O-Ton
Bill Fontana: Metropolis
Köln (auch den folgenden Text zunächst zäsurierend)
Autor
So oder ähnlich hörten
zwischen dem 27. September und dem 1. Oktober 1985 zahlreiche Passanten
des Roncalli-Platzes, was ihnen die Rheinmetropole Köln akustisch
zu bieten hat. Gewiß, wer Ohren hat, zu hören, konnte dies immer
schon wahrnehmen. Punktuell bei einem Besuch des Zoos, im Vorbeieilen an
einer der zahlreichen romanischen Kirchen, während einer Uferpromenade,
auf dem Hauptbahnhof oder dem Flughafen. Aber was er dort ortsbedingt und
eher unbewußt wahrnahm, hörte er diesmal ortsfremd, simultan,
in Beziehung zueinander gesetzt, komponiert nach den Regeln einer KlangKunst.
In ihrer Übertragung und überraschenden Kombination wurden aus
alltäglichen plötzlich Kunstgeräusche, aus akustischer Realität
ein musikalisches Ambiente - Hörspiel.
Bill Fontanas KlangSkulptur "Metropolis Köln" war aber nicht nur das vielbeachtete Wahrzeichen der "1. Acustica International", es ist auch in mehrfacher Hinsicht geeignet, die abschließende und resümierende Lektion meines Versuchs einer Geschichte und Typologie des Hörspiels zu präludieren.
1. weil Bill Fontanas "Metropolis Köln" im Kontext der anderen Beispiele der Metropolis-Reihe des WDR 3-Höspielstudios auch eine akustische Antwort auf die aktuellen Regionalisierungstendenzen des Rundfunks gab, in - wie die Reaktionen belegen - überzeugender Weise statt Stadtradio Radio Stadt demonstrierte.
2. weil Bill Fontanas KlangSkulptur, auch wenn es nicht so aussah, als "Hörsensation" (Heißenbüttel), als überraschend wahrgenommenes Hörereignis und in diesem Sinne akustisches Happening, kurz: als Hörspiel des Rundfunks als seines Herstellers und Verlegers bedarf.
3.. weil dieses akustische Porträt der Stadt Köln auch dem Laien die Erweiterung deutlich machte, die der Hörspielbegriff seit Etablierung des Neuen Hörspiels erfahren hat. Wobei im historischen Rückblick zu ergänzen ist, daß mit dieser Erweiterung Hörspielpositionen wieder besetzt werden können, die entwicklungsgeschichtlich in Vergessenheit geraten waren.
4. verweist die von Bill Fontana gewählte Charakterisierung des Hörspiels als "KlangSkulptur" auf einen größeren, für das 20. Jahrhundert signifikanten Zusammenhang: die Tendenz zur Vermischung der Kunstarten. Konkret und in diesem Fall die Verbindung akustischer und bildender Kunst: Klang und Skulptur.
O-Ton
Bill Fontana: Metropolis
Köln
Autor
Wenn die heutige Sendung,
den Versuch einer Typologie und Geschichte des Hörspiels abschließend,
primär die "1. Acustica International" bilanziert, geschieht dies
vor dem Hintergrund einer auffällig zwiespältigen Hörspiellandschaft,
heftiger Kontroversen über Zukunft und Chancen des Hörspiels
in einer sich verändernden Medienlandschaft. Es geht also auch um
die Beantwortung der Frage, ob diese erste "Acustica" noch einmal "die
bunte Pracht einer Radiokultur" entfaltete, die nach Meinung Friedrich
Knillis augenblicklich "ihren Herbst erlebt" (medium 10/1985), oder ob
sie Tendenzen und Impulse bündelte einer Entwicklung des Hörspiels,
die sich im Laufe der Lektionen der "Geschichte
und Typologie des Hörspiels" immer deutlicher als genuin erwiesen
hat und demnach auch in die Zukunft weist. Auffällig bestätigte
nämlich die "1. Acustica International" in differenzierter Weise,
was die erste Lektion nur erst vermuten konnte.
Einspielung oder
Zitat
Wenn ich es historisch richtig
sehe, entstand das Hörspiel also in einer Zeit der Gattungsunsicherheit,
der Gattungsvermischungen. Wenn man dies als richtig unterstellt, läßt
sich von hier aus leicht weiterfragen, ob nicht auch andere Tendenzen einer
sogenannten Kunstrevolution innerhalb des Hörspiels ebenso wie im
Film ihre Spuren hinterlassen haben. Ich meine etwa die Annäherung
der einzelnen Kunstarten bis zur gelegentlichen Überschreitung ihrer
gemeinsamen Grenzen. Bezogen aufs Hörspiel etwa eine Annäherung
von Sprache und Musik. In demselben Maße, wie Döblins programmatische
Hörspielrede die Gattungsunsicherheit für das Hörspiel umformuliert,
schlägt sich von Döblin auch hypothetisch leicht ein Bogen zum
italienischen Futurismus und seinen Entdeckungen der Simultaneität
und des Bruitismus. [...]
Meine Skizze macht, so meine
ich, bereits deutlich, daß man statt von einer fixen Poetik sinnvoller
von einem poetologischen Prozeß sprechen sollte, der ebensowenig
von einem allgemeinen Prozeß der Entwicklung der Künste abgelöst,
wie er von der technischen Entwicklung des Mediums getrennt werden kann.
Autor
Daß und in welchem
Maße dieser Prozeß immer noch in Gang ist, hat die "1. Acustica
International" ebenso belegt, wie sie die Vermutungen im einzelnen bestätigte.
Unter dem Thema "Komponisten als Hörspielmacher" wiederholte sich
dabei eine Konstellation, wie sie sich schon einmal in den Anfängen
der Hörspielgeschichte ergeben hatte, als es vor den Literaten vor
allem Musiker waren, die sich Gedanken über ein akustisches Eigenkunstwerk
des neuen Mediums Rundfunk machten. Zwei gegenübergestellte Zitate
können hier den Abstand und zugleich Gemeinsamkeiten deutlich werden
lassen, auf die jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Hörspiel
wird achten müssen. Das erste Zitat ist aus dem Jahre 1925 und stammt
von Kurt Weill:
Zitat
Nun können wir uns
sehr gut vorstellen, daß zu den Tönen und Rhythmen der Musik
neue Klänge hinzutreten würden, Klänge aus anderen Sphären:
Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden,
Wasser, Bäumen und dann ein Heer neuer, unerhörter Geräusche,
die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn
Klangwellen übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht
und neugeboren werden würden. [...] Ein solches Opus dürfte kein
Stimmungsbild ergeben, keine Natursymphonie mit möglichst realistischer
Ausnutzung aller vorhandenen Mittel, sondern ein absolutes, über der
Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk mit keinem anderen Ziel als dem
jeder wahren Kunst: Schönheit zu geben und durch Schönheit den
Menschen gut zu machen und gleichgültig gegen die Kleinlichkeiten
des Lebens.
Autor
Das zweite Zitat stammt
von John Cage und ist dem Programmheft der "1. Acustica International"
entnommen:
Zitat
Ich wollte eine Musik machen,
frei von Melodie und frei von Harmonie und frei von Kontrapunkt - frei
von musikalischer Theorie. Ich wollte nicht, daß es Musik im Sinne
von Musik wird, sondern ich wollte, daß es Musik wird im Sinne von
"Finnegans Wake", aber nicht eine Theorie über Musik. Ich wollte das
Buch in Musik umsetzen. Ich wollte, daß die Musik unmittelbar aus
"Finnegans Wake" selbst hervorgeht und nicht Musik für sich selbst
ist [...] Ich war schon lange zuvor [Ende der vierziger Jahre] zu dem Schluß
gekommen, daß der Sinn der Musik und ich glaube, auch des Hörspiels
darin besteht, den Geist zu ernüchtern und zu beruhigen, um ihn so
für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen. Das
ist der traditionelle Grund, Musik zu machen; und ich habe ihn, seit ich
ihn kenne, immer akzeptiert.
Autor
So unterschiedlich in der
Funktionsbestimmung, so einig sind sich beide Zitate in ihrer Hochschätzung
der Musik als eines Mittels seelischer Bereicherung. Das deckt sich nur
zu Teilen mit dem Rundfunkkonzept eines unterhaltenden Mediums, meldet
aber Ansprüche an, die von einem modernen Medium auch befriedigt werden
wollen, sei es als "absolute Radiokunst", sei es im Hörspiel.
