Reinhard Döhl | Das Hörspiel der 80er Jahre (2)

O-Ton
Bill Fontana: Metropolis Köln (auch den folgenden Text zunächst zäsurierend)

Autor
So oder ähnlich hörten zwischen dem 27. September und dem 1. Oktober 1985 zahlreiche Passanten des Roncalli-Platzes, was ihnen die Rheinmetropole Köln akustisch zu bieten hat. Gewiß, wer Ohren hat, zu hören, konnte dies immer schon wahrnehmen. Punktuell bei einem Besuch des Zoos, im Vorbeieilen an einer der zahlreichen romanischen Kirchen, während einer Uferpromenade, auf dem Hauptbahnhof oder dem Flughafen. Aber was er dort ortsbedingt und eher unbewußt wahrnahm, hörte er diesmal ortsfremd, simultan, in Beziehung zueinander gesetzt, komponiert nach den Regeln einer KlangKunst. In ihrer Übertragung und überraschenden Kombination wurden aus alltäglichen plötzlich Kunstgeräusche, aus akustischer Realität ein musikalisches Ambiente - Hörspiel.

Bill Fontanas KlangSkulptur "Metropolis Köln" war aber nicht nur das vielbeachtete Wahrzeichen der "1. Acustica International", es ist auch in mehrfacher Hinsicht geeignet, die abschließende und resümierende Lektion meines Versuchs einer Geschichte und Typologie des Hörspiels zu präludieren.

1. weil Bill Fontanas "Metropolis Köln" im Kontext der anderen Beispiele der Metropolis-Reihe des WDR 3-Höspielstudios auch eine akustische Antwort auf die aktuellen Regionalisierungstendenzen des Rundfunks gab, in - wie die Reaktionen belegen - überzeugender Weise statt Stadtradio Radio Stadt demonstrierte.

2. weil Bill Fontanas KlangSkulptur, auch wenn es nicht so aussah, als "Hörsensation" (Heißenbüttel), als überraschend wahrgenommenes Hörereignis und in diesem Sinne akustisches Happening, kurz: als Hörspiel des Rundfunks als seines Herstellers und Verlegers bedarf.

3.. weil dieses akustische Porträt der Stadt Köln auch dem Laien die Erweiterung deutlich machte, die der Hörspielbegriff seit Etablierung des Neuen Hörspiels erfahren hat. Wobei im historischen Rückblick zu ergänzen ist, daß mit dieser Erweiterung Hörspielpositionen wieder besetzt werden können, die entwicklungsgeschichtlich in Vergessenheit geraten waren.

4. verweist die von Bill Fontana gewählte Charakterisierung des Hörspiels als "KlangSkulptur" auf einen größeren, für das 20. Jahrhundert signifikanten Zusammenhang: die Tendenz zur Vermischung der Kunstarten. Konkret und in diesem Fall die Verbindung akustischer und bildender Kunst: Klang und Skulptur.

O-Ton
Bill Fontana: Metropolis Köln

Autor
Wenn die heutige Sendung, den Versuch einer Typologie und Geschichte des Hörspiels abschließend, primär die "1. Acustica International" bilanziert, geschieht dies vor dem Hintergrund einer auffällig zwiespältigen Hörspiellandschaft, heftiger Kontroversen über Zukunft und Chancen des Hörspiels in einer sich verändernden Medienlandschaft. Es geht also auch um die Beantwortung der Frage, ob diese erste "Acustica" noch einmal "die bunte Pracht einer Radiokultur" entfaltete, die nach Meinung Friedrich Knillis augenblicklich "ihren Herbst erlebt" (medium 10/1985), oder ob sie Tendenzen und Impulse bündelte einer Entwicklung des Hörspiels, die  sich im Laufe der Lektionen der "Geschichte und Typologie des Hörspiels" immer deutlicher als genuin erwiesen hat und demnach auch in die Zukunft weist. Auffällig bestätigte nämlich die "1. Acustica International" in differenzierter Weise, was die erste Lektion nur erst vermuten konnte.

Einspielung oder Zitat
Wenn ich es historisch richtig sehe, entstand das Hörspiel also in einer Zeit der Gattungsunsicherheit, der Gattungsvermischungen. Wenn man dies als richtig unterstellt, läßt sich von hier aus leicht weiterfragen, ob nicht auch andere Tendenzen einer sogenannten Kunstrevolution innerhalb des Hörspiels ebenso wie im Film ihre Spuren hinterlassen haben. Ich meine etwa die Annäherung der einzelnen Kunstarten bis zur gelegentlichen Überschreitung ihrer gemeinsamen Grenzen. Bezogen aufs Hörspiel etwa eine Annäherung von Sprache und Musik. In demselben Maße, wie Döblins programmatische Hörspielrede die Gattungsunsicherheit für das Hörspiel umformuliert, schlägt sich von Döblin auch hypothetisch leicht ein Bogen zum italienischen Futurismus und seinen Entdeckungen der Simultaneität und des Bruitismus. [...]
Meine Skizze macht, so meine ich, bereits deutlich, daß man statt von einer fixen Poetik sinnvoller von einem poetologischen Prozeß sprechen sollte, der ebensowenig von einem allgemeinen Prozeß der Entwicklung der Künste abgelöst, wie er von der technischen Entwicklung des Mediums getrennt werden kann.

Autor
Daß und in welchem Maße dieser Prozeß immer noch in Gang ist, hat die "1. Acustica International" ebenso belegt, wie sie die Vermutungen im einzelnen bestätigte. Unter dem Thema "Komponisten als Hörspielmacher" wiederholte sich dabei eine Konstellation, wie sie sich schon einmal in den Anfängen der Hörspielgeschichte ergeben hatte, als es vor den Literaten vor allem Musiker waren, die sich Gedanken über ein akustisches Eigenkunstwerk des neuen Mediums Rundfunk machten. Zwei gegenübergestellte Zitate können hier den Abstand und zugleich Gemeinsamkeiten deutlich werden lassen, auf die jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Hörspiel wird achten müssen. Das erste Zitat ist aus dem Jahre 1925 und stammt von Kurt Weill:

Zitat
Nun können wir uns sehr gut vorstellen, daß zu den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge hinzutreten würden, Klänge aus anderen Sphären: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen und dann ein Heer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht und neugeboren werden würden. [...] Ein solches Opus dürfte kein Stimmungsbild ergeben, keine Natursymphonie mit möglichst realistischer Ausnutzung aller vorhandenen Mittel, sondern ein absolutes, über der Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk mit keinem anderen Ziel als dem jeder wahren Kunst: Schönheit zu geben und durch Schönheit den Menschen gut zu machen und gleichgültig gegen die Kleinlichkeiten des Lebens.

Autor
Das zweite Zitat stammt von John Cage und ist dem Programmheft der "1. Acustica International" entnommen:

Zitat
Ich wollte eine Musik machen, frei von Melodie und frei von Harmonie und frei von Kontrapunkt - frei von musikalischer Theorie. Ich wollte nicht, daß es Musik im Sinne von Musik wird, sondern ich wollte, daß es Musik wird im Sinne von "Finnegans Wake", aber nicht eine Theorie über Musik. Ich wollte das Buch in Musik umsetzen. Ich wollte, daß die Musik unmittelbar aus "Finnegans Wake" selbst hervorgeht und nicht Musik für sich selbst ist [...] Ich war schon lange zuvor [Ende der vierziger Jahre] zu dem Schluß gekommen, daß der Sinn der Musik und ich glaube, auch des Hörspiels darin besteht, den Geist zu ernüchtern und zu beruhigen, um ihn so für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen. Das ist der traditionelle Grund, Musik zu machen; und ich habe ihn, seit ich ihn kenne, immer akzeptiert.

Autor
So unterschiedlich in der Funktionsbestimmung, so einig sind sich beide Zitate in ihrer Hochschätzung der Musik als eines Mittels seelischer Bereicherung. Das deckt sich nur zu Teilen mit dem Rundfunkkonzept eines unterhaltenden Mediums, meldet aber Ansprüche an, die von einem modernen Medium auch befriedigt werden wollen, sei es als "absolute Radiokunst", sei es im Hörspiel.

