Einspielung
aus: "Centropolis" von Walter
Adler
Autor
Walter Adlers 1976 mit dem
Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnetes Hörspiel "Centropolis"
ist auf mehrfache Weise geeignet, in die Hörspiellandschaft der 70er
Jahre einzuführen. Seine (verzögerte) Produktion und Sendung
1975 fällt genau in die Mitte meines Berichtraums. Seine Technik,
die Kunstkopfstereophonie oder richtiger: kopfbezogene Stereophonie macht
auch für die 70er Jahre auf Wechselwirkungen zwischen Rundfunktechnik
und Spiel des Rundfunks aufmerksam. Die Wahl der Science Fiction - ein
Druck des Textes weist "Centropolis" im Untertitel ausdrücklich als
"Science-Fiction-Hörspiel" aus - kann drittens beispielhaft genommen
werden für eine bis heute ungebrochene Vorliebe vieler Autoren,
- vergleiche wieder einmal Dieter Hasselblatt: "Zu Science Fiction und Hörspiel" in: FUNK-Korrespondenz Nr. 5 vom 2. Februar 1983, -
wie allgemein für ein in den 70er Jahren zunehmendes Interesse an trivialen Genres. Schließlich signalisiert die das Hörspiel zäsurierende Nachrichtenpräsenz von Radio Centropolis kritischen Medienbezug, ließe sich von diesen Nachrichten als fiktivem O-Ton sprechen, was weiteren Tendenzen im Hörspiel der 70er Jahre entsprechen würde. Da es im Folgenden vor allem um den Überblick geht, dürfen wir von diesen Punkten ausgehen und sie dabei schrittweise ergänzen.
Natürlich hat es das oder ein Hörspiel der 70er Jahre ebenso wenig gegeben wie das oder ein Hörspiel der 60er oder 50er Jahre. Hier wäre präziser von Hörspieltendenzen zu sprechen, und - gegenüber aller Polemik - vernünftiger, diese Tendenzen historisch herzuleiten und in ihrer Determiniertheit von sich verändernden Programmvorstellungen zu beschreiben. Anders wie in den 50er und 60er Jahren, im Falle des Neuen Hörspiels, ist es für die 70er Jahre allerdings kaum möglich, im Druck nachzulesen, was die Sender im Schnitt sendeten.
Eine einzige, schon 1980 erschienene Anthologie Klaus Klöckners, "Und wenn du dann noch schreist...", versammelt als "Deutsche Hörspiele der 70er Jahre", von Wilhelm Genazino "Die Moden der Angst" (1976), von Sylvia Hoffmann "Lebendig gestalteter Unterricht" (1974), von Christoph Gahl "Intensivstation oder das unverändert pflanzenhafte Dahinvegetieren" (1979), von Elfriede Jelinek "wenn die sonne sinkt, ist für manche auch noch büroschluß!" (1972), von Urs Widmer "Die Ballade von den Hoffnungen der Väter" (1976), von Alfred Behrens "Frischwärts in die große weite Welt des totalen Urlaubs" (1974), von Walter Adler das Beispiel unserer heutigen Lektion "Centropolis" und von Diethard Klante den bisher einzigen Hörspielversuch "Aktion Abendsonne" (1977). Nimmt man diese Auswahl als fürs erste repräsentativ und geht von den Produktionsdaten aus, könnte der Eindruck entstehen, als habe ein Hörspiel erst eigentlich in der zweiten Hälfte des zur Diskussion stehenden Berichtraums stattgefunden. Anders gesagt: als habe das Hörspiel erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre seine für dieses Jahrzehnt charakteristischen Tendenzen entwickelt. Die sich dann allerdings in die 80er Jahre fortsetzen, denn mit Ausnahme Klantes sind alle genannten Autoren auch nach 1980 wiederholt in den Programmen der Hörspielabteilungen vertreten. Aber der Eindruck täuscht. Elfriede Jelineks "wenn die sonne sinkt [...]" ging 1971 "Wien West" voraus, Sylvia Hoffmanns und Wilhelm Genazinos Hörspielerstlinge, "Lebende Bilder und Prototypen. Sulivans unverbindliche Hörschau" bzw. "Vaters Beerdigung", wurden 1970 gesendet, und Alfred Behrens, der für sein " Großes Identifikationsspiel" aus dem Jahre 1973 den Hörspielpreis der Kriegsblinden zugesprochen erhielt, kommt als Hörspielautor ebenso wie Urs Widmer bereits 1969 zum ersten Mal zu Wort.
Zweierlei kann dieses Spiel mit Jahreszahlen hypothetisch verkürzt belegen.
1. daß das, was Hörspiele
der 70er Jahre charakterisiert, in die 80er Jahre tendenziell fortwirkt.
2. und für uns zunächst
wichtiger: daß die Hörspielautoren der 70er Jahre in der Blütezeit
eines Neuen Hörspiels einsetzen, zu dem sich bei genauerem Hinsehen
mancherlei Beziehungen herstellen lassen.
Wenn Urs Widmer 1976 in der "Ballade von den Hoffnungen der Väter" neben den Stimmen von Alfred Kolleritsch und Michael Krüger, Klaus Hoffer zu Wort kommen läßt, 'zitiert' er mit ihm zugleich auch einen Autor des Neuen Hörspiels ("fürsorglich...vorzüglich...", 1969), mit Alfred Kolleritsch, dem Herausgeber der "manuskripte", auch den Verfasser einer Reihe von Radio-Essays zum Neuen Hörspiel österreichischer Autoren (23.4., 3O.4., 7.5., 14.5., 21.5.1970 im WDR III) und mit Michael Krüger auch den Verfasser eines Radio-Essays zu seinem eigenen Hörspielerstling (7.2.1975, WDR III).
Widmers Essay zu Friederike Mayröckers/Ernst Jandls "Fünf Mann Menschen", dem ersten mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneten Neuen Hörspiel, wäre gleichfalls mitzubedenken (5.7.1973, WDR III). Als Hörspielautor hat Widmer 1971 zusammen mit Gerhard Rühm "AUA 231" geschrieben und realisiert, mit den Stimmen zahlreicher österreichischer Avantgardekünstler. Und bereits 1969/1970, also bevor es populär wurde, trieb er in "Wer nicht sehen kann, muß hören" und "Henry Chicago" sein ebenso vergnügliches wie erschreckendes Spiel mit poetischen Mustern, mit dem trivialen Genre des Kriminalromans.
"Die Ballade von den Hoffnungen der Väter" verlange, kommentiert 1980 Klaus Klöckner, "wenn man den Text liest, besonders viel akustisches Vorstellungsvermögen".
Zitat
"Es ist wichtig, daß
man die Regieanweisungen nachvollzieht, um zu verstehen: Gitarrenakkorde,
Trommelrhythmen, Geigen und Klarinettenklänge sind keine beliebige
Begleitmusik, sie gliedern die vielstimmige Handlung, geben Stimmungen
wieder und bestimmen selbst den Ablauf des Geschehens."