Vor allem die hörspielgenetische Rolle der Musik stand denn auch in mehreren Referaten von Juan Allende-Blin, Reinhard Döhl und Rudolf Frisius auf der "1. Acustica International" zur Debatte. Und wie schon oft wurde, da er immer noch nicht korrekt gelesen wird, Alfred Döblin bemüht.
Einspielung
Hörspielgeschichte
und -theorie zitieren gerne aus Alfred Döblins berühmter Kasseler
Rede von 1929, und sie zitieren hier mißverständlich verkürzt
als Definition: "Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise,
unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in
Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich
die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche,
für ihre Zwecke nutzbar machen."
Wenn ich sage, daß dies mißverständlich verkürzt zitiert wird, meine ich erstens, daß als Defintion des Hörspiels genommen wird, was Döblin als Prospekt meint: "In Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden". Zweitens wird in der Regel überlesen, daß Döblin in seinem Prospekt eine Verbindung mit den "anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräuschen" herstellt. Und drittens bleibt unberücksichtigt, was Döblin über diese Möglichkeiten des Rundfunks und ihre Rangfolge zu Beginn seiner Rede festgehalten hat. Das "akustische Instrument" Rundfunk vermittle, sagt er dort, "seiner Natur nach Töne und Geräusche, da ist ungleich wichtiger als die Literaturvermittlung für ihn die Verbreitung der Musik. Warum die Musik? Das folgt einmal aus dem riesigen Umfang der Hörermasse. Die Musik ist einfach universeller als die Literatur, allgemein leichter verständlich, und darum ist sie die gegebene Kunst des Rundfunks. Neben die Musik tritt dann als wichtiges Gebiet des Rundfunks die Nachrichtenverbreitung, die Journalistik, die gesprochene Tageszeitung.
Daß der Rundfunk am schnellsten Nachrichten übermittelt und sie auch rasch ausmünzen kann, sichert diesem Instrument einen ganz hervorragenden Platz unter den Verbreitungs- und Wirkungsmitteln. Ich möchte glauben, wir tun nicht unrecht, wenn wir sagen: erst an dritter Stelle kommt das Gebiet [...] der geformten Sprache, der Literatur.
Autor
Aber nicht nur um die gattungsgenetische
Rolle der Musik ging es in diesen Referaten, sondern allgemein um die Spurenelemente
einer Kunstrevolution in der Entwicklung zum und in | den Ausprägungen
des Neuen Hörspiels. Als "komplexes Produkt aus unterschiedlichen
Traditionen" beschrieb es Juan Allende Blin in einer "Archäologie
des Hörspiels", in der er "die verschiedenen Elemente" zusammentrug,
"die schließlich" zu seiner "heutigen" Gestalt "führen", deren
Wurzeln aber in den unterschiedlichsten Kunstarten auszumachen waren, zum
Beispiel auch in der als "chromatische Musik" aufgefaßten abstrakten
Malerei Arnaldo Ginnas und Bruno Corras, in den "Farbklängen" Kandinskys.
Vor allem einigen Aufsätzen Guillaume Apollinaires verdankt hier die
Spurensicherung manchen Hinweis, vor allem auf die Vorgeschichte der "Parole
in libertà", aber auch die Simultaneisten Valentine de Saint-Point,
Sébastian Vortol, Fernand Divoire und Henri-Martin Barzun. "In Kürze",
war Apollinaire bereits 1914 überzeugt -
Zitat
In Kürze werden die
Dichter mit Hilfe der Schallplatten wahre symphonische Dichtungen in die
Welt hinauswerfen. Dank dafür sei dem Erfinder des Phonographen, Charles
Cros, er stattet, der so die Welt mit einem Ausdrucksmittel versehen hat,
das mächtiger und direkter ist als die menschliche Stimme, wenn sie
durch Schrift und Typographie imitiert wird. Dank dafür sei den Musikern
erstattet: Dank dafür an Jules Romains. [...] Zu der horizontalen
Poesie, die man nicht fallen lassen wird, gesellt sich eine vertikale oder
polyphone Poesie, von der man starke und überraschende Werke erwarten
darf.
Autor
Apollinaire war es auch,
der als erster in Konsequenz erkannte, wohin diese zahlreichen, von Juan
Allende-Blin nicht einmal vollständig aufgelisteten Spuren wiesen.
In seinem gelegentlich als "Testament" apostrophierten berühmten Aufsatz
"L'Esprit nouveau et les Poètes" entwirft er nämlich 1918 einen
Prospekt einer ästhetischen Entwicklung zur Synthese der Künste,
überzeugt, daß ernsthaft künstlerische Produktion zunehmend
in Konkurrenz zu den neuen Medien "cinéma" und "phonographe" treten
werde und müsse.
Zitat
Es wäre sonderbar gewesen,
wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin, das Kino,
ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren
und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen
der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen
werden
sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter,
da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen
geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden.
Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln,
über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten
versuchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte und
bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite
die ganze Welt, ihre Geräusch- und Erscheinungsformen, das Denken
und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und
alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf
dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung
haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.
Autor
Die Vereinfachung sei einmal
erlaubt: daß das, was Apollinaire hier für die Zukunft prognostizierte,
die Ablösung der Buch- durch eine visuelle und akustische Kultur der
elektronischen Medien ist, noch einmal vereinfacht: durch die Kultur des
Films und des Hörspiels, die dabei in ihrer Entwicklung wesentlich
mehr von den Errungenschaften der Kunstrevolution bestimmt wären als
von ihrem kulturellen Vorläufer: dem Buch.
Nicht aus den traditionellen
Gattungen der Literatur wäre das Hörspiel dann herzuschreiben,
sondern aus den Grenzüberschreitungen der Kunstarten, nicht in Abgrenzung
zur Literatur wäre es zu definieren, vielmehr in seiner konkurrierenden
Position gegenüber dem Film. Und genau dazu brachten die akustischen
Beiträge der "1. Acustica International" implizit, die auf ihr gehaltenen
Referate explizit manchen Hinweis.
So diskutierte Juan Allende-Blin in seiner "Archäologie des Hörspiels" ausführlich die Leistungen Wertows, der bereits 1916 ein "Laboratorium des Gehörs" gegründet hatte, dessen Ziele sich wie ein Beleg zu Apollinaires Prospekt lesen:
Zitat
In meiner Jugend begann
mein Interesse für die verschiedenen Mittel dokumentarischer Aufzeichnungen
der hörbaren Welt, für die Montage stenographischer Aufzeichnungen,
für Grammophonaufzeichnungen u.a. In meinem "Laboratorium des Gehörs"
machte ich sowohl dokumentarische Kompositionen wie auch musikalisch-literarische
Wortmontagen.
Autor
Von dieser Laboratoriums-Arbeit
haben sich weder Belege noch brauchbare Beschreibungen erhalten, vielleicht
auch, weil sich Wertow, wie viele andere damals, dem mit größeren
Hoffnungen besetzten Ausdrucksmittel Film zuwandte. Filmgeschichte machte
Wertow, der in der einschlägigen Literatur gerne mit Kuleschow,
Eisenstein, Pudowkin und Dowjenko in einem Atemzug genannt wird, 1930 mit
der "Simfonija Donbassa" ["Donbas-Symphonie], einem Tonfilm, bei dem es
nicht einfach um ein sich Decken von Bild und Ton ging, sondern um "komplizierte
Wechselwirkungen von Bild und Ton". Speziell diese "Wechselwirkungen" veranlaßten
Juan Allende-Blin denn auch, Wertows "Simfonija Donbassa" in seiner "Archäologie
des Hörspiels" auszugraben.
Einspielung oder
Zitat
Hören Sie bitte einige
Ausschnitte der Ton- und Geräuschmontagen von Wertow aus seinem Film
"Simfonija Donbassa" aus dem Jahre 1930. Die Instrumentalmusik dazu komponierte
Juri Saporin.
a) Zuerst hören Sie
das Tic-Tac einer Uhr, dann Glocken und eine kirchliche Musik auf einem
Harmonium gespielt. Danach kommt eine erstaunliche Collage.
b) Nach einem Agitationsmarsch
folgt eine neue Collage.
c) Jetzt hören Sie
eine sehr differenzierte Musik mit unterschiedlichen Sirenen.
d) Maschinengeräusche.