Vor allem die hörspielgenetische Rolle der Musik stand denn auch in mehreren Referaten von Juan Allende-Blin, Reinhard Döhl und Rudolf Frisius auf der "1. Acustica International" zur Debatte. Und wie schon oft wurde, da er immer noch nicht korrekt gelesen wird, Alfred Döblin bemüht.

Einspielung
Hörspielgeschichte und -theorie zitieren gerne aus Alfred Döblins berühmter Kasseler Rede von 1929, und sie zitieren hier mißverständlich verkürzt als Definition: "Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihre Zwecke nutzbar machen."

Wenn ich sage, daß dies mißverständlich verkürzt zitiert wird, meine ich erstens, daß als Defintion des Hörspiels genommen wird, was Döblin als Prospekt meint: "In Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden". Zweitens wird in der Regel überlesen, daß Döblin in seinem Prospekt eine Verbindung mit den "anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräuschen" herstellt. Und drittens bleibt unberücksichtigt, was Döblin über diese Möglichkeiten des Rundfunks und ihre Rangfolge zu Beginn seiner Rede festgehalten hat. Das "akustische Instrument" Rundfunk vermittle, sagt er dort, "seiner Natur nach Töne und Geräusche, da ist ungleich wichtiger als die Literaturvermittlung für ihn die Verbreitung der Musik. Warum die Musik? Das folgt einmal aus dem riesigen Umfang der Hörermasse. Die Musik ist einfach universeller als die Literatur, allgemein leichter verständlich, und darum ist sie die gegebene Kunst des Rundfunks. Neben die Musik tritt dann als wichtiges Gebiet des Rundfunks die Nachrichtenverbreitung, die Journalistik, die gesprochene Tageszeitung.

Daß der Rundfunk am schnellsten Nachrichten übermittelt und sie auch rasch ausmünzen kann, sichert diesem Instrument einen ganz hervorragenden Platz unter den Verbreitungs- und Wirkungsmitteln. Ich möchte glauben, wir tun nicht unrecht, wenn wir sagen: erst an dritter Stelle kommt das Gebiet [...] der geformten Sprache, der Literatur.

Autor
Aber nicht nur um die gattungsgenetische Rolle der Musik ging es in diesen Referaten, sondern allgemein um die Spurenelemente einer Kunstrevolution in der Entwicklung zum und in | den Ausprägungen des Neuen Hörspiels. Als "komplexes Produkt aus unterschiedlichen Traditionen" beschrieb es Juan Allende Blin in einer "Archäologie des Hörspiels", in der er "die verschiedenen Elemente" zusammentrug, "die schließlich" zu seiner "heutigen" Gestalt "führen", deren Wurzeln aber in den unterschiedlichsten Kunstarten auszumachen waren, zum Beispiel auch in der als "chromatische Musik" aufgefaßten abstrakten Malerei Arnaldo Ginnas und Bruno Corras, in den "Farbklängen" Kandinskys. Vor allem einigen Aufsätzen Guillaume Apollinaires verdankt hier die Spurensicherung manchen Hinweis, vor allem auf die Vorgeschichte der "Parole in libertà", aber auch die Simultaneisten Valentine de Saint-Point, Sébastian Vortol, Fernand Divoire und Henri-Martin Barzun. "In Kürze", war Apollinaire bereits 1914 überzeugt -

Zitat
In Kürze werden die Dichter mit Hilfe der Schallplatten wahre symphonische Dichtungen in die Welt hinauswerfen. Dank dafür sei dem Erfinder des Phonographen, Charles Cros, er stattet, der so die Welt mit einem Ausdrucksmittel versehen hat, das mächtiger und direkter ist als die menschliche Stimme, wenn sie durch Schrift und Typographie imitiert wird. Dank dafür sei den Musikern erstattet: Dank dafür an Jules Romains. [...] Zu der horizontalen Poesie, die man nicht fallen lassen wird, gesellt sich eine vertikale oder polyphone Poesie, von der man starke und überraschende Werke erwarten darf.

Autor
Apollinaire war es auch, der als erster in Konsequenz erkannte, wohin diese zahlreichen, von Juan Allende-Blin nicht einmal vollständig aufgelisteten Spuren wiesen. In seinem gelegentlich als "Testament" apostrophierten berühmten Aufsatz "L'Esprit nouveau et les Poètes" entwirft er nämlich 1918 einen Prospekt einer ästhetischen Entwicklung zur Synthese der Künste, überzeugt, daß ernsthaft künstlerische Produktion zunehmend in Konkurrenz zu den neuen Medien "cinéma" und "phonographe" treten werde und müsse.

Zitat
Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin, das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten versuchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusch- und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.

Autor
Die Vereinfachung sei einmal erlaubt: daß das, was Apollinaire hier für die Zukunft prognostizierte, die Ablösung der Buch- durch eine visuelle und akustische Kultur der elektronischen Medien ist, noch einmal vereinfacht: durch die Kultur des Films und des Hörspiels, die dabei in ihrer Entwicklung wesentlich mehr von den Errungenschaften der Kunstrevolution bestimmt wären als von ihrem kulturellen Vorläufer: dem Buch.
Nicht aus den traditionellen Gattungen der Literatur wäre das Hörspiel dann herzuschreiben, sondern aus den Grenzüberschreitungen der Kunstarten, nicht in Abgrenzung zur Literatur wäre es zu definieren, vielmehr in seiner konkurrierenden Position gegenüber dem Film. Und genau dazu brachten die akustischen Beiträge der "1. Acustica International" implizit, die auf ihr gehaltenen Referate explizit manchen Hinweis.

So diskutierte Juan Allende-Blin in seiner "Archäologie des Hörspiels" ausführlich die Leistungen  Wertows, der bereits 1916 ein "Laboratorium des Gehörs" gegründet hatte, dessen Ziele sich wie ein Beleg zu Apollinaires Prospekt lesen:

Zitat
In meiner Jugend begann mein Interesse für die verschiedenen Mittel dokumentarischer Aufzeichnungen der hörbaren Welt, für die Montage stenographischer Aufzeichnungen, für Grammophonaufzeichnungen u.a. In meinem "Laboratorium des Gehörs" machte ich sowohl dokumentarische Kompositionen wie auch musikalisch-literarische Wortmontagen.

Autor
Von dieser Laboratoriums-Arbeit haben sich weder Belege noch brauchbare Beschreibungen erhalten, vielleicht auch, weil sich Wertow, wie viele andere damals, dem mit größeren Hoffnungen besetzten Ausdrucksmittel Film zuwandte. Filmgeschichte machte Wertow, der in der einschlägigen Literatur gerne mit  Kuleschow, Eisenstein, Pudowkin und Dowjenko in einem Atemzug genannt wird, 1930 mit der "Simfonija Donbassa" ["Donbas-Symphonie], einem Tonfilm, bei dem es nicht einfach um ein sich Decken von Bild und Ton ging, sondern um "komplizierte Wechselwirkungen von Bild und Ton". Speziell diese "Wechselwirkungen" veranlaßten Juan Allende-Blin denn auch, Wertows "Simfonija Donbassa" in seiner "Archäologie des Hörspiels" auszugraben.

Einspielung oder Zitat
Hören Sie bitte einige Ausschnitte der Ton- und Geräuschmontagen von Wertow aus seinem Film "Simfonija Donbassa" aus dem Jahre 1930. Die Instrumentalmusik dazu komponierte Juri Saporin.
a) Zuerst hören Sie das Tic-Tac einer Uhr, dann Glocken und eine kirchliche Musik auf einem Harmonium gespielt. Danach kommt eine erstaunliche Collage.
b) Nach einem Agitationsmarsch folgt eine neue Collage.
c) Jetzt hören Sie eine sehr differenzierte Musik mit unterschiedlichen Sirenen.
d) Maschinengeräusche.

