Reinhard Döhl | Vorbericht und Exkurs über einige Hörspielansätze zu Beginn der fünfziger Jahre (1)

Ich möchte in meinem Beitrag weniger von Spuren konkreter und experimenteller Literatur im Hörspiel der fünfziger Jahre sprechen, als vielmehr von Ansätzen zu Beginn der fünfziger Jahre, die hörspielgeschichtlich zunächst folgenlos blieben, gar unterbunden wurden. Ich möchte ferner über ein nachdenkenswertes Wechselverhältnis zwischen Hörererwartung und dramaturgischem Vorverständnis berichten. Dies beides geschieht ~ Hörbeispiele und Zitate stehen zur Diskussion. Dabei gebe ich vorab zu bedenken, daß der Rundfunk ein Massenmedium ist, daß für sein Hörspiel - angesiedelt im Auftragsdreieck von Nachricht, Unterhaltung und Kultur (2) - Ansprüche, wie wir sie an eine Leseliteratur zu stellen uns gewöhnt haben, nur bedingt zu stellen sind.

Es ist ein wenig in Vergessenheit geraten, daß eine der Aufgaben, die sich einzelne Hörspieldramaturgien schon bald nach dem Kriege gaben, dem Versuch galt, eine durch den Nationalsozialismus und seine Rundfunkpolitik verschüttete und verstellte Hörspielgeschichte wieder freizulegen (3). Einen hörspielgeschichtlich interessanten Vergleich ermöglichen dabei zwei um 1950 gesendete "Lukullus"-Hörspiele.

1949 stellte der Münchner Sender seinen Hörern in einer ein wenig spektakulösen, musikträchtigen Inszenierung mit Bertolt Brechts "Das Verhör der Lukullus" eines der spärlichen Exilhörspiele vor. 1940 während des Einmarsches der Hitlertruppen in Frankreich von Radio Beromünster u. d. T. "Lukullus vor Gericht" urgesendet, war dieses Hörspiel Warnung vor falschem Heldentum und Antikriegsstück in einem. Seine deutsche Erstaufführung bekam durch den verlorenen Krieg, die Nürnberger Prozesse einen zusätzlichen Akzent. Der offene Schluß der ursprünglichen Fassung enthielt für den deutschen Hörer eine besondere Aufforderung.