Autor
Allerdings, als Wertow im
November 1931 seinen Film in Berlin vorführte, war dort bereits ein
hörspielgeschichtliches Ereignis über den Sender gegangen: die
Tonmontage "Weekend" des Filmemachers Walter Ruttmann (13. Juni 1930).
Sie ist, auf Tonfilmstreifen aufgezeichnet, erhalten geblieben und vor
einigen Jahren wiederentdeckt worden.
Einspielung
Walter Ruttmann: Weekend
Autor
Bis zu dieser Wiederentdeckung
war, und danach zitierte auch eine frühe Sendung der "Geschichte und
Typologie", eine rückblickende Charakteristik Hans Richters in "Köpfe
und Hinterköpfe" die einzige Informationsquelle. Und die rückte
Ruttmanns Montage in eine vergleichbare Nähe zu Kurt Weills Prospekt
einer "absoluten Radiokunst".
In "Weekend", zitiert Richter zunächst das Lob Wsewolod Illarionowitsch Pudowkins, habe Ruttmann "das Problem des Tones durch assoziative Montage auf die freieste Weise und grundsätzlich gelöst". Und Richter fügt hinzu:
Zitat
Dadurch, daß Ruttmann
den Ton nicht wie im Sprechfilm naturalistisch behandelte - das heißt,
wenn einer den Mund aufmacht, dann müssen auch Worte herauskommen
-, sondern schöpferisch musikalisch, hatte er tatsächlich die
künstlerische Domäne des Tonfilms bestimmt. Aus isolierten Tonimpressionen
bildete er neue Einheiten: vom Drängeln und Pusten der Sonntagsausflügler
auf dem Bahnhof, dem Rattern des Zuges, dem Trampeln, Singen und Schimpfen,
dem Schnarchen, Spielen und Zanken der Ausflügler bis zur Stille der
Landschaft, nur unterbrochen vom Flüstern der Liebenden, bis zum Heimschleppen
der weinenden Kinder - alles im Ton wie eine Perlenkette aneinandergereiht.
Autor
Trotz seiner vielbeachteten
Aufführung durch die Funk-Stunde Berlin, seiner Einschätzung
als eines "Meisterwerks [...], das auch heute noch dem Studenten des schöpferischen
Tons Anregungen und Einsicht geben sollte" (Richter), blieb aber Ruttmanns
"Weekend" hörspielgeschichtlich folgenlos, wird es bis heute in den
einschlägigen Hörspielgeschichten nicht einmal dem Titel nach
erwähnt, in der aktuellen Hörspieldiskussion als Argument nicht
gezählt. Dabei müßten sich Hörspielforschung und -diskussion,
selbst wenn sie Apollinaire nicht folgen wollen, schon wegen der Affinität
zum Film seiner annehmen. Denn "Weekend" wurde nicht nur auf Filmtonstreifen
aufgezeichnet, geschnitten und montiert, in seine Komposition sind auch
sonst, wie die Erinnerung Richters belegt, Erfahrungen des Filmemachers
Ruttmann eingegangen.
Zitat
Außer der rein objektiv
gerechtfertigten Zustimmung Pudowkins zu Ruttmanns Tonfilmexperimenten
mag noch ein anderer Grund zu Pudowkins offen zur Schau getragener Begeisterung
beigetragen haben. Ruttmanns Technik der assoziativen Tonmontage war im
Prinzip nichts anderes als die Übertragung der russischen Bildmontage
auf den Ton. Daß Ruttmann diesen Schritt getan hatte, war sein außerordentliches
Verdienst.
Autor
Dies zu betonen ist insofern
notwendig, als damit die hörspiel-archäologische Leistung
Wertows genauer eingeschätzt werden kann. Aufbauend auf seinen Erfahrungen
aus dem "Laboratorium des Gehörs" begriff er die Leistung Ruttmanns
vielleicht am besten, blieb es vor allem ihm vorbehalten, in der "Simfonija
Donbassa" "den Ton [...] im Sinne Ruttmanns ausführlich zu benutzen
und weiterzuführen" (Richter).
Aber nicht nur deshalb ist ein Rückblick auf "Weekend" im Bilanzieren und Resümieren dieser Sendung von Bedeutung, er ist zweitens erhellend im Vergleich mit Kurt Weill, der seine bereits mehrfach genannten Überlegungen zu einer "absoluten Radiokunst" ebenfalls auf eine "wirklich eigene Filmkunst (ohne) Handlung" bezogen hatte. Der absolute Film sei eine"'melodische' Kunst", die "nach [...] musikalischen Gesetzen" erarbeitet sei. Die "absolute Radiokunst" eine Erweiterung der Musik.
Aber nicht nur der außenstehende Komponist Weill, auch die Rundfunkpioniere Fritz Walter Bischoff, Hans Flesch und Alfred Braun, zum Beispiel in seinen "akustischen Filmen", haben sich immer wieder auf das konkurrierende Medium bezogen. Und ein weiterer "Geniestreich" (Richter) des Filmemachers Ruttmann berührt die Hörspielgeschichte wenigstens am Rande.
Zitat
Zu Beginn des Films ertönen
im nebligen Hafen von Hamburg (man sieht nur vage Umrisse) die Nebelsirenen
der Schiffe. Einige haben hohe, andere haben tiefe Töne, manche sind
kurz, manche lang, manche haben mehrere Sirenen oder benutzen die eine
stoßweise, andere hingegen in langen klagenden Seufzern. Ruttmann
machte daraus eine regelrechte Symphonie von Tönen, die eine neue
musikalische Dimension erleben lassen, wie sie heute in der Musique concrète
"wiederentdeckt" wurde.
Autor
Diese sich hier andeutende,
die Hinweise Juan Allende-Blins bestätigende Bedeutung des Films und
seiner Ästhetik für die Entwicklung des Hörspiels ist von
den Sachverwaltern des Hörspiels als Literatur, als Wort- und Sprachkunstwerk
bis heute ebenso vergessen oder gründlich verdrängt worden wie
die konstitutive Rolle der Musik. Wobei ihnen entgegenkam, daß die
Experimente der Musiker, der Wurf Ruttmanns hörspielgeschichtlich,
aber parallel dazu auch filmgeschichtlich, zunächst folgenlos blieben.
Denn, notiert es Hans Richter:
Zitat
Die Möglichkeit, Schauspieler
wie auf der Bühne ihre Sätze sprechen zu lassen, war zu verführerisch
und zu naheliegend und so wurde der sprechende Film die Ursache, daß
der Film als Kunstform wieder zwanzig Jahre zurückgeworfen wurde.
Autor
Eine Einschätzung,
die sich leicht auf die Hörspielgeschichte ummünzen läßt.
Dennoch: zwanzig Jahre später wird die von Ruttmann, Wertow und anderen
entdeckte "neue musikalische Dimension" in der Musique concrète
"wiederentdeckt", fließt sie über die Experimente des Club d'Essai
und die Entwicklung der Hörspielgeschichte, einer elektronischen Musik
gleichsam vermittelt wieder zu, wird sie erst eigentlich jetzt in ihrer
Bedeutung erkannt.
Von hier aus schlägt sich der Bogen jetzt leicht zur "1. Acustica International", und dies sogar auf mehrfache Weise. Zunächst einmal zu Pierre Henry, der 1951 mit einer konkreten Szenenmusik zu Arthur Adamovs "Das große und das kleine Manöver" debutierte. Pierre Henry war Mitarbeiter Pierre Schaeffers im Club d'Essai, und ihre gemeinsame "Symphonie pour un homme seul" von 1950 ist, wenn auch kein Hörspiel, so schon deshalb interessant, weil sie, wie Fred K. Prieberg festhält, eigentlich "dem musikalischen Techniker im Studio" gewidmet ist, "der Tage und Nächte verbissen an der Verwirklichung seiner Idee arbeitet, ohne daß irgendjemand Anteil nimmt".
Einspielung
Pierre Henry/Pierre Schaeffer:
Symphonie pour un homme seul.