Autor
Allerdings, als Wertow im November 1931 seinen Film in Berlin vorführte, war dort bereits ein hörspielgeschichtliches Ereignis über den Sender gegangen: die Tonmontage "Weekend" des Filmemachers Walter Ruttmann (13. Juni 1930). Sie ist, auf Tonfilmstreifen aufgezeichnet, erhalten geblieben und vor einigen Jahren wiederentdeckt worden.

Einspielung
Walter Ruttmann: Weekend

Autor
Bis zu dieser Wiederentdeckung war, und danach zitierte auch eine frühe Sendung der "Geschichte und Typologie", eine rückblickende Charakteristik Hans Richters in "Köpfe und Hinterköpfe" die einzige Informationsquelle. Und die rückte Ruttmanns Montage in eine vergleichbare Nähe zu Kurt Weills Prospekt einer "absoluten Radiokunst".

In "Weekend", zitiert Richter zunächst das Lob Wsewolod Illarionowitsch Pudowkins, habe Ruttmann "das Problem des Tones durch assoziative Montage auf die freieste Weise und grundsätzlich gelöst". Und Richter fügt hinzu:

Zitat
Dadurch, daß Ruttmann den Ton nicht wie im Sprechfilm naturalistisch behandelte - das heißt, wenn einer den Mund aufmacht, dann müssen auch Worte herauskommen -, sondern schöpferisch musikalisch, hatte er tatsächlich die künstlerische Domäne des Tonfilms bestimmt. Aus isolierten Tonimpressionen bildete er neue Einheiten: vom Drängeln und Pusten der Sonntagsausflügler auf dem Bahnhof, dem Rattern des Zuges, dem Trampeln, Singen und Schimpfen, dem Schnarchen, Spielen und Zanken der Ausflügler bis zur Stille der Landschaft, nur unterbrochen vom Flüstern der Liebenden, bis zum Heimschleppen der weinenden Kinder - alles im Ton wie eine Perlenkette aneinandergereiht.

Autor
Trotz seiner vielbeachteten Aufführung durch die Funk-Stunde Berlin, seiner Einschätzung als eines "Meisterwerks [...], das auch heute noch dem Studenten des schöpferischen Tons Anregungen und Einsicht geben sollte" (Richter), blieb aber Ruttmanns "Weekend" hörspielgeschichtlich folgenlos, wird es bis heute in den einschlägigen Hörspielgeschichten nicht einmal dem Titel nach erwähnt, in der aktuellen Hörspieldiskussion als Argument nicht gezählt. Dabei müßten sich Hörspielforschung und -diskussion, selbst wenn sie Apollinaire nicht folgen wollen, schon wegen der Affinität zum Film seiner annehmen. Denn "Weekend" wurde nicht nur auf Filmtonstreifen aufgezeichnet, geschnitten und montiert, in seine Komposition sind auch sonst, wie die Erinnerung Richters belegt, Erfahrungen des Filmemachers Ruttmann eingegangen.

Zitat
Außer der rein objektiv gerechtfertigten Zustimmung Pudowkins zu Ruttmanns Tonfilmexperimenten mag noch ein anderer Grund zu Pudowkins offen zur Schau getragener Begeisterung beigetragen haben. Ruttmanns Technik der assoziativen Tonmontage war im Prinzip nichts anderes als die Übertragung der russischen Bildmontage auf den Ton. Daß Ruttmann diesen Schritt getan hatte, war sein außerordentliches Verdienst.

Autor
Dies zu betonen ist insofern notwendig, als damit die hörspiel-archäologische Leistung  Wertows genauer eingeschätzt werden kann. Aufbauend auf seinen Erfahrungen aus dem "Laboratorium des Gehörs" begriff er die Leistung Ruttmanns vielleicht am besten, blieb es vor allem ihm vorbehalten, in der "Simfonija Donbassa" "den Ton [...] im Sinne Ruttmanns ausführlich zu benutzen und weiterzuführen" (Richter).

Aber nicht nur deshalb ist ein Rückblick auf "Weekend" im Bilanzieren und Resümieren dieser Sendung von Bedeutung, er ist zweitens erhellend im Vergleich mit Kurt Weill, der seine bereits mehrfach genannten Überlegungen zu einer "absoluten Radiokunst" ebenfalls auf eine "wirklich eigene Filmkunst (ohne) Handlung" bezogen hatte. Der absolute Film sei eine"'melodische' Kunst", die "nach [...] musikalischen Gesetzen" erarbeitet sei. Die "absolute Radiokunst" eine Erweiterung der Musik.

Aber nicht nur der außenstehende Komponist Weill, auch die Rundfunkpioniere Fritz Walter Bischoff, Hans Flesch und Alfred Braun, zum Beispiel in seinen "akustischen Filmen", haben sich immer wieder auf das konkurrierende Medium bezogen. Und ein weiterer "Geniestreich" (Richter) des Filmemachers Ruttmann berührt die Hörspielgeschichte wenigstens am Rande.

Zitat
Zu Beginn des Films ertönen im nebligen Hafen von Hamburg (man sieht nur vage Umrisse) die Nebelsirenen der Schiffe. Einige haben hohe, andere haben tiefe Töne, manche sind kurz, manche lang, manche haben mehrere Sirenen oder benutzen die eine stoßweise, andere hingegen in langen klagenden Seufzern. Ruttmann machte daraus eine regelrechte Symphonie von Tönen, die eine neue musikalische Dimension erleben lassen, wie sie heute in der Musique concrète "wiederentdeckt" wurde.

Autor
Diese sich hier andeutende, die Hinweise Juan Allende-Blins bestätigende Bedeutung des Films und seiner Ästhetik für die Entwicklung des Hörspiels ist von den Sachverwaltern des Hörspiels als Literatur, als Wort- und Sprachkunstwerk bis heute ebenso vergessen oder gründlich verdrängt worden wie die konstitutive Rolle der Musik. Wobei ihnen entgegenkam, daß die Experimente der Musiker, der Wurf Ruttmanns hörspielgeschichtlich,  aber parallel dazu auch filmgeschichtlich, zunächst folgenlos blieben. Denn, notiert es Hans Richter:

Zitat
Die Möglichkeit, Schauspieler wie auf der Bühne ihre Sätze sprechen zu lassen, war zu verführerisch und zu naheliegend und so wurde der sprechende Film die Ursache, daß der Film als Kunstform wieder zwanzig Jahre zurückgeworfen wurde.

Autor
Eine Einschätzung, die sich leicht auf die Hörspielgeschichte ummünzen läßt. Dennoch: zwanzig Jahre später wird die von Ruttmann, Wertow und anderen entdeckte "neue musikalische Dimension" in der Musique concrète "wiederentdeckt", fließt sie über die Experimente des Club d'Essai und die Entwicklung der Hörspielgeschichte, einer elektronischen Musik gleichsam vermittelt wieder zu, wird sie erst eigentlich jetzt in ihrer Bedeutung erkannt.

Von hier aus schlägt sich der Bogen jetzt leicht zur "1. Acustica International", und dies sogar auf mehrfache Weise. Zunächst einmal zu Pierre Henry, der 1951 mit einer konkreten Szenenmusik zu Arthur Adamovs "Das große und das kleine Manöver" debutierte. Pierre Henry war Mitarbeiter Pierre Schaeffers im Club d'Essai, und ihre gemeinsame "Symphonie pour un homme seul" von 1950 ist, wenn auch kein Hörspiel, so schon deshalb interessant, weil sie, wie Fred K. Prieberg festhält, eigentlich "dem musikalischen Techniker im Studio" gewidmet ist, "der Tage und Nächte verbissen an der Verwirklichung seiner Idee arbeitet, ohne daß irgendjemand Anteil nimmt".

Einspielung
Pierre Henry/Pierre Schaeffer: Symphonie pour un homme seul.