Autor
Dieser Kommentar bestätigt
ein Hörspielkonzept, das Widmer bereits anläßlich des Drucks
seines Hörspielerstlings "Wer nicht sehen kann, muß hören",
1970 formulierte:
Zitat
"Die Geräusche dieses
Hörspiels sind ebenso wichtig wie die Sätze, die gesagt werden,
sie entsprechen (obwohl sie jedem bekannt sind) nicht den vertrauten Hörerwartungen.
Ich hoffe aber, daß dies mehr als antiillusionistisches Spiel ('Entlarvung
festgefahrener Hörgewohnheiten') geworden ist, ich hoffe, daß
der Hörer einfach genau hinhört (...). Ich weiß nicht recht,
wie so etwas bei der Lektüre zustande kommen soll, ich kann des Leser
nur bitten, auf das Zusammenspiel von Text und Geräusch zu achten."
Autor
Überzeugt davon, daß
das Hörspiel "im Augenblick so etwas wie seine nouvelle vague" erlebe,
schloß Widmer einen die Sendung seines zweiten Hörspiels begleitenden
Essay, den Klaus Schöning noch im gleichen Jahr in die Sammlung "Neues
Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche" aufnahm:
Einspielung
"Ich möchte schon gerne
versuchen, die vorgeprägten verfestigten Formen, die wir in unseren
Köpfen herumtragen, etwas zu lockern, ich möchte meinen und anderer
Leute Horizont erweitern (innerhalb des Bewußtseins) durch Hinweise
auf die Dinge, die, als festgefügte, versteinerte Vorstellungselemente,
sich gegen alle Vernunft sperren."
Autor
Ist es im Falle Widmers
fast zu leicht, derartige Rückbezüge herzustellen, Impulskraft
und entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des Neuen Hörspiels anzudeuten,
auch für andere Autoren ist sie wenigstens indirekt aufzuspüren
und geltend zu machen. Elfriede Jelinek veröffentlichte außer
in den Wiener "protokollen" zunächst auch in den Grazer "manuskripten"
und damit in einer Zeitschrift, zu der zahlreiche, und nicht nur österreichische
Autoren des Neuen Hörspiels beitrugen, hat also zumindest mit manchem
Autor des Neuen Hörspiels den 'Stallmief' gemeinsam. Doch ist auch
"wenn die sonne sinkt [...]" im Einsatz sprachlicher Stereotypen, im Ansatz
impliziter Medienkritik dem Neuen Hörspiel nicht nur tendenziell verwandt.
Wilhelm Genazinos "Rede an die Senkrechtstarter" (1971) ist ein Montagespiel,
das sich durchaus in die Nähe jener Hörspiele rücken ließe,
die der WDR 1969/1970 zu einer längeren Reihe "Dokumente und Collagen"
zusammenstellte. Und Alfred Behrens erstes Hörspiel "Also manchmal
hat man Tage, die sind Gummi" ist ein recht frühes Beispiel aus dem
Umfeld der Bemühungen um "das Verfahren O-Ton", das zwei Jahre später
den Hörspielpreis der Kriegsblinden davonträgt (Paul Wühr:
"Preislied", 1971).
Dies aufzulisten, heißt nicht, das Neue Hörspiel als Höhepunkt, als status quo der Gattung ein für allemal festschreiben zu wollen. Das Neue Hörspiel kam zur rechten Zeit und hat seine Zeit gehabt. Es hat zahlreiche Impulse gegeben, vor allem aber dem Hörspiel seine offene Form zurückgewonnen, wovon zahlreiche Hörspiele der 70er und 80er Jahre zeugen. Und es hat seine Impulse selbst aufgenommen, sich weiter entwickelt, was nicht zuletzt, eindrucksvoll die Vergabe des Karl-Szuka-Preises 1975 an Ferdinand Kriwet, 1977 an Gerhard Rühm, 1979 an John Cage, 1982 an Franz Mon, des Prix RAI des Prix Italia 1977 an Mauricio Kagel, des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1979 ebenfalls an Mauricio Kagel und 1979 den Sonderpreis des Prix Futura an Franz Mon belegen, ebenso wie im Juni 1977 und November 1979 die Auszeichnungen von Arbeiten Kriwets und Kagels als Hörspiele des Monats.
Angesichts dieser Daten kann mit Nachdruck behauptet werden, daß auch Autoren des Neuen Hörspiels zu den Hörspieltendenzen der 70er Jahre - und zwar erfolgreich - beigetragen haben. Würde man für die 70er Jahre - was einzig korrekt und überdies naheliegend wäre - trennen zwischen dem fortgesetzten Hörspielbemühen von Autoren des Neuen Hörspiels und Hörspielautoren und -tendenzen nach dem Neuen Hörspiel, wurde man diese in einem pluralistischen, formal und inhaltlich weitgesteckten Programm eigentlich selbstverständliche Koexistenz akzeptieren (denn, wohin im einzelnen die Liebe fällt, ist, aufs Ganze gesehen, gleichgültig), dann wären die immer noch nicht abreißenden Anwürfe gegen, die Toterklärungen des Neuen Hörspiels eigentlich überflüssig, es sei denn, hier wird der Sack geschlagen aber der Esel gemeint. So von Heinz Schwitzke am 30. Oktober 1982 im Evangelischen Pressedienst, Kirche und Rundfunk:
Zitat
Das Neue Hörspiel hat
den Schildbürgerstreich begangen, im Hörspiel in dem selben Augenblick
[...] publikumsferne 'Elitekunst' zu propagieren, in dem im Rundfunkprogramm
sonst [...] mit allen Mitteln um Publikumsgunst gerungen wurde. Erst seit
diesem - inzwischen längst als gescheitert erkannten - Versuch, das
Hörspiel an einer elitären Ideologie zu orientieren, der in den
Köpfen von Theoretikern gemacht wurde, hat es den Kontakt mit den
Hörern und seine bevorzugte Stellung im Rundfunkprogramm mehr und
mehr verloren und ist [...] in die [...] Verlegenheit, museal zu werden,
abgerutscht.
Autor
So von Christoph Buggert
am 18. Mai 1983 in der katholischen FUNK-Korrespondenz im Kontext an sich
nachdenkenswerter Überlegungen über "Die Chancen des Hörspiels
in der zukünftigen Medienlandschaft":
Zitat
Das Neue Hörspiel entwickelte
sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zu einer Gattung ohne Antwort,
ohne Leben also. Eine hermetische Kunstform entstand, die ihre Legitimation
aus dem positiven Echo einiger am Totalexperiment interessierter Kritiker
bezog. [...] Das Neue Hörspiel ist alt und zahnlos geworden. Abgenutztes
und Ausgeleiertes ist an der Tagesordnung.