Autor
1958 verließ Pierre
Henry die RTF und den Club d'Essai, um eines der ersten elektronischen
Privatstudios, das Studio Apsome zu begründen. Und seit 1982 hat ihn
das WDR3-HörSpielStudio auch mehrfach als "Hörspielmacher" vorgestellt,
zunächst mit "Le journal des mes sons", dem "Tagebuch meiner Töne".
Was für diese Auftragsarbeit charakteristisch war, das Aufbrechen
der Grenzen zwischen "reiner" und "angewandter" Musik, zwischen Musik und
Hör-Spiel, zwischen Musik, Sprache und Radio-Kunst, kennzeichnet auch
die zweite Auftragsarbeit für das WDR 3-HörSpielStudio: "La Ville/Die
Stadt", ein Portrait der Stadt Paris, das 1984 in der Reihe "Metropolis"
zum ersten Mal gesendet wurde. Angeregt war dieses Hörbild, an dem
Henry zwei Jahre gearbeitet hat, durch Ruttmanns berühmten Stummfilm
von 1927, "Berlin, die Symphonie einer Großstadt".
Auf Beziehungen, die zwischen diesem "Querschnittfilm" von 1927 und dem Hörspiel "Weekend" von 1930 bestehen, kann ich hier nicht weiter eingehen, wohl aber erwähnen, daß Walter Ruttmann, der über die Malerei zunächst zum abstrakten und erst dann zu seinen berühmten "Querschnittfilmen" gekommen war, zwischen dem Stummfilm von 1927 und dem Hörspiel von 1930 noch einen Film gedreht hatte: "Melodie der Welt". Bei ihm muß Ruttmann ganz offensichtlich bereits mit dem Ton experimentiert haben, den die spärliche Sekundärliteratur als eine Mischung aus Musik, Geräuschen und Sprachfetzen beschreibt, so daß er hörspielgeschichtlich hier ein wichtiges Verbindungsglied darstellt. Ihn mit Pierre Henrys Hörspiel "La Ville/Die Stadt" zu vergleichen, wäre sicherlich reizvoll, ist aber (zumindest für den Moment noch) nicht möglich.
Pierre Henry hat sich aber von Ruttmanns "Berlin, die Symphonie einer Großstadt" nicht nur zu "La Ville/Die Stadt" anregen lassen, er hat vielmehr in einem zweiten Schritt nach 1984 versucht, Stummfilm und Hörspiel konkret miteinander zu verbinden und diese "Synchronisation" zu einem "Hörspielfilm" "La Ville/Die Stadt. Metropolis Paris/Berlin" am 29. September 1965 auf der "1. Acustica International" im überfüllten großen Sendesaal des WDR erstmalig als "audio-visuelles Konzert" vorgeführt, aus dem die jetzige Sendung wiederum nur den Hörspielpart zitieren kann.
Einspielung
Pierre Henry: La Ville/Die
Stadt. Metropolis Paris/Berlin
Autor
Der Kontext, in dem dieses
"audio-visuelle Konzert" plaziert war, ist durch das Thema des Forum III
auf der "1. Acustica International", "Hörspiel in vielen Medien",
ziemlich genau markiert. Überraschen konnte diese Themenstellung und
die vielfältigen Präsentationen um sie herum allerdings nur den,
der die Hörspielentwicklung der letzten 15 Jahre, fixiert auf ein
regionales Hörspielprogramm, aus Auge und Ohr verloren hat, der übersehen
hat, daß es vor allem Hörspiele in der Tradition des Neuen Hörspiels
waren, die in zahlreichen konzertanten Aufführungen, in Opernhäusern,
Konzertsälen, ja sogar Kirchen, also auch außerhalb des Rundfunks
und zunehmend international Aufmerksamkeit erregten und Anerkennung fanden.
Die beachtliche Liste renommierter Preise, die ihnen praktisch Jahr für
Jahr zugesprochen werden, sind ein weiteres Indiz. Was natürlich die
Frage nahelegt, ob eine hier auffällige Mobilität und Internationalität
des Hörspiels nicht schlicht das andere Extrem zu den Regionalisierungstendenzen
vieler Sender und ihres Hörspielangebots darstellt: Regionalität
bis zum Stadtradio dort, Internationalität hier, angewandtes Hörspiel
dort, grenzüberschreitende akustische Kunst hier, Bearbeitung (welt)literarischer
Vorlagen für ein laufendes Radioprogramm dort, die Zwänge eines
Programmdenkens sprengende Radiokunst hier. Was die von mir für die
Mitte der 70er Jahre diagnostizierte Wasserscheide nicht nur bestätigen,
sondern fast unüberwindbar erhöhen würde.
Vor allem die in der Reihe "Komponisten als Hörspielmacher" seit 1970 plazierten und sich einer "Acustica international" öffnenden Hörstücke sind- sicherlich bedingt auch durch ihre Affinität zur Musik - exemplarisch für eine zunehmende Öffnung des Radios und seiner Kunst nach Außen, für den augenscheinlichen Zusammenhang zwischen offener Form und öffentlich freier Präsentationsmöglichkeit. Hörspiel in vielen Medien umfaßt dabei formal gesprochen das Film-Hörspiel Pierre Henrys ebenso wie das Fernseh-Hörspiel Mauricio Kagels, es ermöglicht die Hörspielsendung von Vinko Globokars "Die gestohlenen Klänge" neben der konzertanten Aufführung im Sendesaal; Gerhard Rühms "Kleine Geschichte der Zivilisation" ist fraglos ein gutes Beispiel seiner Gattung, überzeugend in der Verbindung von Zuspielband und live realisiertem Klavierpart.
Einspielung
Gerhard Rühm: Kleine
Geschichte der Zivilisation (Schluß)
Autor
Daß das "Transitorische
seiner medialen Möglichkeiten" (Programmheft, S. 6) nicht einfacher
Medienwechsel ist, sondern eine durch diesen Wechsel jeweils veränderte
Erscheinungs- und Wirkungsweise des Hörspiels bedeutet, belegen eindrucksvoll
die Studioaufnahme von Mauricio Kagels "Der Tribun. Für einen politischen
Redner, Marschklänge und Lautsprecher" aus dem Jahre 1979 im Vergleich
mit seiner öffentlichen Realisation 1985 auf dem Roncalli-Platz im
Rahmen der "1. Acustica International". Wobei die Unterschiede noch dann
hörbar bleiben, wenn diese öffentliche Realisation wiederum als
Hörspiel gesendet wird.
Einspielung
Mauricio Kagel: Der Tribun
(1979)
Einspielung
Mauricio Kagel: Der Tribun
(1985; dieselbe Sequenz)
Autor
"Hörspiel in vielen
Medien" bezeichnet aber nicht nur die Möglichkeiten des Transitorischen,
es umfaßt auch seine vielfältigen, oft sogar senderunabhängigen
Erscheinungsformen, also auch die KlangSkulptur Bill Fontanas, die Live-Performances
von Malcolm Goldstein oder Alison Knowles, die spezifische Kunstformen
der Moderne für das Hörspiel fruchtbar machen.
Einspielung
Alison Knowles: PapierWetter
Autor
"Hörspiel in vielen
Medien" in Konsequenz ist aber vor allem John Cages "Roaratorio. Ein irischer
Circus über Finnigans Wake", ein musikalisches Kunststück aus
menschlicher Stimme, Geräuschen, Musikpartikeln und Naturlauten, eine
kompositorisch gebündelte Schnitzeljagd auf den Spuren von "Finnegans
Wake".
Wie das Buch Joyces ein "Work in progress" war, wurde Cages Beschäftigung mit ihm zu einem immer neu ansetzenden "Writing through", sein "Roaratorio" zu einem Paradigma aktueller Möglichkeiten des Hörspiels: Hörspiel fürs Radio, konzertantes Raumklang-Hörspiel, Hörspiel-Ballett, getanzt von der Merce Cunningham Dance-Company. Als Live-Performance präsentierte es sich auf der "1. Acustica International" in der Aula der Musikhochschule mit John Cage als Sprecher der Mesosticha, mit den Bohdran-Spielern Peadher und Mel Mercier in einer Klangkomposition aus 2293 Geräuschen über 42 Lautsprecher.
Einspielung
John Cages: Roaratorio.
