pragers Stuttgarter Dramaturgie zählte. Als Mitarbeiter waren sie bald derartig eigenständig, durchaus auch aufmüpfig, daß sich für sie schnell die Bezeichnung "Stuttgarter Genietruppe" (nicht "Genietrupp", wie Schwitzke schreibt) einbürgerte. Als solche geistern sie gelegentlich durch hörspielgeschichtliche Untersuchungen, ohne daß ihre hörspielgeschichtliche Bedeutung erkannt, deren Ausmaße erwähnt werden.

Auch wir können dies im Zusammenhang dieser Sendung nur in Stichworten leisten, wobei erschwerend hinzukommt, daß wichtige Hörspielaufzeichnungen dieser Gruppe inzwischen gelöscht wurden, nicht alles interessante Material mehr zugänglich ist. Gottschalk, Jedele und Walser lieferten Bearbeitungen, führten Regie, Jedele zum Beispiel bei Ohlmeyers "Odilo", bei Kühners "Übungspatrone" und Walsers erstem Hörspiel "Die letzte Ausflucht" (nach einer Erzählung von Arno Schmidt). Von Jedele stammt ferner die häufiger zitierte, aber wie es den Anschein hat nicht immer gelesene Dissertation "Reproduktivität und Produktivität im Rundfunk", die - wie die benutzten Hörspiele von Kühner, Eich, Schäfer und Eggebrecht zeigen - wesentlich aus der Stuttgarter Praxis entstanden sein dürfte. Neben ihm war mit sehr eigenständigen Inszenierungen Martin Walser wohl der wichtigste Regisseur nicht nur Weyrauchscher Hörspiele, sondern auch eigener Arbeiten, so seines zweiten Hörspiels, "Draußen" von 1953, der Geschichte eines Namenlosen, der vergeblich versucht aus der großen Kälte in die fragwürdige Geborgenheit zu gelangen, bis er sich schließlich dem Zirkus, der großen Narrenarmee anschließt.

Einspielung
Martin Walser: "Draußen"

Autor

Walsers erstes Hörspiel, "Die letzte Ausflucht", ist leider gelöscht. Das ist bedauerlich wegen eines in ihm zentral eingelegten grammatischen Spiels durch die Zeiten, deren sprach-spielerische Qualität ein Zitat nur unvollkommen andeuten kann:

Zitat

1. Stimme: Ich war...
2. Stimme: Ich bin gewesen
3. Stimme: Ich war gewesen
Pytheas: 1., 2. und 3. Vergangenheit: 52 Jahre! Was die Grammatiker doch für flache unlogische Köpfe sind.
1. Stimme: Ich war...
Pytheas: Das nennen sie erste oder unvollkommene Vergangenheit!
2. Stimme: Ich bin gewesen
Pytheas: Zweite oder vollkommene Vergangenheit!
3. Stimme: Ich war gewesen
Pytheas: Dritte oder bervollkommene...
4. Stimme: Ich werde sein...
Pytheas: Vage Zukunft
5. Stimme: Ich bin
Pytheas: Intensive... enge Gegenwart
5. Stimme: Ich bin
Pytheas: Gefangen
5. Stimme: Ich bin
Pytheas: Gefangen
5. Stimme: Ich bin
Pytheas: Nein, nein, ich bin nicht! "Gefangen" heißt: ich bin nicht!
1. Stimme: Ich war
Pytheas: Frei! das ist keine unvollkommene Vergangenheit! 0, diese Grammatiker!
1. Stimme: Ich war!
Pytheas: Das ist die vollkommenste Vergangenheit.
2. Stimme: Ich bin gewesen
Pytheas: Da ist ein "ich bin" dabei... eine Gegenwart, das ist die unvollkommene Vergangenheit
(Jetzt die 5 Stimmen durcheinander)
1. Stimme: Ich war
2. Stimme: Ich bin gewesen
3. Stimme: Ich war gewesen
4. Stimme: Ich werde sein
5. Stimme: Ich bin

Autor

Der Verlust der Aufzeichnung der "Letzten Ausflucht" ist aber vor allem deshalb bedauerlich, weil die von Walser einleitend im Manuskript genau vorgeschriebenen "akustischen Ebenen in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit" bereits auf stereofones Spiel mit Positionen weisen.

Noch deutlicher wird diese erstaunliche Nähe zur Stereofonie in einem ebenfalls gelöschten Hörspiel Heinz Hubers, "Koch bis Kruse", für das das erhaltene Manuskript Simultanszenen vorsieht, deren sprachliche Abläufe sich wechselseitig bedingen. Immerhin bietet ein zu diesem Hörspiel erhaltenes Expose Hubers genügend Anhaltspunkte für die Intentionen dieses Hörspiels, deutet es in einem konkreten Fall die Hörspielgeschichtliche Bedeutung der Stuttgarter Truppe nachdrücklich an, läßt es ahnen, warum ihre Arbeiten in den 50er Jahren so wenig beachtet wurden, und fordert zugleich dazu auf, aus den Erfahrungen des Neuen Hörspiels diesen Winkel der Hörspiellandschaft der 50er Jahre noch einmal genau zu durchleuchten.

Zitat

"Der Rundfunk bringt fast täglich in den Vormittagsstunden Such- oder Gefallenenmeldungen in alphabetischer Reihenfolge, eine sachlich-nüchterne Aufzählung von Namen und Daten, hinter denen oft erschütternde Schicksale stehen. Die stumpfsinnige Gewohnheit zahlloser Menschen, den Lautsprecher ununterbrochen in Gang zu halten, verdammt auch diese Chiffren des Leids dazu, sinnlose Geräuschkulisse der banalsten Beschäftigungen zu sein.