Autor
1958 verließ Pierre Henry die RTF und den Club d'Essai, um eines der ersten elektronischen Privatstudios, das Studio Apsome zu begründen. Und seit 1982 hat ihn das WDR3-HörSpielStudio auch mehrfach als "Hörspielmacher" vorgestellt, zunächst mit "Le journal des mes sons", dem "Tagebuch meiner Töne". Was für diese Auftragsarbeit charakteristisch war, das Aufbrechen der Grenzen zwischen "reiner" und "angewandter" Musik, zwischen Musik und Hör-Spiel, zwischen Musik, Sprache und Radio-Kunst, kennzeichnet auch die zweite Auftragsarbeit für das WDR 3-HörSpielStudio: "La Ville/Die Stadt", ein Portrait der Stadt Paris, das 1984 in der Reihe "Metropolis" zum ersten Mal gesendet wurde. Angeregt war dieses Hörbild, an dem Henry zwei Jahre gearbeitet hat, durch Ruttmanns berühmten Stummfilm von 1927, "Berlin, die Symphonie einer Großstadt".

Auf Beziehungen, die zwischen diesem "Querschnittfilm" von 1927 und dem Hörspiel "Weekend" von 1930 bestehen, kann ich hier nicht weiter eingehen, wohl aber erwähnen, daß Walter Ruttmann, der über die Malerei zunächst zum abstrakten und erst dann zu seinen berühmten "Querschnittfilmen" gekommen war, zwischen dem Stummfilm von 1927 und dem Hörspiel von 1930 noch einen Film gedreht hatte: "Melodie der Welt". Bei ihm muß Ruttmann ganz offensichtlich bereits mit dem Ton experimentiert haben, den die spärliche Sekundärliteratur als eine Mischung aus Musik, Geräuschen und Sprachfetzen beschreibt, so daß er hörspielgeschichtlich hier ein wichtiges Verbindungsglied darstellt. Ihn mit Pierre Henrys Hörspiel "La Ville/Die Stadt" zu vergleichen, wäre sicherlich reizvoll, ist aber (zumindest für den Moment noch) nicht möglich.

Pierre Henry hat sich aber von Ruttmanns "Berlin, die Symphonie einer Großstadt" nicht nur zu "La Ville/Die Stadt" anregen lassen, er hat vielmehr in einem zweiten Schritt nach 1984 versucht, Stummfilm und Hörspiel konkret miteinander zu verbinden und diese "Synchronisation" zu einem "Hörspielfilm" "La Ville/Die Stadt. Metropolis Paris/Berlin" am 29. September 1965 auf der "1. Acustica International" im überfüllten großen Sendesaal des WDR erstmalig als "audio-visuelles Konzert" vorgeführt, aus dem die jetzige Sendung wiederum nur den Hörspielpart zitieren kann.

Einspielung
Pierre Henry: La Ville/Die Stadt. Metropolis Paris/Berlin

Autor
Der Kontext, in dem dieses "audio-visuelle Konzert" plaziert war, ist durch das Thema des Forum III auf der "1. Acustica International", "Hörspiel in vielen Medien", ziemlich genau markiert. Überraschen konnte diese Themenstellung und die vielfältigen Präsentationen um sie herum allerdings nur den, der die Hörspielentwicklung der letzten 15 Jahre, fixiert auf ein regionales Hörspielprogramm, aus Auge und Ohr verloren hat, der übersehen hat, daß es vor allem Hörspiele in der Tradition des Neuen Hörspiels waren, die in zahlreichen konzertanten Aufführungen, in Opernhäusern, Konzertsälen, ja sogar Kirchen, also auch außerhalb des Rundfunks und zunehmend international Aufmerksamkeit erregten und Anerkennung fanden. Die beachtliche Liste renommierter Preise, die ihnen praktisch Jahr für Jahr zugesprochen werden, sind ein weiteres Indiz. Was natürlich die Frage nahelegt, ob eine hier auffällige Mobilität und Internationalität des Hörspiels nicht schlicht das andere Extrem zu den Regionalisierungstendenzen vieler Sender und ihres Hörspielangebots darstellt: Regionalität bis zum Stadtradio dort, Internationalität hier, angewandtes Hörspiel dort, grenzüberschreitende akustische Kunst hier, Bearbeitung (welt)literarischer Vorlagen für ein laufendes Radioprogramm dort, die Zwänge eines Programmdenkens sprengende Radiokunst hier. Was die von mir für die Mitte der 70er Jahre diagnostizierte Wasserscheide nicht nur bestätigen, sondern fast unüberwindbar erhöhen würde.

Vor allem die in der Reihe "Komponisten als Hörspielmacher" seit 1970 plazierten und sich einer "Acustica international" öffnenden Hörstücke sind- sicherlich bedingt auch durch ihre Affinität zur Musik - exemplarisch für eine zunehmende Öffnung des Radios und seiner Kunst nach Außen, für den augenscheinlichen Zusammenhang zwischen offener Form und öffentlich freier Präsentationsmöglichkeit. Hörspiel in vielen Medien umfaßt dabei formal gesprochen das Film-Hörspiel Pierre Henrys ebenso wie das Fernseh-Hörspiel Mauricio Kagels, es ermöglicht die Hörspielsendung von Vinko Globokars "Die gestohlenen Klänge" neben der konzertanten Aufführung im Sendesaal; Gerhard Rühms "Kleine Geschichte der Zivilisation" ist fraglos ein gutes Beispiel seiner Gattung, überzeugend in der Verbindung von Zuspielband und live realisiertem Klavierpart.

Einspielung
Gerhard Rühm: Kleine Geschichte der Zivilisation (Schluß)

Autor
Daß das "Transitorische seiner medialen Möglichkeiten" (Programmheft, S. 6) nicht einfacher Medienwechsel ist, sondern eine durch diesen Wechsel jeweils veränderte Erscheinungs- und Wirkungsweise des Hörspiels bedeutet, belegen eindrucksvoll die Studioaufnahme von Mauricio Kagels "Der Tribun. Für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher" aus dem Jahre 1979 im Vergleich mit seiner öffentlichen Realisation 1985 auf dem Roncalli-Platz im Rahmen der "1. Acustica International". Wobei die Unterschiede noch dann hörbar bleiben, wenn diese öffentliche Realisation wiederum als Hörspiel gesendet wird.

Einspielung
Mauricio Kagel: Der Tribun (1979)

Einspielung
Mauricio Kagel: Der Tribun (1985; dieselbe Sequenz)

Autor
"Hörspiel in vielen Medien" bezeichnet aber nicht nur die Möglichkeiten des Transitorischen, es umfaßt auch seine vielfältigen, oft sogar senderunabhängigen Erscheinungsformen, also auch die KlangSkulptur Bill Fontanas, die Live-Performances von Malcolm Goldstein oder Alison Knowles, die spezifische Kunstformen der Moderne für das Hörspiel fruchtbar machen.

Einspielung
Alison Knowles: PapierWetter

Autor
"Hörspiel in vielen Medien" in Konsequenz ist aber vor allem John Cages "Roaratorio. Ein irischer Circus über Finnigans Wake", ein musikalisches Kunststück aus menschlicher Stimme, Geräuschen, Musikpartikeln und Naturlauten, eine kompositorisch gebündelte Schnitzeljagd auf den Spuren von "Finnegans Wake".

Wie das Buch Joyces ein "Work in progress" war, wurde Cages Beschäftigung mit ihm zu einem immer neu ansetzenden "Writing through", sein "Roaratorio" zu einem Paradigma aktueller Möglichkeiten des Hörspiels: Hörspiel fürs Radio, konzertantes Raumklang-Hörspiel, Hörspiel-Ballett, getanzt von der Merce Cunningham Dance-Company. Als Live-Performance präsentierte es sich auf der "1. Acustica International" in der Aula der Musikhochschule mit John Cage als Sprecher der Mesosticha, mit den Bohdran-Spielern Peadher und Mel Mercier in einer Klangkomposition aus 2293 Geräuschen über 42 Lautsprecher.

Einspielung
John Cages: Roaratorio. (Wenn möglich eine Sequenz mit den Bohdran-Spielern Peadher und Mel Mercier)

Autor
John Cages "Roaratorio", und das ist bei seiner hörspielgeschichtlichen Bedeutung ein zuzugestehendes Desiderat, ist in unserer Reihe von mir zwar mehrfach erwähnt, dabei aber nie seiner Bedeutung entsprechend analysiert worden.