(Wenn möglich eine Sequenz mit den Bohdran-Spielern Peadher und Mel
Mercier)
Autor
John Cages "Roaratorio",
und das ist bei seiner hörspielgeschichtlichen Bedeutung ein zuzugestehendes
Desiderat, ist in unserer Reihe von mir zwar mehrfach erwähnt, dabei
aber nie seiner Bedeutung entsprechend analysiert worden.
Das kann auch die heutige Sendung nicht nachholen. Sie kann aber, um die hörspielgeschichtliche Bedeutung wenigstens anzudeuten, aus der Laudatio Heinrich Vormwegs jene Passage zitieren, in der Vormweg 1979 in Donaueschingen sein erstes Hörerlebnis mit Cages "Roaratorio" beschrieben hat mit Worten, die sicherlich mancher Zuhörer der Live-Performance von 1985 wird unterschreiben können.
Einspielung oder
Zitat
Ich gehe dabei aus von meinem
Hörerlebnis. Es hatte sozusagen zwei Dimensionen. Mit dem ersten Laut
des "Roaratorio" war ich ganz unmittelbar gefangen in seiner Welt aus sprachlichen
und musikalischen Klängen und einer Vielfalt von offensichtlich zufälligen,
dennoch aus einer mir unerklärlichen Notwendigkeit heraus gesetzten
Geräuschen. Ich war gefangen bei hellstem Bewußtsein. Jeder
Laut für sich und alle die unvorhersagbaren, deshalb geheimnisvollen
und doch frappierend klaren Beziehungen zwischen Wörtern, Klängen
und Geräuschen sagten mir etwas, das mir längst bekannt und zugleich
ganz neu war. Meine Aufmerksamkeit war aufs äußerste provoziert,
denn ich hörte präzis formulierte, mit höchster Genauigkeit
vermittelte Bedeutungen, für die ich jedoch Sätze in meiner gewohnten
Sprache gar nicht erst zu finden suchte, denn daß sie solchen entzogen
blieben, war mir fraglos klar. Das schien mir dann nach einiger Zeit ein
Handikap zu sein. Das "Roaratorio" dauert eine Stunde und losgelöst
von den gewohnten Beziehungsmustern läßt jedenfalls meine
bewußte Wahrnehmungsfähigkeit
nach zwölf, fünfzehn Minuten nach. Doch ganz unerwartet trug
die Geräuschwelt des "Roaratorio" mich weiter. Aus der gespannten
Aufmerksamkeit folgte in leichtem Übergang eine fast spannungsfreie,
erstaunlich klare, genußvolle Gegenwärtigkeit des zu Hörenden.
Das war die zweite Dimension meines Hörerlebnisses. Es geriet - eine
andere Umschreibung weiß ich nicht - zur unverhofften Meditation
über einen wahrhaft menschlichen Lauf der Welt.
Autor
Rückbezogen auf Guillaume
Apollinaires "L' Esprit nouveau et les Poètes" ist John Cages "Roaratorio"
so etwas wie die konkrete Einlösung des Prospekts einer Kunst, "die
viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte", für die dem
Dichter "als Dirigent" ein "Orchester von unerhörter Spannweite" zur
Verfügung steht: "die ganze Welt, ihre Geräusch- und Erscheinungsformen,
das Denken und die Sprache des Menschen, der Gesang, der Tanz, alle Künste
und Künstlichkeiten". Und Cages "Roaratorio" ist dabei nicht, wie
dem Neuen Hörspiel und seiner Entwicklung immer wieder vorgeworfen
wird, zahnlose l'art pour l'art. Von "einer Art Weltmusik" sprach Vormweg
in seiner Laudatio, aber auch davon, daß sie "ein überwältigen
des Gefühl von Offenheit und Hoffnung" gebe.
Einspielung oder
Zitat
Das "Roaratorio" ist eine
große Tafel heutiger Keilschrift, voller Hinweise und Aufschlüsse
und unentzifferbar, sie wird die Interpreten locken. Und es ist ein Medium
der Versenkung oder des Höhenflugs, ist eine Andacht und ein Gelächter,
eine Apotheose des Einverständnisses mit der Welt als eine umgreifende
Utopie zugleich eine radikale Herausforderung, anders in der Welt zu leben.
Eine Utopie der Gleichheit und in ihr erreichten Friedens. Kunst, die einen
Schritt in die Zukunft vorspielt, in eine Zukunft, die diesen Namen verdient.
Autor
Ist das "radiophonischer
Hedonismus", wie Christoph Buggert auf der letzten Tagung der Dramaturgischen
Gesellschaft, zwei Monate nach der "1. Acustica International" in Richtung
des dort so erfolgreichen Neuen Hörspiels und seiner Entwicklung wieder
einmal behauptete? Ist das "intellektuell [...] von beschämender Schlichtheit"?
Blinde "Verabsolutierung der Form"? Plädiert nicht gerade solch akustische
Utopie "für das Humanum", was Buggert für das Hörspiel fordert.
Üben nicht - allerdings in künstlerisch anspruchsvoller Weise
statt in grobhandwerlicher Plattheit - Gerhard Rühms "deutsches Requiem"
"Wald", Rühms "Kleine Geschichte der Zivilisation" oder Mauricio Kagels
"Der Tribun" radikale Kritik an einer sich selbst aufgebenden und zerstörenden
Gesellschaft? "Kagel", hielt es jedenfalls der Evangelische Pressedienst
"Kirche und Rundfunk" fest -
Zitat
Kagel sprach den Tribun
auf dem Roncalli-Platz so echt, traf den Ton demagogischer Rede so genau,
daß ein Passant mich verschüchtert fragte, wer denn der Redner
sei und zu welcher Partei er gehöre. Behaupte noch einer, Radiokunst
habe mit Wirklichkeit wenig gemein, sei ein ästhetisches Elite-(Miß-)Vergnügen.
Autor
Dazu ohne weiteren Kommentar
ein letztes Zitat aus Christoph Buggerts Dramaturgenreferat zur Frage:
"Muß das Hörspiel populärer werden?"
Zitat
Stein des Anstoßes
ist für die Rundfunkzensoren unserer Tage nicht, wie es sich eigentlich
gehörte, diejenige Hörspielform, die wir mit dem Titel Avantgarde
belegen, sondern hin und wieder ein gutes altes Handlungshörspiel,
das sich wenigstens noch an politisch brisante Themen wagt. Auch das formale
Risiko, ist daraus zu lernen, kann ein Indiz der Ängstlichkeit sein,
ein Indiz der Loslösung von Literatur aus der materiellen menschlichen
Existenz.
Autor
Ich habe dies auf der "1.
Acustica International" nicht gelernt. Im Gegenteil ist es für mich
keine Frage, daß die Radiokunst im "Herbst des deutschen Hörspiels",
im Herbst 1985 eine Schlacht gewonnen, nicht verloren hat, daß das
Hörspiel in seiner über 50jährigen Entwicklung es geschafft
hat, sich zukunftsweisend den Künsten des 20. Jahrhunderts zuzuordnen
als eine vielfältige akustische Kunst, über deren Entwicklungs-
und Verbindungslinien mir nachzudenken wichtiger scheint, lehrreicher auch,
als die Kassandra zu spielen. Gewiß: die Situation in den Funkhäusern,
in denen, wie vom Kaninchen auf die Schlange, auf die künftigen privaten
Kanäle gestarrt wird, stimmt nachdenklich. Die "Entmündigung
einer Hörspielredaktion beim RIAS Berlin" (Hostnig), der Rausschmiß
Ulrich Gerhardts und Dr. Garleff Zacharias-Langhans' sind mehr als unerfreulich
vor allem, wenn man die letztjährige Programmentwicklung beim Sender
Freies Berlin, die Öffnung des Hörspielprogramms für eine
sogenannte Audio-Art, die Betreuung so begabter Hörspielautoren wie
Ronald Steckel ("Das China-Projekt"; SFB/SWF/WDR 1965) in Anschlag bringt.
Subjektiv hat Ulrich Gerhardt vielleicht recht, wenn er auf der genannten
Dramaturgentagung die Frage: "Hat das Hörspiel als Radiokunst noch
eine Chance?" nicht nur mit nein beantwortet, sondern auch die Begriffe
Hörspiel und Radiokunst nicht mehr gelten lassen will, da das Radio
sein Monopol für Radiokunst verloren habe, das Wort Hörspiel
durch falsche Besetzungen abgewirtschaftet sei, und schließlich davon
überzeugt ist, daß wirkliche Hörkunst nurmehr außerhalb
der Funkhäuser stattfinde.