Autor
Wenn auch Klaus Klöckner
in seiner Anthologie keinen dem Neuen Hörspiel zugerechneten Autor
mit einer späteren Arbeit aufgenommen hat, außer Kagel oder
Mon hätte sich z.B. auch Ludwig Harig abgeboten, (etwa sein "Deutsches
Narrenspiel", 1977, oder "Warum kann ich nicht vom Truge in die Wahrheit
übergehn", 1978), so hebt Klöckner in seinem Vorwort doch die
hörspielgeschichtliche Weichenstellung des Heißenbüttelschen
"Horoskops" von 1968 nachdrücklich hervor, verweist er zurück
auf Arno Schirokauer, einen zu Unrecht vergessenen Hörspielautor und
-theoretiker des Weimarer Rundfunks, der erst durch die ja auch historischen
Bemühungen des Neuen Hörspiels wieder ins Blickfeld rückte.
Und für das Neue Hörspiel selbst hält Klöckner fest:
Zitat
Die formalen Möglichkeiten,
die es erschlossen, und eine neue Sensibilität, die es ausgebildet
hat, kann man bei Autoren und Produzenten - und zum Teil auch bei Hörern
- heute voraussetzen.
Autor
Kann man die Absenz von
Autoren des Neuen Hörspiels in Klöckners Anthologie auch damit
erklären, daß der Herausgeber sie inzwischen in anderen Hörspielbüchern
hinreichend präsentiert glaubte, unvollständig und ergänzungsbedürftig
bleibt die Anthologie in zwei anderen Punkten:
1. im Autorenspektrum, was
sich sicherlich auch durch den Umfang begründet,
2. und vor allem aber in
der Abdeckung der typologischen Vielfalt der Hörspiellandschaft der
70er Jahre.
Autoren, die man sich gut in einer Hörspielanthologie des Hörspiels der 70er Jahre vorstellen könnte, wären zum Beispiel Helga M. Novak, Christoph Buggert, Hubert Fichte, Gerd F. Jonke, Ingomar von Kieseritzky, Dieter Kühn, der schon zum Hörspiel der 60er Jahre beitrug, Erasmus Schöfer, George Tabori, obwohl er erst Ende der 70er Jahre auf sich aufmerksam macht, ferner Theodor Weißenborn, Hubert Wiedfeld. Auch Ror Wolf müßte man nennen, ohne damit schon Vollständigkeit zu erzielen. Doch bereits diese Namensliste läßt in Ergänzung mit der von Klöckner ausgewählten ein Autorenpotential erkennen, das sich vor dem der 60er oder dem der 50er nicht zu verstecken braucht. Dennoch: Namenlisten, Listen namhafter Autoren stehen noch nicht für Formenvielfalt und Spielbreite des Hörspiels. Auch das war in den 50er und 60er Jahren bereits so. Hier müßte allerdings ein Anthologist wohl andere Wege gehen.
Wie er dies möglicherweise machen könnte, deutet ein 1982 von Werner Klippert herausgegebenes schmales Bändchen , "Hörspiele saarländischer Autoren" an, von dessen sechs Hörspielen vier innerhalb unseres Berichtraums gesendet wurden. Mit Ausnahme Ludwig Harigs und Ingrid Hessedenz', von der (in Zusammenarbeit mit Klaus Emmerich und Heinz Hostnig) Konzept und die erste, sowie einige weitere Folgen der Kurzhörspielserie "Papa, Charly hat gesagt..." stammen, sind die von Klippert versammelten saarländischen Autoren hörspielgeschichtlich vielleicht von geringem Gewicht. Aber jedes der wiedergegebenen Hörspiele repräsentiert einen bestimmten Hörspieltypus, das dokumentarische Spiel, das Kurzhörspiel, das 1971 in der "Hörspielboutique" des Saarländischen Rundfunks sein erstes gestaltetes Nachmittagsprogramm erfuhr, das Serienhörspiel (die Kurzhörspielserie), das Dialekthörspiel, das Amateur- oder Konsumentenhörspiel, wobei sich gelegentlich durchaus der eine Typus mit dem anderen verbinden kann.
Und sie sind gerade in ihrem qualitativen Gefälle geeignet, ein dem Hörspiel eigenes Spannungsfeld anzudeuten zwischen literarischem Anspruch und Unterhaltungsbedürfnis, zwischen Kulturauftrag und Unterhaltungsfunktion, zwischen "Alles ist möglich. Alles ist erlaubt" (Heißenbüttel) und der Notwendigkeit, in einem Programm plazieren zu müssen. Für letzteres spricht besonders aufschlußreich eine lobende Erwähnung, die 1979 das quasi-dokumentarische Hörspiel "Eckstein ist Trumpf" in einer Jury-Begründung erfährt (Kurt-Magnus-Preis 1979):
Zitat
Besonders haben Gerhard
Bungert und Klaus-Michael Mallmann ihr Augenmerk auf die regionale Sozialgeschichte
gerichtet. Es gelang ihnen, zahlreiche unbekannte oder verschollene
Dokumente auszugraben und für eine größere Öffentlichkeit
aufzuschließen. Im Zuge einer allgemeinen Regionalisierung des Rundfunkprogramms
kommt den beiden Autoren das Verdienst zu, die Möglichkeiten eines
nicht affirmativen Regionalismus ausgelotet und dem Hörfunkprogramm
nutzbar gemacht zu haben.
Autor
Damit hätten wir die
Autorenliste, die Formenvielfalt und die Programmbedingtheit des Hörspiels
in den 70er Jahren soweit skizziert, daß wir zu unserem zweiten Ausgangspunkt
zurückkehren können.
Die Technik von Walter Adlers "Centropolis", die Kunstkopfstereophonie oder besser: kopfbezogene Stereophonie mache, sagten wir, auch für die 70er Jahre auf Wechselwirkungen von Rundfunktechnik und Spiel des Rundfunks aufmerksam. Derartige Wechselwirkungen verblüffen nur den, der im Hörspiel immer noch oder schon wieder ein literarisches Spiel sieht, das, vom Rundfunk übermittelt, sich seinen Bedingungen soweit nötig anzupassen hat, das man dann aber auch lesen kann, ja für dessen Diskussion eine Realisation beinahe überflüssig ist. In Wirklichkeit ist das Hörspiel aber ein elektroakustisches Spiel aus und mit Wörtern / Geräuschen / Musik, es kann das eine oder das andere sein, vom einen mehr vom anderen weniger enthalten. Es ist als elektroakustisches Spiel (vorläufig jedenfalls noch) gebunden an seinen Auftraggeber und Verteiler, den Rundfunk, und es wird in einem Programm plaziert, das sich aus den Bestandteilen Wort und Musik zusammensetzt und wesentlich vom Anspruch der Aktualität lebt. Als Rundfunkkunst, als elektroakustisches Spiel ist es in seinen Möglichkeiten und seiner Genese abhängig von der Entwicklung der Elektroakustik. Wir haben in früheren Lektionen so oft auf die für die Hörspielgenese konstitutive Rolle von Mikrophon, Monophonie und Stereophonie, von Blende und Schnitt, von Mittel- und Ultrakurzwelle hingewiesen, daß wir uns hier nicht zu wiederholen brauchen. Die Entwicklung der kopfbezogenen Stereophonie in den 70er Jahren ist eine vorläufig letzte nichtliterarische Bedingung des Hörspiels, wenn sie auch vom Hörspiel bisher nur bedingt angenommen wurde aus Gründen, von denen zu sprechen sein wird.