(Musik weg)
DER TOTENRICHTER: Und so beschließe ich das Verhör. Von deinen Zeugen, Schatte, waren die glänzenden nicht die dir günstigsten. Jedoch fanden sich kleine am Schluß. Nicht ganz leer sind deine blutigen Hände befunden. Freilich war selbst für die beste Gabe, den Kirschbaum, die Bezahlung sehr hoch. Leicht hättest du mit nur einem Mann diese Eroberung machen können. Aber achtzigtausend schicktest du in den Orkus dafür. Jetzt müssen wir vorliebnehmen mit ein paar glücklichen Stunden für einen Koch, Tränen über die Vernichtung von Büchern und derlei wenig Nützlichem. Mit all dieser Gewalt und Eroberung wächst nur ein Reich an. Und das ist das Reich der Schatten.
(Musik)
DIE SCHÖFFEN: Wir aber, die Totenschöffen, bestimmt, die Gestorbenen zu richten, betrachten, was sie, die Erde verlassend, der Erde gegeben.
(Musik weg)
DER SPRECHER DES TOTENGERICHTS: Und vom hohen Gestühle erheben sich die Ahnen der Nachwelt. Der mit den vielen Händen, zu nehmen. Der mit den vielen Mündern, zu essen. Der schwer zu täuschenden, eifrig sammelnden, fröhlichen Nachwelt.
(Musik)
DER TOTENRICHTER: Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück.
(Musik weiter). (4)
Aber nicht dieses Hörspiel wurde populär, vielmehr ein schon im Theater des Dritten Reiches erfolgreiches Theaterstück Hans Hömbergs, "Kirschen für Rom", das der Süddeutsche Rundfunk 1953 in einer Hörspielbearbeitung sendete (5). Für Gründgens-Fans ein Rarissimum - Gustav Gründgens spricht hier nach "Hans Sonnenstößers Höllenfahrt" (1937) (5a) als Lukullus seine zweite Hörspielrolle -, schildert "Kirschen für Rom" die Entmachtung des Feldherrn Lukullus durch den Militär Pompejus, seine Rückkehr nach Rom, seinen Verzicht auf politischen Erfolg, auf die Liebe und seine schließliche Bescheidung.
LUKULL: Was singst du denn für Trauerlieder - jetzt im Frühling, da die Kirschen blühen?
KOCH: Aus, sage ich, völlig aus! Abgemeldet, fertig und verbraucht - mit einem Wort: ich bin zu alt.
LUKULL: Langsam, langsam!
KOCH: Das Ferkel - angebrannt, versalzen und verpfeffert von Faliscus! "Faliscus war ein Koch und ist als Wasserkopf gestorben" - so könnt ihr bald auf meinen Grabstein schreiben.
LUKULL: Nur nicht verzweifeln! An sich verzweifeln dürfen nur die Großen dieser Erde!
KOCH: Sie aber sah ich nie an sich verzweifeln.
LUKULL: Eben. Ich gehöre auch nicht zu den Großen. Einmal, ja, da glaubte ich, ich sei der größte Koch, der größte Feldherr, der größte Erfinder und der am meisten geliebte Mann von Rom - am Ende ist von all diesen Träumen nur etwas übrig geblieben: die
Kirschen. Wir müssen zufrieden sein, Faliscus, mit allem, was uns das Leben verschönt hat. Zufrieden mit den Menschen, die uns begegnet sind. Zufrieden mit den Taten, die hinter uns liegen.
KOCH (getröstet): Das Muschelfleisch am Tage von Amisos - ja! Das war noch eine Tat! Ganz Pontus hatte meinen Namen laut gerühmt! Und jene Nußcremetorte, die ich am Hofe des Tigranes - seligen Angedenkens - baute! Wie hingerissen waren da die Menschen! Sie jubelten mir zu: Faliscus hoch! Hoch! Hoch! Und noch höher! Das waren Zeiten!
LUKULL: Siehst du, dein Auge leuchtet ja schon wieder. Wir sind beide miteinander alt geworden und jeder von uns hat Undank geerntet. Doch was macht das aus? Gar nichts. Die Menschen um mich her sind heute glücklich, ist das nicht schön? Und wenn es eines Tages soweit ist, dann soll man sagen - und soll es heiter sagen: Das war Lukull. Trotz seiner Fehler hat er nicht umsonst gelebt - da er die Kirschen nach Rom brachte.
KOCH: Und das war eine Tat!
(Akustikwechsel und sofort anschließend X. Intermezzo)
KÜCHENJUNGE: - und das war eine Tat
KOCH: für Zeit und Ewigkeit
KÜCHENJUNGE: und die Unsterblichkeit!
(Einblendend Marschtritt)
KÜCHENJUNGE: Seht an die Zeit -
(Marschtritt)
BEIDE: Links zwei drei - und links zwei drei!
KÜCHENJUNGE: Seht die Kanonen an -
KOCH: und seht die Generäle an!
(Marschtritt)
KÜCHENJUNGE: Bedenkt die Zeit!
KOCH: Bedenket die Kanonen!
KÜCHENJUNGE: Gedenket der Unsterblichkeit!
(Marschtritte ausblenden)
KÜCHENJUNGE: Seht an die Zeit!
KOCH: Seht an Lukull!
Und sehet auch die Kirschen an!
(Marschtritte weg)
KOCH: Ich aber, ein Koch und kleiner Mann, sage euch: dieser Mann Lukull war kein schlechter Mann. Er war vielleicht sogar ein großer Mann - der Kirschen wegen. (6)
Bereits dieser Schluß zeigt im Vergleich mit Brechts Hörspiel, in welchem Umfang wir es hier mit (literarischer) Verdrängung zu tun haben. Doch ist die Sache komplizierter, als es das Tondokument abhören läßt. Das für den Rundfunk von Heinz Huber eingerichtete Manuskript weist nämlich eine Vielzahl historischer und zeitgeschichtlicher Anspielungen auf, die in der Produktion fehlen. Einige Beispiele mögen genügen:

So hatte der Bearbeiter in historischem Rückblick durchaus nicht unironisch die "tapfere kleine Soldatenfrau" eingefügt, ferner "Geheime Kommandosachen", die "Heeresverpflegungsvorschrift", die "Schwächung der Heimatfront", "Kübelwagen" und "Schlangenfraß" eingemogelt, ließ er seine Stimmen von "Umerziehung" sprechen oder davon, "wie man minderwertige Subjekte liquidiert". Dies alles wurde außer in den Intermezzi von der Regle entweder historisch verbessert - aus "Sprenggranaten" wurden wieder "Römerspeere" - oder einfach gestrichen. Ebenso eine Vielzahl Zeitanzüglichkeiten, als da wären Milchbars, Mixgetränke, Düsenjäger, Chanel oder die schnoddrige Bemerkung eines Küchenjungen: "Wenn die Atome erst einmal statt kalten Superbomben den beißen Busen der Liebe sprengen werden".

Die Absicht des Bearbeiters liegt auf der Hand. Eingefügte sprachliche Fremdkörper sollten den gedankenlosen Konsum dieser Funkkomödie verhindern, sie sollten den Hörer sprachlich auf eine Vergangenheit zurückverweisen, deren kriegerischer Größenwahn und falsches Heldentum bereits in Vergessenheit zu geraten drohten. Und sie sollten den Hörer zugleich an eine Gegenwart erinnern, in der die Bundesrepublik auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges sich anschickte, wieder aufzurüsten.

Ich möchte nicht diskutieren, ob die Bearbeitung die Lustspielvorlage für den Hörer verbindlicher gemacht hätte, glaube aber festhalten zu dürfen, daß die Eingriffe der Regie die Absichten des Bearbeiters ins Unverbindliche zusammen- und zurückgestrichen haben. (6a) Damit kam die Regle einer Hörererwartung weit entgegen, die sich vom Rundfunk nach einem Arbeitstag Entspannungshilfe wünschte, Ablenkung von den Alltagsproblemen oder deren Lösung und Kompensation in der poetisch fernen Welt des Spiels. Ein belastetes Gewissen des Hörers angesichts einer immer ausschließlicher materiellen (Wohlstands)entwicklung Westdeutschlands ließ die Erinnerung an ungelöste Probleme, an moralisches Versagen und Schuld allenfalls in homöopathischen Dosen zu. Es ist aus dem historischen Abstand eine nachdenklich stimmende Erfahrung, in alten Pressemitteilungen zu lesen, wie hilflos verzweifelt von Autoren und Dramaturgen versucht wurde, auf derartige Verdrängungen hinzuweisen, Versäumnisse aufzuzeigen, den Hörer in seine eigene Verantwortung zu nehmen. (7)

Das vielleicht interessanteste Beispiel, der vielleicht interessanteste Versuch einer Höreraktivierung stammt von Günter Eich und wurde 1950 vom Nordwestdeutschen Rundfunk, 1952 noch einmal vom Südwestfunk gesendet Es handelt sich um das Hörspiel "Die gekaufte Prüfung". In ihm wollte Eich die Geschichte eines Lehrers, der sich vor der Währungsreform, um seine Familie vor Krankheit und Hungertod zu bewahren, von einem Schüler bestechen läßt und Prüfungshilfe gibt, dadurch aber in einen unlösbaren seelischen Konflikt gerät - in ihm wollte Eich diese "Alltagsgeschichte" offen lassen für den Hörer, der aus eigener Erfahrung einen Schluß der Geschichte selbst finden sollte.