Zitat
So radikal verstanden, wie
diese Hörkunst sein wird, lassen sich aber wegen der kulturpolitischen
Zwecke der Sender, ob halbstaatlich oder privat, Zweifel an ihrer Überlebensfähigkeit
in diesen Apparaten anmelden. Falls diese Form am Leben gehalten werden
soll, wird der Druck, mehr Unterhaltsamkeit anzubieten, zunehmen. Diese
Sorte Kunst würde ich dann weiterhin allenfalls Höfische
Kunst nennen, so wie die Nachrichtensendungen dieser Anstalten nichts
anderes sind als Hof- und Polizeiberichterstattung. Dies hat einen klaren
Zweck. Für AUDIO ART wird wenig Platz bleiben. Die wird da entstehen,
wo sie schon längst entstanden ist und ihre Bedingungen findet: in
der Freiheit.
Autor
Objektiv wird man Ulrich
Gerhardt antworten dürfen, daß in der Tat viele jüngere
Beiträge der Hörkunst bereits außerhalb der Funkhäuser
realisiert wurden, zumeist aber im Auftrag einer Dramaturgie. Und daß
es nach wie vor die Funkhäuser sind, die auch für eine solche
Kunst noch die besten Verleger und Verteiler sind. Auch besteht nach wie
vor, ja zunehmend ein Interesse des Publikums an überzeugenden Beispielen
im Fächer zwischen einem Hörspiel, das seinen Namen wirklich
verdient, und einer Hörkunst im Kontext der aktuellen Künste.
Die Hamburger Hörspieltage 1963, die "1. Acustica International" 1985
können dies mit eindrucksvollen Zahlen belegen. Zum Schwarzsehen oder
Schwarzhören besteht also vielleicht doch noch kein Grund. Jedenfalls
für Heinz Hostnig, dem Ende der60er Jahre ausgerechnet beim Saarländischen
Rundfunk in der Entwicklung des Neuen Hörspiels eine bedeutende Rolle
zufiel. "Im Gegenteil", lautete seine Prognose auf der Dramaturgentagung.
Zitat
Ich bin fest davon überzeugt,
daß das Bedürfnis nach dem Diskurs in dem Maße steigen
wird, wie die Bilderfluten des Fernsehens und des Kassenkinos, wie das
seichte Musik- und Wortgeplätschere in den Hörfunkkanälen
überhandnimmt. Gerade für die ARD mit ihrem insgesamt beträchtlichem
Volumen an verfügbaren Sendezeiten und Finanzmitteln ist die Ausgangsposition
des Hörspiels zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Diskurses
derzeit noch immer günstiger als in den meisten vergleichbaren Medien
des Auslandes. Hoffnungsfroh stimmt auch, daß in der ARD weiterhin
beträchtliche Mittel zur Erneuerung von Hörspielstudios und ihrer
technischen Einrichtungen eingesetzt werden. WDR und NDR sind dafür
Beispiele. Wir können uns auch nicht beklagen über kreativen
Nachwuchs bei den Toningenieuren. Er gestattet uns, den Dialog zwischen
Kunst und Technik wenigstens in den Grenzen weiterzuführen, die unserem
Medium aus programmtechnischen Gründen vorgegeben sind. Wünschenswert
wäre allerdings ein von der ARD gemeinsam betriebenes Experimentalstudio,
in dem die Pioniere der Radiokunst ohne Zeitdruck ihre Erkundungen machen
könnten. Manche Privatstudios fangen an, uns hier den Rang abzulaufen.
Autor
Heinz Hostnigs Plädoyer
fordert also nicht zur resignativen Grabpflege eines "Medienbiotops" (Buggert)
auf, sondern in einer richtigen Einschätzung der "Möglichkeiten
der Massenkultur" zur Produktion von "Qualität". Dabei lassen sich
die beiden letzten Sätze des Zitats - auch wenn sie nicht in dieser
Richtung formuliert sind - durchaus auf Pierre Henrys privates Studio Apsome
und die inzwischen legendären Studios des Club d'Essai der ORTF münzen.
Womit auch die Sendung wieder bei dem ihr gemäßen historischen
Diskurs angelangt wäre.
Denn auf die Entwicklung der konkreten Musik im Club d'Essai als einer wesentlichen Voraussetzung moderner Hör- oder Radiokunst verweist nicht nur die Person Pierre Henrys, sondern auch John Cage, nach dem in der "Symphonie pour un homme seul" ein Element "Cage" getauft war, den Pierre Schaeffer in seiner Darstellung der "Musique concrète" zu den "Vorgängern" rechnet.
Eine zweite, fast noch wichtigere Verbindungslinie führt aber vom Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks über John Cage nach den USA. Bevor ich sie aufnehme, ist zitierend ein wenig auszuholen und zu erinnern, daß ein Charakteristikum der Hörspielarbeit der 80er Jahre ihr Bemühen um Internationalität ist. Dieses Bemühen hat durchaus verschiedene Gesichter. So berichtete zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter dem Datum vom 28. Juli 1981:
Zitat
Die internationalen Bemühungen
der WDR-Hörspielredaktion um die Weiterentwicklung der einzigen "radiophonen
Kunstform", des Hörspiels, werden nicht nur durch die zahlreichen
Programmbeiträge ausländischer Autoren belegt, sondern auch durch
eine nahezu "missionarische Tätigkeit" in "Weltgegenden ohne Hörspieltradition".
Wie Paul Schultes, Leiter der WDR-Hörspielabteilung, und die Dramaturgen
Johann M. Kamps, Wolfgang Schiffer und Klaus Schöning bei der Vorstellung
des Hörspielprogramms für das zweite Halbjahr 1981 erläuterten,
gehören dazu vor allem Südamerika und Afrika. Eine der Ausformungen
dieser Tätigkeit besteht in der akustischen Vermittlung südamerikanischer
und afrikanischer Literatur. (Karl H. Karst)
Autor
In welchem Maße diese
Form internationaler Hörspielarbeit den Charakter kultureller Entwicklungshilfe
haben kann, wird deutlich, wenn der WDR zum Beispiel mit dem Goethe-Institut
und der Adenauerstiftung in Brasilien einen Wettbewerb aus schreibt, "der
die ausländischen Autoren anregen soll, unmittelbar für den Rundfunk
zu schreiben" - mit dem Fernziel auch der "Ausstrahlung von Hörspielen
in den Entstehungsländern". Von dieser Art Hörspielimport mit
dem Wunschziel eines späteren Feed back in eine anders geartete Medienlandschaft
unterscheidet sich der Hörspielexport in eine solche.
Zitat
Wie der Leiter des Programmbereichs
Hörspiel und Unterhaltung, Paul Schultes, dazu gegenüber epd
im einzelnen erläuterte, ist Partner des Projekts in den Vereinigten
Staaten zunächst die nichtkommerzielle Senderkette Pacifica in San
Francisco, die aus Hörergebühren finanziert wird. Geplant ist,
zunächst sechs Hörspiele aus der Bundesrepublik ab Mitte des
nächsten Jahres in englischer Übersetzung über die Sender
der Pacifica-Kette auszustrahlen, ergänzt durch ein Begleitprogramm,
das aus Hörspielkursen, Diskussionen sowie Lesungen amerikanischer
Autoren besteht. Ihre Beteiligung an diesem literarischen und theoretischen
Zusatzprogramm haben bisher auch schon die Universitäten Berkeley
und Stanford zugesagt. Finanziert wird das Unternehmen von der Pacifica-Kette,
dem National Public Radio, der Stiftung National Endowment for the Arts,
dem Goethe Institut, dem San Francisco State College sowie dem WDR.