Jede Hörspielpoetik muß die kopfbezogene Stereophonie wie die Stereophonie im Kapitel "Mikrophon und Hörspiel" darstellen und könnte dabei historisch zu folgendem Befund kommen: während das monaurale Hörspiel vor allem "die Bewegung im Menschen" (Kolb) darstellen konnte und wollte, gelang es dem stereophonen Hörspiel, vor den Hörern Raum aufzubauen, kann die kopfbezogene Stereophonie den Hörer in einen akustischen Umraum versetzen. Daß diese technischen Schritte nicht notwendigerweise automatisch das Hörspiel umformen, belegt zum einen das jahrelange Nebeneinander von monophonem und stereophonem Hörspiel, zum anderen, daß das Hörspiel von der kopfbezogenen Stereophonie bisher nur beschränkten Gebrauch macht. Ein Hörspielautor hätte heute, sofern er es will und kann, | durchaus die Möglichkeit, sein Hörspiel auf eine dieser drei Möglichkeiten hin zu konzipieren, wobei sich beispielsweise für ein Monologhörspiel eine monaurale Aufnahme und Sendung, für ein Originalton-Hörspiel die kopfbezogene Stereophonie anbieten könnten, für ein Monologhörspiel die Innenaufnahme im klassischen dreigeteilten Studio, für ein Originalton-Hörspiel vor allem die Außenaufnahme.
Wieder einmal in seiner Geschichte rückt das Hörspiel damit in die Nähe der Reportage, nähern sich Hörspieler und Reporter. Wenn Ulrich Gerhardt, ein 'Pionier' des Kunstkopfhörspiels, davon überzeugt ist, daß durch die neue Technik das Hörspiel auf dem Wege zu größerer Realistik sei, wenn Klippert anschließt:
Zitat
Ganz sicher ist beispielsweise
dem Reporter mit dem Kunstkopf ein Instrument gegeben, den Zuhörer
noch unmittelbarer beim Geschehen dabeisein zu lassen, als dies bisher
geschah -
Autor
wenn auf der anderen Seite
Klaus Schöning im Umfeld des Originalton-Hörspiels vom Autor
spricht, der "mit einem Tonband ausgerüstet, wie ein Reporter und
doch nicht als Reporter auf die Straße gegangen ist", dann werden
Korrespondenzen erkennbar, die die Gleichzeitigkeit der Diskussion um "das
Verfahren O-Ton" 1971 bis 1973 und die folgenreiche öffentliche Präsentation
eines Kunstkopfes 1973 auf der Funkausstellung in Berlin kaum mehr als
Zufall erscheinen lassen.
Noch deutlicher überlagern sich die Diskussion um "das Verfahren O-Ton" und die Präsentation des Kunskopfes im Datum seiner publizistischen Vorstellung durch Georg Plenge und andere am 8. Dezember 1972 in den Informationsblättern der Georg Neumann GmbH, Berlin.
Für die Hörspielgeschichte nur am Rande interessant ist, daß die ersten Schritte zur Entwicklung eines Kunstkopfes bereits in den frühen 40er Jahren in Eindhoven gemacht wurden, um Schwerhörigen das Richtungshören zu ermöglichen.
Allerdings - trotz dieser langen Entwicklungszeit war das technische Verfahren noch nicht ausgereift, erfolgten Einführung und Einsatz verfrüht. Fünf Jahre nach der verfrühten Einführung des (Neumannschen) Kunstkopfes bildete der Westdeutsche Rundfunk auf der ersten Umschlagseite seines Hörspielprogramms für das 1. Halbjahr 1978 einen männlichen Kopf ab, dem ein Gebilde aufgesetzt war, das auf den ersten Blick an elektrischen Stuhl oder moderne Foltertortur gemahnte. Und die letzte Umschlagseite kommentierte:
Zitat
Das wirklichkeitsnahe Erleben
eines akustischen Geschehens war im ersten Kunstkopfhörspiel 'Demolition'
so neu und so überraschend für alle Beteiligten, daß man
zunächst nur die Vorteile der 'neuen' Aufnahmetechnik sah. Erst nach
weiteren Versuchen wiesen kritische Stimmen mit der Bemerkung: 'Er hört
nicht vorn' auf eine sehr störende Eigenschaft dieses Kunstkopfes
hin: (...) alle Schallquellen, die sich üblicherweise vor dem Zuhörer
und damit vor dem Kunstkopf befinden, werden später hinter dem eigenen
Kopf gehört. Dieses Phänomen ist seit 4 Jahren typisch für
Kunstköpfe und ist bis heute ein technisch ungelöstes Problem.
Autor
Die Entscheidung, die im
Westdeutschen Rundfunk angesichts dieses Dilemmas getroffen wurde, ist
wie die ganze Entwicklungsgeschichte des Kunstkopfes, auch deshalb bemerkenswert,
weil sich in seinem Fall der Rundfunk aus der technischen Abhängigkeit
von der elektroakustischen Industrie emanzipierte und seine gewünschten
Bedingungen selber suchte und schuf. Die für die Theorie und Praxis
der Blende im Hörspiel so folgenreiche Entwicklung und der Einsatz
des Gaste'schen Potentiometers in der Schlesischen Funkstunde wäre
ein zweiter. Im Falle des Kunstkopfes jedenfalls machte sich der Westdeutsche
Rundfunk, angetrieben auch durch den Widerstand seiner Techniker gegen
ein unausgereiftes Instrument, auf die Suche und fand:
Zitat
Das bisher einzige Kunstkopfübertragungssystem,
das diesen Fehler nicht zeigt, wurde 1975 von PLATTE und LAWS von der Technischen
Hochschule Aachen vorgeführt. Bei der für Forschungszwecke entwickelten
sog. 'Anordnung zur genauen Reproduktion von Ohrsignalen' wird der Schall
nicht mit den Mikrophonen eines Kunstkopfes, sondern mit Spezialmikrophonen
aufgenommen, die an den Kopf einer freiwilligen Versuchsperson angebracht
werden und den Schall in den Gehörgangen dieser Versuchsperson messen.
(Bild auf der Umschlagseite 1).
Da dieses Verfahren zur Zeit als einziges Kunstkopfübertragungssystem die Vorne-Ortung ermöglicht, haben wir vom WDR uns trotz der Problematik, einen Mitarbeiter als Teil eines technischen Aufnahmesystems einsetzen zu müssen, entschlossen, so lange mit diesem Verfahren zu arbeiten, bis mit einem verbesserten Kunstkopf die gleiche Übertragungsqualität erreicht werden kann.