Das kann auch die heutige Sendung nicht nachholen. Sie kann aber, um die hörspielgeschichtliche Bedeutung wenigstens anzudeuten, aus der Laudatio Heinrich Vormwegs jene Passage zitieren, in der Vormweg 1979 in Donaueschingen sein erstes Hörerlebnis mit Cages "Roaratorio" beschrieben hat mit Worten, die sicherlich mancher Zuhörer der Live-Performance von 1985 wird unterschreiben können.

Einspielung oder Zitat
Ich gehe dabei aus von meinem Hörerlebnis. Es hatte sozusagen zwei Dimensionen. Mit dem ersten Laut des "Roaratorio" war ich ganz unmittelbar gefangen in seiner Welt aus sprachlichen und musikalischen Klängen und einer Vielfalt von offensichtlich zufälligen, dennoch aus einer mir unerklärlichen Notwendigkeit heraus gesetzten Geräuschen. Ich war gefangen bei hellstem Bewußtsein. Jeder Laut für sich und alle die unvorhersagbaren, deshalb geheimnisvollen und doch frappierend klaren Beziehungen zwischen Wörtern, Klängen und Geräuschen sagten mir etwas, das mir längst bekannt und zugleich ganz neu war. Meine Aufmerksamkeit war aufs äußerste provoziert, denn ich hörte präzis formulierte, mit höchster Genauigkeit vermittelte Bedeutungen, für die ich jedoch Sätze in meiner gewohnten Sprache gar nicht erst zu finden suchte, denn daß sie solchen entzogen blieben, war mir fraglos klar. Das schien mir dann nach einiger Zeit ein Handikap zu sein. Das "Roaratorio" dauert eine Stunde und losgelöst von den gewohnten Beziehungsmustern läßt jedenfalls meine
bewußte Wahrnehmungsfähigkeit nach zwölf, fünfzehn Minuten nach. Doch ganz unerwartet trug die Geräuschwelt des "Roaratorio" mich weiter. Aus der gespannten Aufmerksamkeit folgte in leichtem Übergang eine fast spannungsfreie, erstaunlich klare, genußvolle Gegenwärtigkeit des zu Hörenden. Das war die zweite Dimension meines Hörerlebnisses. Es geriet - eine andere Umschreibung weiß ich nicht - zur unverhofften Meditation über einen wahrhaft menschlichen Lauf der Welt.

Autor
Rückbezogen auf Guillaume Apollinaires "L' Esprit nouveau et les Poètes" ist John Cages "Roaratorio" so etwas wie die konkrete Einlösung des Prospekts einer Kunst, "die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte", für die dem Dichter "als Dirigent" ein "Orchester von unerhörter Spannweite" zur Verfügung steht: "die ganze Welt, ihre Geräusch- und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, der Gesang, der Tanz, alle Künste und Künstlichkeiten". Und Cages "Roaratorio" ist dabei nicht, wie dem Neuen Hörspiel und seiner Entwicklung immer wieder vorgeworfen wird, zahnlose l'art pour l'art. Von "einer Art Weltmusik" sprach Vormweg in seiner Laudatio, aber auch davon, daß sie "ein überwältigen des Gefühl von Offenheit und Hoffnung" gebe.

Einspielung oder Zitat
Das "Roaratorio" ist eine große Tafel heutiger Keilschrift, voller Hinweise und Aufschlüsse und unentzifferbar, sie wird die Interpreten locken. Und es ist ein Medium der Versenkung oder des Höhenflugs, ist eine Andacht und ein Gelächter, eine Apotheose des Einverständnisses mit der Welt als eine umgreifende Utopie zugleich eine radikale Herausforderung, anders in der Welt zu leben. Eine Utopie der Gleichheit und in ihr erreichten Friedens. Kunst, die einen Schritt in die Zukunft vorspielt, in eine Zukunft, die diesen Namen verdient.

Autor
Ist das "radiophonischer Hedonismus", wie Christoph Buggert auf der letzten Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft, zwei Monate nach der "1. Acustica International" in Richtung des dort so erfolgreichen Neuen Hörspiels und seiner Entwicklung wieder einmal behauptete? Ist das "intellektuell [...] von beschämender Schlichtheit"? Blinde "Verabsolutierung der Form"? Plädiert nicht gerade solch akustische Utopie "für das Humanum", was Buggert für das Hörspiel fordert. Üben nicht - allerdings in künstlerisch anspruchsvoller Weise statt in grobhandwerlicher Plattheit - Gerhard Rühms "deutsches Requiem" "Wald", Rühms "Kleine Geschichte der Zivilisation" oder Mauricio Kagels "Der Tribun" radikale Kritik an einer sich selbst aufgebenden und zerstörenden Gesellschaft? "Kagel", hielt es jedenfalls der Evangelische Pressedienst "Kirche und Rundfunk" fest -

Zitat
Kagel sprach den Tribun auf dem Roncalli-Platz so echt, traf den Ton demagogischer Rede so genau, daß ein Passant mich verschüchtert fragte, wer denn der Redner sei und zu welcher Partei er gehöre. Behaupte noch einer, Radiokunst habe mit Wirklichkeit wenig gemein, sei ein ästhetisches Elite-(Miß-)Vergnügen.

Autor
Dazu ohne weiteren Kommentar ein letztes Zitat aus Christoph Buggerts Dramaturgenreferat zur Frage: "Muß das Hörspiel populärer werden?"

Zitat
Stein des Anstoßes ist für die Rundfunkzensoren unserer Tage nicht, wie es sich eigentlich gehörte, diejenige Hörspielform, die wir mit dem Titel Avantgarde belegen, sondern hin und wieder ein gutes altes Handlungshörspiel, das sich wenigstens noch an politisch brisante Themen wagt. Auch das formale Risiko, ist daraus zu lernen, kann ein Indiz der Ängstlichkeit sein, ein Indiz der Loslösung von Literatur aus der materiellen menschlichen Existenz.

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Ich habe dies auf der "1. Acustica International" nicht gelernt. Im Gegenteil ist es für mich keine Frage, daß die Radiokunst im "Herbst des deutschen Hörspiels", im Herbst 1985 eine Schlacht gewonnen, nicht verloren hat, daß das Hörspiel in seiner über 50jährigen Entwicklung es geschafft hat, sich zukunftsweisend den Künsten des 20. Jahrhunderts zuzuordnen als eine vielfältige akustische Kunst, über deren Entwicklungs- und Verbindungslinien mir nachzudenken wichtiger scheint, lehrreicher auch, als die Kassandra zu spielen. Gewiß: die Situation in den Funkhäusern, in denen, wie vom Kaninchen auf die Schlange, auf die künftigen privaten Kanäle gestarrt wird, stimmt nachdenklich. Die "Entmündigung einer Hörspielredaktion beim RIAS Berlin" (Hostnig), der Rausschmiß Ulrich Gerhardts und Dr. Garleff Zacharias-Langhans' sind mehr als unerfreulich vor allem, wenn man die letztjährige Programmentwicklung beim Sender Freies Berlin, die Öffnung des Hörspielprogramms für eine sogenannte Audio-Art, die Betreuung so begabter Hörspielautoren wie Ronald Steckel ("Das China-Projekt"; SFB/SWF/WDR 1965) in Anschlag bringt. Subjektiv hat Ulrich Gerhardt vielleicht recht, wenn er auf der genannten Dramaturgentagung die Frage: "Hat das Hörspiel als Radiokunst noch eine Chance?" nicht nur mit nein beantwortet, sondern auch die Begriffe Hörspiel und Radiokunst nicht mehr gelten lassen will, da das Radio sein Monopol für Radiokunst verloren habe, das Wort Hörspiel durch falsche Besetzungen abgewirtschaftet sei, und schließlich davon überzeugt ist, daß wirkliche Hörkunst nurmehr außerhalb der Funkhäuser stattfinde.