"Verehrte Hörer, erlauben Sie uns ein kurzes Wort, bevor wir mit unserem Spiel beginnen. Wir müssen Sie darauf vorbereiten, daß das, was wir heute bringen, nicht wie gewöhnlich einen Anfang und ein Ende, eine Entwicklung und Lösung hat. Unser heutiges Hörspiel ist kein vollständiges. Einen richtigen Schluß, eine gültige Lösung können wir Ihnen nicht geben. Sie sollen nämlich den richtigen Schluß selber finden. Wir geben Ihnen nur eine gewisse Anregung dafür. Anstatt daß eine Geschichte unverbindlich an Ihrem Ohr vorüberrauscht, während Sie in Ihrem bequemsten Sessel sitzen, sollen Sie die ungemütliche Pflicht auf sich nehmen, selbst zu entscheiden, was mit den Personen unseres Hörspiels schließlich werden soll. Sie sollen sich also sozusagen verantwortlich fühlen. Und Sie sollen am Ende, wie ein Richter, ein Urteil fällen über Leben und Tod eines Angeklagten. Ferner müssen wir Sie noch bitten, erschrecken Sie nicht, wenn Sie in unserem Hörspiel noch einmal von der Zeit vor der Währungsreform hören. Es kam uns auf ein besonders deutliches Beispiel an. Und das fanden wir in jener Zeit, die vielleicht schon mehr oder weniger vergessen ist." (8)
Dieses Vorhaben Eichs ist so interessant, wie die Reaktion der Hamburger Hörspieldramaturgie bezeichnend war. Sie ließ nämlich - "den Hörern zur Erleichterung" (9) - drei Schlüsse zur Auswahl schreiben und senden, ein für das Wechselverhältnis Hörererwartung - Dramaturgie bezeichnender Schritt. Überhaupt trat bald an die Stelle der Versuche, durch einen offenen Schluß den Hörer auf eigene Entscheidungen zu verweisen, ihn derart zu aktivieren, zunehmend eine Tendenz der Entschärfung ins Unverbindliche. Historisches und Zeitgeschichtliches wurde parabelhaft ins Allgemeingültige hochstilisiert. Das läßt sich mit Spielen belegen, die im Zusammenhang der westdeutschen Remilitarisierung, im Kontext der sie begleitenden erbitterten Kontroversen zu hören sind, mit Hörspielreihen wie "Der Krieg in Rückschau und Gleichnis" (1955). Aus dem gleichen Jahr stammt Leopold Ahlsens preisgekröntes Hörspiel (und späteres Theaterstück) "Philemon und Baucis", das in einer beliebten Anlehnung an eine klassische Figurenkonstellation ein griechisches Bauernpaar vorführt, welches - im Partisanenkrieg zwischen deutschen Besatzungstruppen und griechischen Widerstandskämpfern - zwischen alle Fronten gerät durch den vergeblichen Versuch, das Gesetz der Gastfreundschaft aufrecht zu erhalten. Nicht der tragische Tod von Marulja und Nikolaos erhellt das Unmenschliche des Krieges. Die Unmenschlichkeit des Krieges konturiert vielmehr das private Schicksal, den Philemon- und Baucis-Tod der beiden Alten, demonstriert den Wert menschlicher Liebe über den Tod hinaus. Wenn der Partisan Alexandros schließlich desertiert, um die verwitwete Schwiegertochter der beiden zu heiraten, geschieht dies nicht aus Einsicht in die brutalen Mechanismen des Krieges,
sondern unter dem Eindruck eines "herzzerreißenden" Todes.
PETROS: Gut. Geh mit ihm, Marulja.
ALEXANDROS: Und genug -!
PETROS: Sei ruhig!