Autor
Am 20. März 1978 bot
der Westdeutsche Rundfunk seinen Hörern auch eine akustische Demonstration
des gewählten Systems, "Neues vom Kunstkopf oder Micros in den Ohren",
in die als Beispiele Sequenzen einer Funkeinrichtung des byzantischen Heldenepos
"Digenis Akritis" eingespielt wurden, bei deren Aufnahme zum ersten Mal
das neue Verfahren in Anwendung kam. Die zweiteilige Produktion der Funkeinrichtung
Friedhelm Ortmanns, der auch Regie führte, kam als "Sondertermin"
an den beiden Ostertagen des Jahres zur Sendung. [Zur Diskussion unter
den Betroffenen vgl. auch die kontroversen Stellungnahmen Adlers u. H.W.
Frankes in den Programmheften des WDR 76 u.76/77.] Doch war mit dieser
Interimslösung das technisch rundum befriedigende Instrument immer
noch nicht vorhanden. Am 4. Dezember 1981 lautete eine Schlagzeile der
Stuttgarter Zeitung:
Zitat
Der Kunstkopf ist nicht
abgeschrieben,
Autor
erfuhr der Leser, daß
"Professor Georg Plenge aus dem Institut für Rundfunktechnik" und
der Technische Direktor des Süddeutschen Rundfunks, Dietrich Schwarze,
sich erneut den Journalisten gestellt hätten. Die Einführung
der Kunstkopfstereophonie sei verfrüht erfolgt. Durch Untersuchungen
am Institut für Rundfunktechnik (Nürnberg) habe man aber die
Fehlerquellen jetzt ermitteln können. Sie hätten unter anderem
ergeben,
Zitat
daß ein wesentlicher
Teil der Schuld an den enttäuschenden Ergebnissen in der ungeprüften
Übernahme früherer Gewohnheiten lag. So mußte die Entzerrung,
die von der monophonen und intensitätsstereophonen Technik übernommen
worden war, prinzipiell geändert werden. Sie erwies sich als die Ursache
der Klangverfälschung bei der Wiedergabe über Lautsprecher. Falsche
Vorstellungen von der Rolle des Trommelfells hatten Verbesserungen der
Richtungstreue verhindert.
Autor
Nach Ausschaltung der Fehlerquellen
habe man jetzt einen neuen Kunstkopf entwickeln können, "mit dem das
Experimentierstadium überwunden" sei. Interessant ist dieser Auftritt
von Plenge und Schwarze vor Journalisten aber auch deshalb, weil er indirekt
und sicherlich unbeabsichtigt die Pionierleistung der Hörspieldramaturgien
beim bisherigen Einsatz des noch unvollkommenen Kunstkopfes bestätigt.
Zitat
Während die Kunstkopfstereophonie
ursprünglich vorwiegend für Hörspiele benutzt wurde, hoffen
Plenge und Schwarze, daß die neue Technik sich auch bei der Musikübertragung
im allgemeinen durchsetzen wird. Auch beim Feature und bei Gesprächen
mit mehreren Teilnehmern vor einem Publikum ergeben sich Vorteile für
die Kunstkopfstereophonie. Sie kann bei Roundtable-Gesprächen verhindern,
daß Sprecher einander überdecken und
unverständlich werden.
Autor
Doch obwohl "das Experimentierstadium
überwunden" war, ließ auch der verbesserte Kunstkopf noch auf
sich warten. Jedenfalls konnte der Hörer des Westdeutschen Rundfunks
erst am 5. Juni dieses Jahres (1983) das erste, mit dem neuen verbesserten
Kunstkopf aufgezeichnete Hörspiel, "Mordende Worte" von Peter Jacobi,
Regie Dieter Carls, empfangen. Obwohl das Programmheft des ersten Halbjahrs
1983 diese Tatsache nur lakonisch vermerkt, -
Zitat
Eine neue Kunstkopfproduktion
auf dem aktuellen Stand der Technik -
Autor
hat auch sie hörspielgeschichtlich
Pilotfunktion und wurde zum Hörspiel des Monats gewählt, so daß
es in der kurzen Geschichte der kopfbezogenen Stereophonie praktisch drei
Pilotproduktionen gibt: "Demolition" (RIAS/BR/WDR 1973), "Digenis Akritis"
(WDR 1978) und "Mordende Worte" (WDR 1983), einen Science-Fiction-Krimi,
die Adaption einer weltliterarischen Vorlage und ein kriminalistisch angehauchtes
Verwirrspiel zwischen Realität und Fiktion, die zusammen mit einer
weiteren Kunstkopf-Produktion des Jahres 1978, einer Neuinszenierung von
Günter Eichs Klassiker "Geh nicht nach El Kuwehd" (HR/NDR/WDR) abhören
lassen, daß diese neue Technik sich nicht ausschließlich zur
Spannungssteigerung in Unterhaltungsspielen der Krimi- und Science-Fiction-Branche
eignet. Im Gegenteil: daß sich die neue Möglichkeit, den Hörer
in einen akustischen Umraum zu versetzen für den halluzinatorischen
Raum des Traumes und Alptraums, für ein verwirrendes Raumspiel zwischen
Realität und Fiktion, für den weiten Raum des Epos ebenso nutzen
ließ wie für den Weltraum. Wobei sicherlich nicht ohne Hintersinn
die letzten Worte des Hauptakteurs in "Demolition" lauten:
Einspielung oder
Zitat
Hier ist nichts als leerer
Raum,
Autor
und die letzten Worte des
Hörspiels:
Einspielung oder
Zitat
Es gibt keinen Raum. Es
gibt überhaupt nichts.
Es gibt keine Zeit. Es gibt
überhaupt nichts.
Autor
Ausgehend von dieser Aufhebung
von Raum und Zeit, die im Hörspiel wie in der Science Fiction möglich
sind, ist es leicht, zu unserem dritten Ausgangspunkt zurückzukehren.