Autor
Als "kleiner repräsentativer
Querschnitt der Qualität des traditionellen und experimentellen Hörspiels"
(WDRprint Nr. 105, April 1985) wurden für dieses Projekt übersetzt
und in den USA inszeniert "Die Andere und ich" von Günter Eich, "Das
Opfer Helena" von Wolfgang Hildesheimer, "Gertrud" von Charles Dürr
und Wolfgang Schiffer, "Frühstückgespräche in Miami" von
Reinhard Lettau, "Fünf Mann Menschen" von Friederike Mayröcker
und Ernst Jandl (Regie Klaus Mehrländer) und der "Monologe der Terry
Jo" von Max Bense und Ludwig Harig (Regie Klaus Schöning). Dieser
"Querschnitt" wurde ergänzt durch folgende sechs Originalproduktionen
des WDR3-HörSpielStudios: "'Wind und Meer" von Peter Handke, "Nach
der Lektüre von Orwel" von Mauricio Kagel, "Roaratorio" von John Cage,
"Radio" von Ferdinand Kriwet, "Natürliche Ansammlungen und die echte
Krähe" von Alison Knowles und "Hsin Hsin Minh" von Georges Brecht.)
Der Erfolg war verblüffend. "The hörspiel" - ich diskutierte bereits in einer früheren Sendung diesen bezeichnenden Fremdwortgebrauch der Amerikaner - "the hörspiel" löste eine erstaunliche Leserpost aus.
Zitat
Ich hoffe, daß dies
erst der Anfang ist.
(oder):
Was Sie mit dem Radio als
"hörbare Kunst" erreicht haben, hat mich verblüfft.
(oder):
Schon jetzt erscheint mir
die Serie als historischer Durchbruch.
Autor
Diese Hörspiel-Kooperation
des WDR mit den USA hat durchaus eine Vorgeschichte, die sich anhand einiger
Daten schnell skizzieren läßt. Nach einigen publizistischen
Darstellungen, unter denen diejenige Armin Paul Franks von 1963 (Neuauflage
1981) hervorragt, blieb es lange still um das amerikanische Hörspiel,
dessen Bild sich im öffentlichen Bewußtsein vor allem auf die
indiskutablen Soap operas verkürzte. Selbst Franks Hinweis darauf,
daß die ersten nachweislich gesendeten Hörspiele 1922 in New
York und Cincinnati ausgestrahlt wurden, berührte die Forschung in
keiner Weise. Ausnahmslos Archibald MacLeish's "The Fall of the City" (1937)
galt als einzig diskutabler und bemerkenswerter Hörspielbeitrag eines
Landes mit kommerziell ausgerichtetem Rundfunkprogramm. Lediglich wegen
seiner Wirkung häufiger noch erwähnt wurde Howard Koch/Orson
Welles "War of the Worlds" (1938). Erst Mitte der 70er Jahre ändert
sich dies langsam, berichtet Karl Schmidt erstmalig über das "Earplay-Projekt"
(10.5.1976) in einer WDR-Sendung, die in aktualisierter Form noch einmal
1982 wiederholt wird, inszeniert Klaus Schöning in einer Übersetzung
Robert Schnorrs den "Krieg der Welten" (deutsche Erstsendung 16.4.1976
mit einem Essay Schönings), der seither mit leichten Schnitten und
Überarbeitungen mehrfach wiederholt wurde und damit einen Hörspielklassiker
auch dem deutschen Rundfunkhörer zugänglich machte.
Gehören die Spiele MacLeish's und Koch/Welles einem ersten Höhepunkt dieser Gattung in den USA zu, markiert das "Earplay-Projekt" einen zweiten, der fast die ganzen 70er Jahre umfaßt. l973 sendete der WDR mit Anne Leatons "Das Flüstern der Welt vor der Auflösung" das erste bei einem "Earplay"-Wettbewerb ausgezeichnete Hörspiel, 1978 mit Arthur Kopits "Schwingen" ein weiteres, das 1979 mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet wird. Und auch das 1982 in der Reihe "Hörspiel USA" plazierte Hörspiel Israel Horowitz', "Kein Nachwuchs für den Champion oder Der Junge der New Jersey erschoß", findet wiederum große Beachtung bei der Jury dieses Preises. Inzwischen war aber die Zukunft des "Earplay"-Projekts wegen radikaler Budgetkürzungen äußerst ungewiß geworden, ging ein zweiter Höhepunkt amerikanischer Hörspielgeschichte seinem Ende entgegen.
Genau hier aber beginnt in einer zweiten Kooperationsphase die Zusammenarbeit des WDR mit der Pacifica-Kette, bei der es sich nicht mehr ausschließlich darum handelte,
Zitat
das Hörspiel wieder
zu einem Vermittler der amerikanischen Dramatik und zu einer wichtigen
Programmsparte innerhalb der öffentlichen Rundfunksender zu machen.
(1/1976. S. 29).
Autor
Diese zweite Phase zielte
vielmehr deutlicher als die bisherige Hörspielentwicklungshilfe auf
die Frage, ob es nicht einen internationalen "Radio Sound" (Schultes) gebe
und berührte sich hier mit Klaus Schönings Erarbeitung einer
"Acustica International" aufs Engste, der seit 1979 im WDR3-HörSpielStudio
eine umfangreiche Reihe "Acustica International. Grundlagen, Entwürfe,
Beispiele" etablierte, (aber auch außerhalb des Senders vorstellte.)
Es ist beachtenswert, daß John Cages "Roaratorio" nach seiner Erstsendung
in der Reihe "Komponisten als Hörspielmacher" 1979 bei seiner Wiederholung
anläßlich der Verleihung des Karl-Sczuka-Preises 1980 in dieser
Acustica-Reihe plaziert wird, in der ihm 1981 die Sendung "Text-Sound-Sound-Poetry
USA (1)" mit Arbeiten und Beiträgen von John Cage, Alison Knowles,
Jackson Mac Low, Jonathan Albert, Philip Corner, Richard Kostelanetz folgt.
Einspielung
(Ein kurzes instruktives
Stück Sound-Poetry.)
Autor
Vorgestellt wurden diese
Künstler von Klaus Schöning, der dann in weiteren Sendungen die
dramaturgische Vermittlungsarbeit und "dramaturgische Spurensuche" vertiefte:
und zwar unter dem Reihentitel "Hörspiel USA". In seinem Vortrag "tHEARtofRADIOdrama",
gehalten 1984 auf der EBU-Konferenz in Genf wies er auf die konsequente
Öffnung des Neuen deutschen Hörspiels zu einem Hörspiel
international hin:
Einspielung
Sehen Sie diese transatlantische
Brücke,
die dort in das Kölner
Laboratorium führt?
Viele haben sie betreten
in den letzten Jahren.
Mit John Cage fing es an.
Dann kam der alte Jackson
Mac Low,
im Rucksack ein tibetanisches
Mantra
und das Alphabet der Sound-Poeten
ohne Anfang und Ende,
das jeder versteht, wenn
er will.
Alison Knowles,
den Korb voller Bohnen,
Kinderspielzeug
und Geschichten aus Vermont
und den Wäldern Henry
David Thoreaus.
Jerome Rothenberg, der Ethno-Poet,
der die "Horse Songs" der
Seneca-lndianer,
die ihn bei sich aufnahmen
und ihm einen Namen gaben,
der ihre sterbende Sprache
vermischt mit der jiddischen
Poesie
seiner Vorfahren
im "Hörspiel des Bibers.
A Testimony".
Dick Higgins. Doris Hays.
Anne Tardos, Malcolm Goldstein,
Charly Morrow, Richard Kostelanetz
und George Brecht:
Text-Sound-Sound-Poesie
USA.
Akustische Kompositionen,
unbeeinflußt von der
Dramaturgie
des RadiohörSpiels
Europas.
Eingebunden jedoch in die
Tradition
der akustischen Kunst.
Die Vermischung der Sprachen.
Multilingua.
Die Vermischung der Kulturen.
HMCIEX.
Ein Here-Comes-Everybody-Mix.
Und die für das europäische
HörSpiel
noch unentdeckte Kraft
der anderen Kontinente.
Afrika, Asien, Australien.
Deren originale Stimme nur
schwach,
nur übersetzt, adaptiert
hörbar wurde
im europäischen HörSpiel-Konzert.
Öffnen wir die Brücken
für ihre authentischon Stimmen.
Hören wir zu
und reden nicht auf sie
ein
mit einer Dramaturgie, die
es besser zu wissen meint.
Ihre Literatur ist eine
Literatur
zum Hören.
Wie ihre unvergleichliche
Musik,
die wir lieben.
Erhalten wir die Originale.
Senden sie.
Lernen wir die Kunst des
Synchronisierens.