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So radikal verstanden, wie diese Hörkunst sein wird, lassen sich aber wegen der kulturpolitischen Zwecke der Sender, ob halbstaatlich oder privat, Zweifel an ihrer Überlebensfähigkeit in diesen Apparaten anmelden. Falls diese Form am Leben gehalten werden soll, wird der Druck, mehr Unterhaltsamkeit anzubieten, zunehmen. Diese Sorte Kunst würde ich dann weiterhin allenfalls Höfische Kunst nennen, so wie die Nachrichtensendungen dieser Anstalten nichts anderes sind als Hof- und Polizeiberichterstattung. Dies hat einen klaren Zweck. Für AUDIO ART wird wenig Platz bleiben. Die wird da entstehen, wo sie schon längst entstanden ist und ihre Bedingungen findet: in der Freiheit.

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Objektiv wird man Ulrich Gerhardt antworten dürfen, daß in der Tat viele jüngere Beiträge der Hörkunst bereits außerhalb der Funkhäuser realisiert wurden, zumeist aber im Auftrag einer Dramaturgie. Und daß es nach wie vor die Funkhäuser sind, die auch für eine solche Kunst noch die besten Verleger und Verteiler sind. Auch besteht nach wie vor, ja zunehmend ein Interesse des Publikums an überzeugenden Beispielen im Fächer zwischen einem Hörspiel, das seinen Namen wirklich verdient, und einer Hörkunst im Kontext der aktuellen Künste. Die Hamburger Hörspieltage 1963, die "1. Acustica International" 1985 können dies mit eindrucksvollen Zahlen belegen. Zum Schwarzsehen oder Schwarzhören besteht also vielleicht doch noch kein Grund. Jedenfalls für Heinz Hostnig, dem Ende der60er Jahre ausgerechnet beim Saarländischen Rundfunk in der Entwicklung des Neuen Hörspiels eine bedeutende Rolle zufiel. "Im Gegenteil", lautete seine Prognose auf der Dramaturgentagung.

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Ich bin fest davon überzeugt, daß das Bedürfnis nach dem Diskurs in dem Maße steigen wird, wie die Bilderfluten des Fernsehens und des Kassenkinos, wie das seichte Musik- und Wortgeplätschere in den Hörfunkkanälen überhandnimmt. Gerade für die ARD mit ihrem insgesamt beträchtlichem Volumen an verfügbaren Sendezeiten und Finanzmitteln ist die Ausgangsposition des Hörspiels zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Diskurses derzeit noch immer günstiger als in den meisten vergleichbaren Medien des Auslandes. Hoffnungsfroh stimmt auch, daß in der ARD weiterhin beträchtliche Mittel zur Erneuerung von Hörspielstudios und ihrer technischen Einrichtungen eingesetzt werden. WDR und NDR sind dafür Beispiele. Wir können uns auch nicht beklagen über kreativen Nachwuchs bei den Toningenieuren. Er gestattet uns, den Dialog zwischen Kunst und Technik wenigstens in den Grenzen weiterzuführen, die unserem Medium aus programmtechnischen Gründen vorgegeben sind. Wünschenswert wäre allerdings ein von der ARD gemeinsam betriebenes Experimentalstudio, in dem die Pioniere der Radiokunst ohne Zeitdruck ihre Erkundungen machen könnten. Manche Privatstudios fangen an, uns hier den Rang abzulaufen.

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Heinz Hostnigs Plädoyer fordert also nicht zur resignativen Grabpflege eines "Medienbiotops" (Buggert) auf, sondern in einer richtigen Einschätzung der "Möglichkeiten der Massenkultur" zur Produktion von "Qualität". Dabei lassen sich die beiden letzten Sätze des Zitats - auch wenn sie nicht in dieser Richtung formuliert sind - durchaus auf Pierre Henrys privates Studio Apsome und die inzwischen legendären Studios des Club d'Essai der ORTF münzen. Womit auch die Sendung wieder bei dem ihr gemäßen historischen Diskurs angelangt wäre.

Denn auf die Entwicklung der konkreten Musik im Club d'Essai als einer wesentlichen Voraussetzung moderner Hör- oder Radiokunst verweist nicht nur die Person Pierre Henrys, sondern auch John Cage, nach dem in der "Symphonie pour un homme seul" ein Element "Cage" getauft war, den Pierre Schaeffer in seiner Darstellung der "Musique concrète" zu den "Vorgängern" rechnet.

Eine zweite, fast noch wichtigere Verbindungslinie führt aber vom Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks über John Cage nach den USA. Bevor ich sie aufnehme, ist zitierend ein wenig auszuholen und zu erinnern, daß ein Charakteristikum der Hörspielarbeit der 80er Jahre ihr Bemühen um Internationalität ist. Dieses Bemühen hat durchaus verschiedene Gesichter. So berichtete zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter dem Datum vom 28. Juli 1981:

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Die internationalen Bemühungen der WDR-Hörspielredaktion um die Weiterentwicklung der einzigen "radiophonen Kunstform", des Hörspiels, werden nicht nur durch die zahlreichen Programmbeiträge ausländischer Autoren belegt, sondern auch durch eine nahezu "missionarische Tätigkeit" in "Weltgegenden ohne Hörspieltradition". Wie Paul Schultes, Leiter der WDR-Hörspielabteilung, und die Dramaturgen Johann M. Kamps, Wolfgang Schiffer und Klaus Schöning bei der Vorstellung des Hörspielprogramms für das zweite Halbjahr 1981 erläuterten, gehören dazu vor allem Südamerika und Afrika. Eine der Ausformungen dieser Tätigkeit besteht in der akustischen Vermittlung südamerikanischer und afrikanischer Literatur. (Karl H. Karst)

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In welchem Maße diese Form internationaler Hörspielarbeit den Charakter kultureller Entwicklungshilfe haben kann, wird deutlich, wenn der WDR zum Beispiel mit dem Goethe-Institut und der Adenauerstiftung in Brasilien einen Wettbewerb aus schreibt, "der die ausländischen Autoren anregen soll, unmittelbar für den Rundfunk zu schreiben" - mit dem Fernziel auch der "Ausstrahlung von Hörspielen in den Entstehungsländern". Von dieser Art Hörspielimport mit dem Wunschziel eines späteren Feed back in eine anders geartete Medienlandschaft unterscheidet sich der Hörspielexport in eine solche.

Zitat
Wie der Leiter des Programmbereichs Hörspiel und Unterhaltung, Paul Schultes, dazu gegenüber epd im einzelnen erläuterte, ist Partner des Projekts in den Vereinigten Staaten zunächst die nichtkommerzielle Senderkette Pacifica in San Francisco, die aus Hörergebühren finanziert wird. Geplant ist, zunächst sechs Hörspiele aus der Bundesrepublik ab Mitte des nächsten Jahres in englischer Übersetzung über die Sender der Pacifica-Kette auszustrahlen, ergänzt durch ein Begleitprogramm, das aus Hörspielkursen, Diskussionen sowie Lesungen amerikanischer Autoren besteht. Ihre Beteiligung an diesem literarischen und theoretischen Zusatzprogramm haben bisher auch schon die Universitäten Berkeley und Stanford zugesagt. Finanziert wird das Unternehmen von der Pacifica-Kette, dem National Public Radio, der Stiftung National Endowment for the Arts, dem Goethe Institut, dem San Francisco State College sowie dem WDR.

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Als "kleiner repräsentativer Querschnitt der Qualität des traditionellen und experimentellen Hörspiels" (WDRprint Nr. 105, April 1985) wurden für dieses Projekt übersetzt und in den USA inszeniert "Die Andere und ich" von Günter Eich, "Das Opfer Helena" von Wolfgang Hildesheimer, "Gertrud" von Charles Dürr und Wolfgang Schiffer, "Frühstückgespräche in Miami" von Reinhard Lettau, "Fünf Mann Menschen" von Friederike Mayröcker und Ernst Jandl (Regie Klaus Mehrländer) und der "Monologe der Terry Jo" von Max Bense und Ludwig Harig (Regie Klaus Schöning). Dieser "Querschnitt" wurde ergänzt durch folgende sechs Originalproduktionen des WDR3-HörSpielStudios: "'Wind und Meer" von Peter Handke, "Nach der Lektüre von Orwel" von Mauricio Kagel, "Roaratorio" von John Cage, "Radio" von Ferdinand Kriwet, "Natürliche Ansammlungen und die echte Krähe" von Alison Knowles und "Hsin Hsin Minh" von Georges Brecht.)