Das Studio-Hörspiel "Von Koch bis Kruse" geht nun aus von dem Glauben, daß Nennen gleich Beschwören ist und Worte wirkende Kräfte sind, die den Menschen und seine Handlungen durch sein Unterbewußtsein beeinflussen können, selbst wenn sie das Bewußtsein nicht erreichen, - ähnlich dem physikalischen Phänomen des Induktionsstromes. Es werden fünf Handlungsverläufe des Alltags gegeben, die sich zur gleichen Vormittagsstunde vor der gleichen Geräuschkulisse abspielen, der Durchsage einer Namensgruppe von Koch bis Kruse nämlich. Diese Handlungsverläufe werden also - wiederum physikalisch ausgedrückt - einem "akustischen Beschuß" ausgesetzt, der ihre Bahn beeinflußt, ablenkt, zersetzt, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt; zur Verdeutlichung sei an vielleicht entsprechende Vorgänge in der Kernphysik erinnert.

Dieses Hörspiel ist ein Experiment, ein Experiment insofern, als die Veränderung oder Zersetzung der Handlungsverläufe ausschließlich in der Sprache, mit dem Mittel der Sprache dargestellt werden sollte, und ganz in die Sprache verlegt wurde. Und es ist ferner ein Experiment, weil die Realität verlassen wurde, verlassen werden mußte. In der Realität hätte nur das Ergebnis, nicht aber der Vorgang selbst gegeben werden können, der sich ja im Unterbewußtsein abspielt, da die fünf Personen sich der Beeinflussung gar nicht bewußt sind, der sie durch das Geräusch "Koch bis Kruse" ausgesetzt sind.

Dies also war hier die Aufgabe: Einen Vorgang als solchen darzustellen, und zwar einen irrealen Vorgang, und zwar darzustellen mit dem Mittel der Sprache. Neben dieser formalen Seite hat das Hörspiel zweifellos auch ein sogenanntes "Anliegen". Dieses Anliegen wurde eingangs bereits gestreift: Es ist der Versuch, ein gedankenlos aufgesogenes Geräusch als gesättigt mit Schicksalen zu enthüllen. Es sollte aber noch mehr gesagt werden: daß auch Tote da-seiende Kräfte sind, Energien, die uns beeinflussen. Am deutlichsten wird diese Absicht vielleicht in der letzten Handlung des Stücks, in der versucht ist, zu demonstrieren, wie diese Toten durch ihr Dasein ein entstehendes Gedicht verändern von zeitfremder zu zeitgemäßer Form. Denn in einer Zeit, die jeden Vormittag die Chiffren tausender Vermißter oder Gefallener durchsagt, wird selbst und gerade das Dichten von diesen Chiffren beeinflußt - nicht so sehr im Stoff (Stacheldraht-Lyrik), als vielmehr in der Form.

Den Vorgang solcher Veränderung in verschiedenen Lebensbereichen sucht das Hörspiel darzustellen."

Autor

Daß Huber auch ein interessanter Bearbeiter war, haben wir schon angedeutet und mit einem Beispiel belegt. Eine zweite interessante Bearbeitung, Horváths "Glaube, Liebe, Hoffnung" hat sich unverfälscht erhalten und bis heute eine erstaunliche Frische bewahrt.

Einspielung
Huber/Horváth: "Glaube, Liebe, Hoffnung".

Autor

Franz Peter Wirth, der Regisseur dieser Moritat, muß - unsere Skizze der "Stuttgarter Genietruppe" abschließend - als Oberspielleiter des Pforzheimer Theaters erwähnt werden, weil bei den dortigen Aufführungen die Stuttgarter Dramaturgie ein häufiger Gast war. Sie holte sich dort - in der Auseinandersetzung mit dem modernen Theater - wichtige Anregungen. Die Teilnahme Adamovs und Ionescos an der Stuttgarter Höspieltagung 1952 war eine sichtliche Folge dieser Kontakte, die sich mit den Hörspielen Adamovs, "Das Fest der Unabhängigkeit" und "Die Universalagentur" auch konkret im Stuttgarter Hörspielprogramm niederschlug. Was sich von diesen Pforzheimer Theaterbesuchen an Niederschlag in den Hörspielen und Regien der "Stuttgarter Genietruppe" abgesetzt hat, aber auch andere, nicht zeitübliche Einflüsse auf die "Truppe" harren noch der genauen Untersuchung. Mit dem Auftreten Adamovs und Ionescos, mit der Sendung der Adamovschen Hörspiele im Stuttgarter Programm hat die Hörspielgeschichtsschreibung jedenfalls erste unübersehbare Belege für die in den 60er Jahren dann bedeutende Zusammenarbeit der Stuttgarter Hörspieldramaturgie mit den Autoren des französischen Nouveau Roman.

Damit wäre im Anschluß an die Sendungen über Günter Eich, Fred von Hoerschelmann, Wolfgang Hildesheimer, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Weyrauch und Peter Hirche das Hörspielpanorama der 50er Jahre in etwa abgeschritten. Heute mit dem Versuch, auch an weniger Bekanntes, historisch dennoch Wichtiges zu erinnern, Fragen zu stellen. Eine abschließende Sendung wird in Frage und Antwort die Sicht der damals Verantwortlichen, der Dramaturgen und Regisseure in unsere rückblickende Bestandsaufnahme einbeziehen.

[WDR 12.3.1979]