Unser dritter Ausgangspunkt war Walter Adlers Entscheidung für ein Science-Fiction-Hörspiel vor dem Hintergrund einer auffälligen Vorliebe von Hörspielautoren der 70er Jahre für dieses scheinbar (so) triviale Genre. Entsprach der Inhalt von "Demolition" üblichem Science-Fiction-Muster -
Zitat
Zwei Industriekonzerne,
die das Sonnensystem beherrschen, liefern sich einen tödlichen Gigantenkampf
(Hörspiele im Westdeutschen Rundfunk 1/1974, S. 21) -
Autor
diente der Einsatz der kopfbezogenen
Stereophonie der akustischen Spannungssteigerung und Demonstration des
Möglichen
Zitat
Durch Geräusche von
allen Seiten (auch von oben und unten) hat der Hörer den Eindruck,
mitten im Geschehen zu sitzen (ebd.) -
Autor
für Walter Adler sind
Technik und Genre eher Mittel zum Zweck. Dies hat auch die Jury des Hörspielpreises
der Kriegsblinden durchaus erkannt, wenn sie in ihrer Entscheidung begründet:
Zitat
Walter Adler, der bei seinem
Hörspiel auch als Regisseur die Kunstkopftechnik meisterlich nutzt,
geht zwar von einem nicht seltenen Ansatzpunkt der Science Fiction aus,
macht daraus aber anderes und mehr als das übliche. In der Gegenwart
schon deutlich sich abzeichnende Symptome sind das Anfangsmotiv. Zerstörung
der städtischen Umwelt, krasse Kriminalität, Bürokratie
als Selbstzweck, Big Science, die nicht mehr den vielen Einzelnen dient,
rücksichtslose Gewaltanwendung gerade auch von Staats wegen - diese
und andere aktuelle Gefahrenmomente sind in eine zweifellos mögliche
Zukunft hineinprojeziert: ein beunruhigend schlüssiges Schreckensbild.
Frappierend und für das Hörspiel konstitutiv ist die Genauigkeit,
mit der Adler falsche Sprache, Klischees, die Leerformeln der Medien zu
entlarven weiß. "Centropolis" demonstriert, daß Spannung und
Unterhaltung noch und wieder ohne Preisgabe von Qualität möglich
sind.
Autor
Besonders der letzte Satz
dieser Begründung verdient Aufmerksamkeit, denn er besagt zweierlei.
1. daß Spannung und Unterhaltung noch ohne Preisgabe von Qualität möglich sind. Er impliziert also die Befürchtung, daß eine solche Preisgabe ins Haus stehen könnte. Liest man ihn so, kann man anschließend zur Diskussion überleiten, die im Augenblick vielerorts über ''die Chancen des Hörspiels in einer zukünftigen Medienlandschaft" und allgemein über die Wechselwirkungen von ''Medieninflation" und Programmqualität geführt wird, mit zum Teil bitteren Prognosen. Wir werden darauf zum Abschluß unserer Sendereihe im nächsten Jahr noch einmal zurückkommen.
2. besagt der letzte Satz, daß Spannung und Unterhaltung wieder ohne Preisgabe der Qualität möglich sind. Er hält also fest, daß Spannung und Unterhaltung ohne Qualität vorausgegangen sind. Das ließe sich einmal auf spannende und unterhaltene Hörspiele beziehen, die mit geringerem Niveau vorausgingen, zum Beispiel auf die Hörspieladaption von Alfred Besters Roman "Demolition". Das läßt sich allgemein auf eine triviale Spannungs- und Unterhaltungsliteratur beziehen. In beiden Fällen gilt für das Science-Fiction-Hörspiel Adlers wie vergleichbare Arbeiten zum Beispiel Richard Heys, unter Voraussetzung des anderen Genres, was Jochen Schütt 1977 (WDR 3 Hörspielstudio) dem Genre des Dialekthörspiels anmerkte:
Einspielung
Die Tradition der Dialektliteratur
als 'Heimatdichtung', wie sie durch Fernsehsendungen des Komödienstadel,
der Millowitsch-Bühne oder des Ohnsorg-Theaters repräsentiert
wird, ist nicht abgerissen und wird auch in Zukunft kaum abreißen.
Sie erfüllt gewisse Bedürfnisse, aber sie hat mit der sozialen
Wirklichkeit der dialektsprechenden Menschen wenig zu tun. Die neue Tradition,
die sich seit knapp einem Jahrzehnt im Dialekthörspiel andeutet, versucht
dagegen gerade diese soziale Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, sie
ungeschminkt und detailgetreu wiederzugeben und zur Auseinandersetzung
mit ihr anzuregen."
Autor
Einer solchen "neuen Tradition"
des Dialekthörspiels läßt sich ein Science-Fiction-Spiel,
das "aktuelle Gefahrenmomente in eine zweifellos mögliche Zukunft
hineinprojeziert", ebenso an die Seite stellen wie die gelegentlich als
"Social Krimis" etikettierten, sozialkritisch engagierten Kriminalhörspiele
zum Beispiel des Autors -ky. Und sie stehen dabei sogar in einer längeren
Tradition, Kunst dort zu machen, wo sie niemand erwarte, wie Friedrich
Dürrenmatt es auf die Formel brachte, in einer Traditionslinie mit
den Kriminalromanen eines Friedrich Glauser oder Dürrenmatt, mit Spielen,
die listig in das Gewand populärer Science Fiction schlüpfen,
wie Günter Eichs "Stunde des Huflattichs", Dürrenmatts "Das Unternehmen
der Wega", Christa Reinigs "Das Aquarium" und viele andere - in einer Linie
übrigens, die sich bis in die Programme des Weimarer Rundfunks zurückverfolgen
läßt. Was die Hörspiellandschaft der 70er Jahre in diesen
Zusammenhang einbringt, ist
1. eine offensichtlich größere Bereitschaft der Autoren, mit trivialen Mustern zu spielen, in einer Breite, die (noch ausgehend von Tendenzen des Neuen Hörspiels) von Ror Wolfs Trilogie "Auf der Suche nach Doktor Q." ("Der Chinese am Fenster", 1969/1970; "Die überzeugenden Vorteile des Abends", 1973; "Reise in die Luft in 67 Minuten und 15 Sekunden", 1974/75) über Walter Adlers "Centropolis" (1974/1975) zu den Science-Fiction-Spielen Richard Heys ("Andromeda im Brombeerstrauch", 1975; ''Die Ameise, die mit einer Fahne winkt oder Dr. Federbaums Universum", 1978) fächert.
2. ist der sozialkritische Impuls offensichtlicher, das entlehnte Gewand durchsichtiger, die Bezeichnung "Social Krimi" ebenso bezeichnend wie Alfred Behrens Formel von der "Social Science Ficlion" (1971 in "Gesellschaftsausweis").
Als "Social-Science-Fiction-Hörspiel" ist "Frischwärts in die große weite Welt des totalen Urlaubs" im Untertitel ausgewiesen. Er könnte genau so gut unter "Centropolis" stehen, denn auch Adler führt "Fiktion als Non-Fiction" vor, "erfindet Wahrheit" (Behrens/Hey).
Die größere Bereitschaft, mit trivialen Mustern zu spielen, läßt sich auch dort erkennen, wo einzelne Autoren sich gleichzeitig um mehrere triviale Genres bemühen, wobei ihnen wiederum Dürrenmatt in den 50er Jahren bereits vorangegangen ist. So hat sich Richard Hey auch um den Kriminalroman, das Kriminalhörspiel bemüht und den Kommissaren dieser Gattung eine mit einem antiautoritären Lehrer zusammenlebende Kommissarin konfrontiert in: "Katarina L." (1972).