Der Erfolg war verblüffend. "The hörspiel" - ich diskutierte bereits in einer früheren Sendung diesen bezeichnenden Fremdwortgebrauch der Amerikaner - "the hörspiel" löste eine erstaunliche Leserpost aus.

Zitat
Ich hoffe, daß dies erst der Anfang ist.
(oder):
Was Sie mit dem Radio als "hörbare Kunst" erreicht haben, hat mich verblüfft.
(oder):
Schon jetzt erscheint mir die Serie als historischer Durchbruch.

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Diese Hörspiel-Kooperation des WDR mit den USA hat durchaus eine Vorgeschichte, die sich anhand einiger Daten schnell skizzieren läßt. Nach einigen publizistischen Darstellungen, unter denen diejenige Armin Paul Franks von 1963 (Neuauflage 1981) hervorragt, blieb es lange still um das amerikanische Hörspiel, dessen Bild sich im öffentlichen Bewußtsein vor allem auf die indiskutablen Soap operas verkürzte. Selbst Franks Hinweis darauf, daß die ersten nachweislich gesendeten Hörspiele 1922 in New York und Cincinnati ausgestrahlt wurden, berührte die Forschung in keiner Weise. Ausnahmslos Archibald MacLeish's "The Fall of the City" (1937) galt als einzig diskutabler und bemerkenswerter Hörspielbeitrag eines Landes mit kommerziell ausgerichtetem Rundfunkprogramm. Lediglich wegen seiner Wirkung häufiger noch erwähnt wurde Howard Koch/Orson Welles "War of the Worlds" (1938). Erst Mitte der 70er Jahre ändert sich dies langsam, berichtet Karl Schmidt erstmalig über das "Earplay-Projekt" (10.5.1976) in einer WDR-Sendung, die in aktualisierter Form noch einmal 1982 wiederholt wird, inszeniert Klaus Schöning in einer Übersetzung Robert Schnorrs den "Krieg der Welten" (deutsche Erstsendung 16.4.1976 mit einem Essay Schönings), der seither mit leichten Schnitten und Überarbeitungen mehrfach wiederholt wurde und damit einen Hörspielklassiker auch dem deutschen Rundfunkhörer zugänglich machte.

Gehören die Spiele MacLeish's und Koch/Welles einem ersten Höhepunkt dieser Gattung in den USA zu, markiert das "Earplay-Projekt" einen zweiten, der fast die ganzen 70er Jahre umfaßt. l973 sendete der WDR mit Anne Leatons "Das Flüstern der Welt vor der Auflösung" das erste bei einem "Earplay"-Wettbewerb ausgezeichnete Hörspiel, 1978 mit Arthur Kopits "Schwingen" ein weiteres, das 1979 mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet wird. Und auch das 1982 in der Reihe "Hörspiel USA" plazierte Hörspiel Israel Horowitz', "Kein Nachwuchs für den Champion oder Der Junge der New Jersey erschoß", findet wiederum große Beachtung bei der Jury dieses Preises. Inzwischen war aber die Zukunft des "Earplay"-Projekts wegen radikaler Budgetkürzungen äußerst ungewiß geworden, ging ein zweiter Höhepunkt amerikanischer Hörspielgeschichte seinem Ende entgegen.

Genau hier aber beginnt in einer zweiten Kooperationsphase die Zusammenarbeit des WDR mit der Pacifica-Kette, bei der es sich nicht mehr ausschließlich darum handelte,

Zitat
das Hörspiel wieder zu einem Vermittler der amerikanischen Dramatik und zu einer wichtigen Programmsparte innerhalb der öffentlichen Rundfunksender zu machen. (1/1976. S. 29).

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Diese zweite Phase zielte vielmehr deutlicher als die bisherige Hörspielentwicklungshilfe auf die Frage, ob es nicht einen internationalen "Radio Sound" (Schultes) gebe und berührte sich hier mit Klaus Schönings Erarbeitung einer "Acustica International" aufs Engste, der seit 1979 im WDR3-HörSpielStudio eine umfangreiche Reihe "Acustica International. Grundlagen, Entwürfe, Beispiele" etablierte, (aber auch außerhalb des Senders vorstellte.) Es ist beachtenswert, daß John Cages "Roaratorio" nach seiner Erstsendung in der Reihe "Komponisten als Hörspielmacher" 1979 bei seiner Wiederholung anläßlich der Verleihung des Karl-Sczuka-Preises 1980 in dieser Acustica-Reihe plaziert wird, in der ihm 1981 die Sendung "Text-Sound-Sound-Poetry USA (1)" mit Arbeiten und Beiträgen von John Cage, Alison Knowles, Jackson Mac Low, Jonathan Albert, Philip Corner, Richard Kostelanetz folgt.

Einspielung
(Ein kurzes instruktives Stück Sound-Poetry.)

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Vorgestellt wurden diese Künstler von Klaus Schöning, der dann in weiteren Sendungen die dramaturgische Vermittlungsarbeit und "dramaturgische Spurensuche" vertiefte: und zwar unter dem Reihentitel "Hörspiel USA". In seinem Vortrag "tHEARtofRADIOdrama", gehalten 1984 auf der EBU-Konferenz in Genf wies er auf die konsequente Öffnung des Neuen deutschen Hörspiels zu einem Hörspiel international hin:

Einspielung
Sehen Sie diese transatlantische Brücke,
die dort in das Kölner Laboratorium führt?
Viele haben sie betreten in den letzten Jahren.
Mit John Cage fing es an.
Dann kam der alte Jackson Mac Low,
im Rucksack ein tibetanisches Mantra
und das Alphabet der Sound-Poeten
ohne Anfang und Ende,
das jeder versteht, wenn er will.
Alison Knowles,
den Korb voller Bohnen, Kinderspielzeug
und Geschichten aus Vermont
und den Wäldern Henry David Thoreaus.
Jerome Rothenberg, der Ethno-Poet,
der die "Horse Songs" der Seneca-lndianer,
die ihn bei sich aufnahmen
und ihm einen Namen gaben,
der ihre sterbende Sprache
vermischt mit der jiddischen Poesie
seiner Vorfahren
im "Hörspiel des Bibers. A Testimony".
Dick Higgins. Doris Hays. Anne Tardos, Malcolm Goldstein,
Charly Morrow, Richard Kostelanetz und George Brecht:
Text-Sound-Sound-Poesie USA.
Akustische Kompositionen,
unbeeinflußt von der Dramaturgie
des RadiohörSpiels Europas.
Eingebunden jedoch in die Tradition
der akustischen Kunst.
Die Vermischung der Sprachen.
Multilingua.
Die Vermischung der Kulturen.
HMCIEX.
Ein Here-Comes-Everybody-Mix.
Und die für das europäische HörSpiel
noch unentdeckte Kraft
der anderen Kontinente.
Afrika, Asien, Australien.
Deren originale Stimme nur schwach,
nur übersetzt, adaptiert hörbar wurde
im europäischen HörSpiel-Konzert.
Öffnen wir die Brücken für ihre authentischon Stimmen.
Hören wir zu
und reden nicht auf sie ein
mit einer Dramaturgie, die es besser zu wissen meint.
Ihre Literatur ist eine Literatur
zum Hören.
Wie ihre unvergleichliche Musik,
die wir lieben.
Erhalten wir die Originale.
Senden sie.
Lernen wir die Kunst des Synchronisierens.
Zeichen des Respekts.
Der erste Schritt zur Zusammenarbeit.
Zur Arbeit an gemeinsamen Projekten.
HörSpiel international.
Offen, durchlässig, alle einladend,
unwägbar.