Zeichen des Respekts.
Der erste Schritt zur Zusammenarbeit.
Zur Arbeit an gemeinsamen
Projekten.
HörSpiel international.
Offen, durchlässig,
alle einladend,
unwägbar.
Autor
Auch die "1. Acustica International"
war eine Veranstaltung, die ihre Impulse wesentlich von diesem utopischen
Entwurf, sowie von dieser "akustischen Spurensuche" und dramaturgischen
Arbeit empfing, vorbereitet nicht nur durch die genannten Beispiele akustischer
Kunst, sondern als musikalisch akustischer Aspekt des formal offenen Neuen
Hörspiels, erarbeitet in zahlreichen flankierenden Kommentaren und
Gesprächen mit den Künstlern im WDR3-HörSpielStudio und
den Dramaturgen-Kollegen in den USA. Anfang 1984 konnte Klaus Schöning
in zwei großen Sendungen "Hörspiel USA. Dokumente einer transatlantischen
Zusammenarbeit WDR Köln/KPFA Berkeley" eine erste Bilanz ziehen und
vermuten:
Einspielung
Die Verknüpfung der
deutschen Hörspielentwicklung mit der internationalen wird wahrscheinlich
die Zukunft der akustischen Kunst wesentlich mitbestimmen. Dabei können
Erfahrungen und realistische Einschätzung der amerikanischen Radiomacher,
die innerhalb eines noch wesentlich anders bestimmten Medien-Systems arbeiten,
für die sich rasch verändernde Situation unseres Medien-Systems,
und damit auch des Hörspiels, aufschlußreich und hilfreich sein.
Autor
Wie recht Klaus Schöning
hier wahrscheinlich hat, das belegt recht eindrucksvoll der Sender Freies
Berlin, der im ersten Quartal 1985 gleich zwanzig der insgesamt 50 Hörspielsendungen
unter dem Schlagwort "Audio Art" subsumierte, das illustrieren akustisch
die von der Akademie der Künste, dem Künstlerprogramm des DAAD
und der Technischen Universität Berlin veranstalteten "Inventionen
'86", die sich unter den "Sprachen der Künste" in diesem Jahr das
Wechselverhältnis von "Sprache und Musik" als Thema gestellt hatten
- mit zahlreichen Beiträgen der "1. Acustica International" in einer
WDR-Hörspielaudiothek.
Drei Punkte sind mir am Ende meines Versuches einer Geschichte und Typologie des Hörspiels, in der augenblicklichen Situation des Hörspiels noch wichtig. Zunächst zwei Richtigstellungen.
1. Ulrich Gerhardt hat - mit dem Rücken zur Wand - im Sender Freies Berlin 1985 nicht nur die Reihe "Audio Art" ins Programm gesetzt, er hat auch in seiner Rede auf der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft auf die hier einschlägige amerikanische Szene verwiesen und formuliert:
Zitat
daß Klaus Schöning
im WDR diese und andere Entwicklungen aufgegriffen hat, ist sein Verdienst
- seine Erfindung sind sie nicht. Aber es ist von unschätzbarem Wert,
daß sie nun in unseren Programmen erscheinen und vorführen,
was auch Hörkunst ist.
Autor
Dazu möchte ich anmerken,
daß jeder, der sich halbwegs in der internationalen Kunstszene auskannte,
die meisten der Namen zumindest schon gehört hatte. Daß manche
der hier einschlägigen Künstler auf Veranstaltungen auch in der
Bundesrepublik, in internationalen Publikationen z.B. der Stuttgarter Edition
Hansjörg Mayer mit tendenziell unterschiedlichen Beiträgen vertreten
sind und zumindest im WDR seit 1970 gelegentlich Erwähnung fanden.
Nicht allerdings zunächst im Hörspielprogramm. Und hier ist es
nun in der Tat das Verdienst Klaus Schönings, die offene Form des
Neuen Hörspiels seit Ende der siebziger Jahre zunehmend auch diesen
verschiedenen Tendenzen geöffnet zu haben. Als Hörkunst nicht
neu, sind ihre Einschätzung als Hörspiel, die Erweiterung seiner
Möglichkeiten das hier entscheidend Innovative einer dramaturgischen
Arbeit.
2. Ulrich Gerhardt bezweifelt, daß der Rundfunk in seiner heutigen Ausprägung der geeignete Ort, das geeignete Podium für eine derartige Hörkunst ist. Ein Zweifel, der übrigens schon einmal im Zusammenhang der Diskussion über das "Verfahren O-Ton" von Michael Scharang geäußert wurde.
Ich habe seinerzeit Michael Scharang nicht Recht geben können und möchte heute Ulrich Gerhardt antworten, daß der von ihm ja begrüßte Import dieser Hörkunst nicht zufällig das Ergebnis "einer transatlantischen Zusammenarbeit" von Rundfunkanstalten ist. Und daß es private Rundfunksender Amerikas waren, die vielen der genannten Künstler über ihre Programme zu größerem Publikum, und damit zu Publizität und Erfolg verholfen haben. Ich meine, und dies wohl auch im Sinne von Heinz Hostnig, daß hier, bei richtiger Einschätzung der Möglichkeiten einer Massenkultur und eines Massenmediums, unter dem strengen Maßstab von Qualität, nach wie vor der Rundfunk der geeignete Verleger jeglicher Form von akustischer Kunst ist.
3. Das Hörspiel hatte in seiner Entwicklung diesen Apparat mit Einschränkungen zur Verfügung, der ihm mit immer besserer Technik eine Vielfalt der Aufbereitungsmöglichkeiten und Präsentationsformen bot und bietet. Das Hörspiel hat dies, wie unsere Sendungen im einzelnen belegt haben, erfolgreich zu nutzen gewußt, dabei als akustische Kunst seine wesentlichen Impulse aus der allgemeinen Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert bekommen, Immer wieder berühren sich mit zunehmend verkürztem Abstand Hörspiel- und Kunstentwicklung:
Einspielung
Das war 1972. Ich wurde
eingeladen einige meiner Soundpoesie-Stücke bei den Fylkingen-Festspielen
in Schweden, in Stockholm, vorzutragen. Das war für mich eine sehr
schöne Zeit, weil ich Ake Hodell, Stan Hanson und Bob Cobbing und
viele der bekannten Lautpoeten Europas kennen lernte. Gleich danach fuhren
Carol Law und ich durch ganz Italien, und Deutschland und Frankreich und
Belgien und die Niederlande und wir machten Interviews mit allen Lautpoeten,
die wir auftreiben konnten. Als ich wieder in Amerika war, machte ich eine
Serie von ungefähr fünfzig oder sechzig Sendungen über Lautpoesie,
die ja ein so hoch entwickeltes Genre in Europa war und die in den Vereinigten
Staaten nicht so sehr entwickelt war. Das Ergebnis war, daß viele
in San Francisco und Umgebung und in New York wo meine Serie auch gesendet
wurde, die Lautpoesie-Sendungen gehört haben, und sie fingen dann
wirklich an sehr viele lautpoetische Stücke zu machen.
Autor
Angereichert mit Erfahrungen
der Concept art (die Jackson Mac Low 1963 zum erstenmal so benannte), einer
internationalen konkreten Literatur (deren erste wichtige Anthologie Emmet
Williams 1965 in New York und Stuttgart herausgab), der Fluxus- und Happening-Bewegung,
der musikalischen Entwicklung John Cage's mit ihren heute noch kaum abschätzbaren
Auswirkungen, verbinden sich auch diese Entwicklungslinien moderner Kunst
seit Ende der 70er Jahre mit der Fortentwicklung des Neuen Hörspiels.
Vielleicht ist es kein Zufall, daß dieser letzte Schritt zur gleichen
Zeit geschieht, in der die wohl umfassendste Sammlung der konkreten Literatur,
der Happening-, Fluxus- und Performance-Bewegungen einschließlich
ihrer akustischen Belege, das Archiv Sohm, in die Staatsgalerie Stuttgart
integriert wird. So gewinnt schließlich, nach einer langwierigen
Geburt in Etappen, das Hörspiel endgültig Anschluß an die
Entwicklung der Künste des 20. Jahrhunderts als eine diesen Künsten,
auch in der Verwischung der Grenzen, zugehörige selbständige
akustische Kunst.