Auch Walter Adler hat sich, oft zusammen mit Bernd Lau, außerhalb der Science Fiction umgetan. So 1973, (also ein Jahr bevor "Centropolis" mit dem Regisseur Klaus Mehrländer zum ersten Mal angekündigt wird), mit dem "Tod eines Einzelhändlers", einem Kriminalhörspiel, das "Personal und Ausgangssituation unmittelbar aus der Tradition des US-amerikanischen und französischen Gangsterfilms" bezieht, "ihnen aber eine andere, weil 'realistischere' Wende" gibt (Hörspiele im Westdeutschen Rundfunk 2/1973, S. 56). Oder 1977 mit einer zweiteiligen Adaption der Karl Mayschen Kolportage "Sklaven der Arbeit" für den Bayerischen Rundfunk, die gerade wegen der Beibehaltung des Kolportagemusters interessant ist. Denn gemessen an der negativen Utopie von "Centropolis" ist der Schritt in die Kolportage die Wahl einer Erzählform, in der die Welt noch als eine veränderbare gefaßt wird, die uneingestandene Hoffnung, Ernst Bloch möchte vielleicht doch recht haben mit dem Hinweis:
Zitat
Träumt also Kolportage
immer, so träumt sie doch letzthin Revolution, Glanz dahinter.
Autor
Die Textvorlage Adlers/Laus
war mutmaßlich nicht der Reprint des Mayschen Opus magnum "Der verlorene
Sohn oder Der Fürst des Elends. Roman aus der Criminalgeschichte vom
Verfasser des Waldröschens" (1970), innerhalb dessen "Die Sklaven
der Arbeit" eine relativ abgeschlossene Episode darstellen, sondern die
Taschenbuchausgabe dieser Episode, die 1974 innerhalb der Reihe "Das Schmöker
Kabinett" im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen war. Dieser Hinweis
auf die Vorlage der Adaption ist deshalb nicht überflüssig, weil
er zeigt, daß ein Interesse an trivialen Genres, an unterhaltender
spannender Literatur auch außerhalb der Funkhäuser weiter verbreitet
war. Die Bemühungen des Hörspiels auf diesem Feld lassen sich
also nicht einfach als erneuten Versuch seiner Popularisierung, als Wendemanöver
aus der vermeintlichen Sackgasse des Neuen Hörspiels erklären,
sondern sind auch ein Programmangebot im Rahmen eines größeren
öffentlichen Interesses. Autoren und Dramaturgien lagen also in einem
Trend, den der Konservative Hans Jürgen Baden als "Tarzans Rückkehr"
apostrophierte, als "Die Wiederentdeckung der Trivialliteratur", wobei
er kritisierte:
Zitat
Die eigentliche Literatur
spielt sich heute auf engstem Raume ab, sie ist eine hermetische Angelegenheit
geworden, welche nur noch ihre Produzenten und einen kleinen Kreis differenzierender
Leser beschäftigt. Hier herrschen die Riten eines Klubs oder eines
Ordens, wo man sich durch Stichworte, durch geheime Bilder oder Chiffren
verständigt. In den Akademien und literarischen Klubs tagt man unter
Ausschluß der Öffentlichkeit (die Öffentlichkeit würde,
trotz bestem Willen, kaum etwas verstehen), man prämiiert Bücher,
die für einen weiteren Kreis unlesbar sind, und Autoren, welche niemals
eine echte Publizität gewinnen.
Autor
Wir müssen hier noch
einmal an die kritischen Einwürfe Heinz Schwitzkes und Christoph Buggerts
erinnern, die wir eingangs zitierten. Von "publikumsferner 'Elitekunst"'
war da - bezogen auf das Neue Hörspiel - die Rede, welche die Hörer
verprelle, statt um ''Publikumsgunst" zu ringen (Schwitzke), von einer
"Gattung ohne Antwort", einer "hermetischen Kunstform'', "die ihre Legitimation
aus dem positiven Echo einiger am Totalexperiment interessierter Kritiker"
bezöge (Buggert).
Schwitzkes Vorwurf, das Hörspiel habe auf Kosten des Hörers experimentiert, entspricht der Vorwurf Badens, die Literatur habe "auf Kosten des Lesers experimentiert" und ihn derart "rasch und gründlich" vergrault. Nun sieht Baden, und deshalb zitieren wir ihn eigentlich, zwischen einer "Literatur ohne Leser" (Jules Romains) und der "Wiederentdeckung der Trivialliteratur" einen ursächlichen Zusammenhang.
Zitat
Durch die Schuld jener kleinen,
aber lautstarken Gruppe, die sich ins experimentelle Ghetto zurückgezogen
hat, schließt die Trivialliteratur ins Kraut und verdirbt den literarischen
Geschmack eindeutig, unwiderruflich. Zwischen diesen beiden Extremen aber
öffnet sich ein Vakuum, ein Niemandsland, das literarisch inzwischen
unbestellbar wurde.
Autor
Und Baden unkt:
Zitat
"Falls nicht der Fernsehschirm
die Lesegewohnheiten völlig zerstört, bleibt dem Leser bald nur
noch jene Literatur, die wir summarisch als 'trivial' umschrieben haben.
Diese Entwicklung ist zwangsläufig, und keine sentimentalen Beschwörungen
vermögen an ihr etwas zu ändern. Tarzan kehrt zurück, er
okkupiert endgültig mit Gebrüll, Steinschleuder, geraubten Frauen
die literarische Szene."
Autor
Die Hörspielentwicklung
der 70er Jahre (von der Leseliteratur haben wir hier nicht zu sprechen)
hat auf Badens Befürchtungen eine klare Antwort gegeben. Hörspieldramaturgien
und Funkhäuser hat Tarzan bisher jedenfalls nicht besetzt, und ob
ihm dies mit den privaten Kanälen gelingen wird, bleibt eine Frage
für die Zukunft. Stattdessen ist es den Autoren der 70er Jahre gelungen,
aus einem zunehmenden öffentlichen Interesse an trivialer, oder besser:
an populärer Literatur Kapital zu schlagen, dem Hörspiel, nachdem
es seine Formvielfalt zurückgewonnen hatte, nun auch eine inhaltliche
Spielbreite zu geben, wie sie einem Rundfunkprogramm für Mehrheiten
und Minderheiten in einem Spannungsfeld zwischen kulturellem Anspruch und
Unterhaltungsbedürfnis entspricht. Daß kultureller Anspruch
und Unterhaltungsbedürfnis, Mehrheit der Hörer und Minderheit
der Hörer nicht nur eine Herausforderung an die Programmplanung, sondern
als unauflösbarer Widerspruch dem Programm immanent sind, bedarf keiner
gesonderten Ausführung. Jedes Programm würde ohne diese Herausforderung
und diesen Widerspruch aufhören, lebendig zu sein: auch ein Hörspielprogramm
mit offener Dramaturgie. So kam in den 70er Jahren bei breit gefächertem
Angebot auch der zu seinem Recht, der bei Krimi und Science Fiction das
gängige Muster erwartete. Aber es wurde ihm zugleich angeboten, seine
Erwartungen in Frage stellen zu lassen, seinen Erwartungen zuwider auf
Fragen zu stoßen, die er hier und so nicht erwartet hatte, zu erfahren,
daß seine erwarteten Muster Muster von zweifelhaftem Wert waren.