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Auch die "1. Acustica International" war eine Veranstaltung, die ihre Impulse wesentlich von diesem utopischen Entwurf, sowie von dieser "akustischen Spurensuche" und dramaturgischen Arbeit empfing, vorbereitet nicht nur durch die genannten Beispiele akustischer Kunst, sondern als musikalisch akustischer Aspekt des formal offenen Neuen Hörspiels, erarbeitet in zahlreichen flankierenden Kommentaren und Gesprächen mit den Künstlern im WDR3-HörSpielStudio und den Dramaturgen-Kollegen in den USA. Anfang 1984 konnte Klaus Schöning in zwei großen Sendungen "Hörspiel USA. Dokumente einer transatlantischen Zusammenarbeit WDR Köln/KPFA Berkeley" eine erste Bilanz ziehen und vermuten:

Einspielung
Die Verknüpfung der deutschen Hörspielentwicklung mit der internationalen wird wahrscheinlich die Zukunft der akustischen Kunst wesentlich mitbestimmen. Dabei können Erfahrungen und realistische Einschätzung der amerikanischen Radiomacher, die innerhalb eines noch wesentlich anders bestimmten Medien-Systems arbeiten, für die sich rasch verändernde Situation unseres Medien-Systems, und damit auch des Hörspiels, aufschlußreich und hilfreich sein.

Autor
Wie recht Klaus Schöning hier wahrscheinlich hat, das belegt recht eindrucksvoll der Sender Freies Berlin, der im ersten Quartal 1985 gleich zwanzig der insgesamt 50 Hörspielsendungen unter dem Schlagwort "Audio Art" subsumierte, das illustrieren akustisch die von der Akademie der Künste, dem Künstlerprogramm des DAAD und der Technischen Universität Berlin veranstalteten "Inventionen '86", die sich unter den "Sprachen der Künste" in diesem Jahr das Wechselverhältnis von "Sprache und Musik" als Thema gestellt hatten - mit zahlreichen Beiträgen der "1. Acustica International" in einer WDR-Hörspielaudiothek.

Drei Punkte sind mir am Ende meines Versuches einer Geschichte und Typologie des Hörspiels, in der augenblicklichen Situation des Hörspiels noch wichtig. Zunächst zwei Richtigstellungen.

1. Ulrich Gerhardt hat - mit dem Rücken zur Wand - im Sender Freies Berlin 1985 nicht nur die Reihe "Audio Art" ins Programm gesetzt, er hat auch in seiner Rede auf der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft auf die hier einschlägige amerikanische Szene verwiesen und formuliert:

Zitat
daß Klaus Schöning im WDR diese und andere Entwicklungen aufgegriffen hat, ist sein Verdienst - seine Erfindung sind sie nicht. Aber es ist von unschätzbarem Wert, daß sie nun in unseren Programmen erscheinen und vorführen, was auch Hörkunst ist.

Autor
Dazu möchte ich anmerken, daß jeder, der sich halbwegs in der internationalen Kunstszene auskannte, die meisten der Namen zumindest schon gehört hatte. Daß manche der hier einschlägigen Künstler auf Veranstaltungen auch in der Bundesrepublik, in internationalen Publikationen z.B. der Stuttgarter Edition Hansjörg Mayer mit tendenziell unterschiedlichen Beiträgen vertreten sind und zumindest im WDR seit 1970 gelegentlich Erwähnung fanden. Nicht allerdings zunächst im Hörspielprogramm. Und hier ist es nun in der Tat das Verdienst Klaus Schönings, die offene Form des Neuen Hörspiels seit Ende der siebziger Jahre zunehmend auch diesen verschiedenen Tendenzen geöffnet zu haben. Als Hörkunst nicht neu, sind ihre Einschätzung als Hörspiel, die Erweiterung seiner Möglichkeiten das hier entscheidend Innovative einer dramaturgischen Arbeit.

2. Ulrich Gerhardt bezweifelt, daß der Rundfunk in seiner heutigen Ausprägung der geeignete Ort, das geeignete Podium für eine derartige Hörkunst ist. Ein Zweifel, der übrigens schon einmal im Zusammenhang der Diskussion über das "Verfahren O-Ton" von Michael Scharang geäußert wurde.

Ich habe seinerzeit Michael Scharang nicht Recht geben können und möchte heute Ulrich Gerhardt antworten, daß der von ihm ja begrüßte Import dieser Hörkunst nicht zufällig das Ergebnis "einer transatlantischen Zusammenarbeit" von Rundfunkanstalten ist. Und daß es private Rundfunksender Amerikas waren, die vielen der genannten Künstler über ihre Programme zu größerem Publikum, und damit zu Publizität und Erfolg verholfen haben. Ich meine, und dies wohl auch im Sinne von Heinz Hostnig, daß hier, bei richtiger Einschätzung der Möglichkeiten einer Massenkultur und eines Massenmediums, unter dem strengen Maßstab von Qualität, nach wie vor der Rundfunk der geeignete Verleger jeglicher Form von akustischer Kunst ist.

3. Das Hörspiel hatte in seiner Entwicklung diesen Apparat mit Einschränkungen zur Verfügung, der ihm mit immer besserer Technik eine Vielfalt der Aufbereitungsmöglichkeiten und Präsentationsformen bot und bietet. Das Hörspiel hat dies, wie unsere Sendungen im einzelnen belegt haben, erfolgreich zu nutzen gewußt, dabei als akustische Kunst seine wesentlichen Impulse aus der allgemeinen Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert bekommen, Immer wieder berühren sich mit zunehmend verkürztem Abstand Hörspiel- und Kunstentwicklung:

Von den dort zusammen mit dem schwedischen Rundfunk veranstalteten Festivals der Fylkingen-Gruppe, die seit 1969 einen eigenen "Fylkingen Catalogue of Text-Sound Compositions" herausgaben, schlägt sich zum letzten Mal ein Bogen zur letztjährigen "1. Acustica International". Charles Amirkhanian, Musikredakteur des kalifornischen Senders KPFA und Gesprächspartner Klaus Schönings, erinnert sich:

Einspielung
Das war 1972. Ich wurde eingeladen einige meiner Soundpoesie-Stücke bei den Fylkingen-Festspielen in Schweden, in Stockholm, vorzutragen. Das war für mich eine sehr schöne Zeit, weil ich Ake Hodell, Stan Hanson und Bob Cobbing und viele der bekannten Lautpoeten Europas kennen lernte. Gleich danach fuhren Carol Law und ich durch ganz Italien, und Deutschland und Frankreich und Belgien und die Niederlande und wir machten Interviews mit allen Lautpoeten, die wir auftreiben konnten. Als ich wieder in Amerika war, machte ich eine Serie von ungefähr fünfzig oder sechzig Sendungen über Lautpoesie, die ja ein so hoch entwickeltes Genre in Europa war und die in den Vereinigten Staaten nicht so sehr entwickelt war. Das Ergebnis war, daß viele in San Francisco und Umgebung und in New York wo meine Serie auch gesendet wurde, die Lautpoesie-Sendungen gehört haben, und sie fingen dann wirklich an sehr viele lautpoetische Stücke zu machen.

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Angereichert mit Erfahrungen der Concept art (die Jackson Mac Low 1963 zum erstenmal so benannte), einer internationalen konkreten Literatur (deren erste wichtige Anthologie Emmet Williams 1965 in New York und Stuttgart herausgab), der Fluxus- und Happening-Bewegung, der musikalischen Entwicklung John Cage's mit ihren heute noch kaum abschätzbaren Auswirkungen, verbinden sich auch diese Entwicklungslinien moderner Kunst seit Ende der 70er Jahre mit der Fortentwicklung des Neuen Hörspiels. Vielleicht ist es kein Zufall, daß dieser letzte Schritt zur gleichen Zeit geschieht, in der die wohl umfassendste Sammlung der konkreten Literatur, der Happening-, Fluxus- und Performance-Bewegungen einschließlich ihrer akustischen Belege, das Archiv Sohm, in die Staatsgalerie Stuttgart integriert wird. So gewinnt schließlich, nach einer langwierigen Geburt in Etappen, das Hörspiel endgültig Anschluß an die Entwicklung der Künste des 20. Jahrhunderts als eine diesen Künsten, auch in der Verwischung der Grenzen, zugehörige selbständige akustische Kunst.

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