Der "Krimi am Samstag" auf der einen und die Hörspiele Walsers mit
dem Privatdetektiv Thassilo S. Grübel auf der anderen Seite, die Bearbeitung
von Alfred Besters Roman "Demolition" hier und die Science-Fiction-Spiele
von Richard Hey, Walter Adler und Ror Wolf und anderen dort - und zwischen
allem eine Vielzahl von Möglichkeiten.
Daß Hörspieldramaturgien durchaus in Stoffverlegenheit kommen können, muß hier, nicht nur aus Gründen der Kuriosität, eingefügt werden. Gerade im Falle des Science-Fiction-Hörspiels gab es Anfang der 70er Jahre Engpässe. Unter anderem deshalb wurde 1972 von der Wissenschaftsredaktion des Süddeutschen Rundfunks und der Hörspielabteilung des Westdeutschen Rundfunks ein Science-Fiction-Wettbewerb ausgeschrieben. Von insgesamt 240 eingereichten Arbeiten kamen 11 in die engere Wahl, 4 wurden schließlich ausgezeichnet, darunter "Rückkopplung" von Dieter Kühn. Es ist keinesfalls Science Fiction, sondern Senderalltag, daß 10 Jahre später der Reihe "Science Fiction als Radioliteratur" der Wissenschaftsredaktion des Süddeutschen Rundfunks das Mikrophon zugedreht wurde: aus Einsparungsgründen, wobei ganz offensichtlich Programmplanung, die angeblich immer im Interesse des Hörers sein soll, schlicht gegen den Hörer gemacht wurde, der sich möglicherweise für dieses Desinteresse an einem künftigen Privatangebot schadlos halten wird, dessen Qualität nicht garantiert werden kann. Ein Blick Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre ist das Bedürfnis der Hörer nach und entsprechend das Programmangebot von Science Fiction deutlich zurückgegangen, aber immer noch hinreichend vorhanden. So hat erst Anfang dieses Jahres die Redaktion der FUNK-Korrespondenz den Leiter des Hörspiels beim Bayerischen Rundfunk, Dieter Hasselblatt, aufgefordert, "einen Beitrag über Science Fiction und Hörspiel zu schreiben". Hasselblatt, der sich schon wiederholt zu diesem Thema geäußert hatte, bei einschlägigen Hörspielen Regie führte und dem Genre in den 70er Jahren eigene Stücke beisteuerte, antwortete unter dem Richard Hey entlehnten Motto "Wahrheit erfinden" mit einer ihm eigenen -
Zitat
"eigenwilligen Mischung
aus Plädoyer und Apologetik" (FUNK-Korrespondenz),
Autor
aus Erhellendem und Kurzschluß,
die geeignet ist, den ersten Teil unserer Überlegungen zum Hörspiel
der 70er Jahre abzuschließen. Ausgehend von einer Vermutung des Philosophen
Gotthard Günther, die Science Fiction sei möglicherweise das
"literarische Symptom eines totalen Ausbruchs aus der klassisch-abendländischen
Tradition des Denkens", ausgehend ferner von der Trennung C.P. Snows zwischen
der Kultur einer "literarischen" und der einer "naturwissenschaftlichen
Intelligenz", zwischen denen (nach Hasselblatt) heute kaum mehr eine Verständigung
möglich sei, plädiert Hasselblatt vehement gegen eine "Literaturliteratur"
und für die Science Fiction, "deren erfundene Wahrheiten es gibt und
doch nicht gibt", als der einzig legitimen "Haltung gegenüber Technik,
Technologie, gegenüber Konflikt-Problematiken". Ihr käme dabei
das Hörspiel fast automatisch entgegen.
Zitat
"Denn im Hörspiel begegnen
sich dramaturgisch-radiophonische Möglichkeiten mit gängigen,
beliebten und science-fiction-typischen Erzähltechniken. Wie zum Beispiel:
Zeit und Raumreisen in Sekundenschnelle - das entspricht im Hörspiel:
Schnitt und Blende, dem Sofort-Wechsel von Situation zu Situation; oder
aber Telepathie, die in die Gedanken einfließende Sprache Anderer.
- Das entspricht im Hörspiel dem inneren Monolog, einem uralten hörspieldramaturgischen
Kunstgriff. Darüber hinaus mobilisiert und erfordert das Hörspiel
die mitdenkende Phantasie des Hörers - genauso wie Science Fiction
für den Mitvollzug die Phantasie des Rezipienten braucht, die vermittels
Phantasie ausstaffierende Imagination des SF-Lesers erfordert."
Autor
Und an anderer Stelle:
Zitat
Die Bezeichnung 'Hörspiel'
ist ebenso alt und ebenso nichtssagend wie die firmierende Formulierung
'Science Fiction'. Beides zugleich inhaltlose und geschichtsträchtige
Etikett-Vokabeln; sie entstanden ungefähr im gleichen Geschichtsaugenblick,
nämlich in der zweiten Hälfte der 20er Jahre. Hörspiel ist
keineswegs eine festfixierte literarische Gattung, kein Genre; sondern
ausschließlich eine Verfahrensweise eines Mediums. Analoges gilt
für 'Science Fiction'.
Autor
Sicherlich ließe sich
diese Liste der Korrespondenzen fortführen, vielleicht sogar in eine
gewisse Systematik bringen. Doch enthält sie zuviel Kurzschlüssiges
und in sich Widersprüchliches, um schlüssig zu werden. Aus der
ungefähren Gleichzeitigkeit des erstmaligen Auftauchens zweier Bezeichnungen
folgt solange nichts, solange sich kein kausaler Zusammenhang herstellen
läßt; auch datiert die Bezeichnung Hörspiel bereits aus
dem Jahre 1924. "Dem Sofort-Wechsel von Situation zu Situation" entspräche
mit gleichem Recht der schnelle Ortswechsel einer Nachrichtensendung, und
eher hier wäre - eingedenk zum Beispiel der "akustischen Filme" Alfred
Brauns - das Vorbild für die im Hörspiel möglichen Zeit-
und Raumsprünge zu suchen. Zur Beglaubigung der These einer Wahlverwandtschaft
der "Verfahrensweisen" Science Fiction und Hörspiel reicht eine solche
eher zufällige Liste der Korrespondenzen also keinesfalls aus, allenfalls
als Hinweis darauf, daß und warum sich Hörspiel auch als Vehikel
für Science Fiction eignet, daß und warum Science Fiction als
Hörspiel stattfinden kann. Aber das haben nicht erst die Hörspielprogramme
der 70er Jahre bereits in praxi bewiesen.