ALEXANDROS: - Ich habe das mitangesehen und das Maul gehalten, obwohl ich speien möchte, so kotzt es mich an -
PETROS: Sei ruhig!
ALEXANDROS: aber jetzt ist's genug; genug und genug - eine Frau!
PETROS: Ja. Seine Frau, Junge. Und es ist das Beste so, von allem das Beste, glaub mir das.
SPRECHER: Philemon und Baucis verliehen die Götter zum Dank für ihre Gastfreundschaft, gemeinsam ihr Leben zu enden.
ALEXANDROS: Man gab den beiden noch etwas mehr als fünf Minuten Zeit, Nikos trank, und Marulja trank, und sie war es nicht gewöhnt. Als sie hinausgingen, waren sie beide betrunken. Sie hatte den Weinschlauch über dem dicken Bauch, und er blies Flöte, und sie schlug den Takt auf dem Weinschlauch dazu. Es war ein Aufzug von unsagbarer Lächerlichkeit, von einer Lächerlichkeit, die das Herz zerreißt.
Ich bin desertiert: gleich am Tage darauf. Alka wartete auf mich. So lebe ich noch - von uns zwanzig als einziger. Aber ich kann nicht vergessen. Nichts davon kann ich vergessen. Auch nicht, wie man sie verscharrt hat; unter den Bäumen, an denen man sie
Aufgehängt hatte. Sie unter der Linde und ihn unter dem Eichbaum. Ich gehe noch manchmal hinauf zu ihrer Hütte. Die Äste der Linde und der Eiche verschränken sich, wenn der Wind sie zaust; und im Herbst, wenn das Laub raschelt, klingt es wie ein leises Schimpfen. Und wie ein Weinen und Lachen zugleich.
(Schlußmusik: Flöte) (10)
Bezeichnenderweise bezieht keine der von mir durchgesehenen Kritiken dieses Hörspiel auf die Wiederaufrüstungsdebatte, ihre öffentliche Diskussion. Rückwärtsblickend besorgte sich lediglich die "Funkkorrespondenz", ob es angebracht sei, "solch ein Thema, das leicht alte Wunden aufreißt, den deutschen Hörern zu präsentieren".(11) Um so einhelliger wird der Stoff als "ideal für ein Hörspiel", seine Gestaltung als "knappes Meisterstück" gepriesen (1la) , lobt die Rundfunkzeitschrift "Gong":
"Ein ergreifendes Spiel um einen tragischen Konflikt, zeitlos und doch zeitbezogen: ein Aufruf, zwischen allen Fronten der Macht und der Gewalt das Recht auf Menschlichkeit zu behaupten."(12)
Eine solche Reaktion stimmt bedenklich, läßt rückblickend fragen, ob die in den fünfziger Jahren recht beliebte Anlehnung an klassische Figurenkonstellationen oder Vorlagen es dem Hörer nicht zu leicht machte, sich vom konkreten Problem weg ins Allgemeine zu stehlen, in eine zugleich unverbindliche Allgemeingültigkeit. Ich verweise auf Wofgang Hildesheimers "Opfer Helena" (1955) ebenso wie auf seine "Prinzessin Turandot" (1954). Friedrich Dürrenmatts "Prozeß um des Esels Schatten" (1952), sein Exkurs nach Abdera war hintergründig gewiß Parabel des Kalten Krieges mit einer vorgeführten "schlimmstmöglichen Wendung". Aber wurde er wirklich so gehört? Boten die klassischen Vorlagen derartiger Hörspiele, der Versuch, durch Anspielung auf weltliterarische Modelle dem Realen der Gegenwart einen übergreifenden Sinn zu verleihen, boten sie dem Hörer nicht zugleich einen Ausweg aus der in Frage stehenden Realität? Ich denke, daß dies auch für Gerd Oelschlegels damals häufiger gesendetes und hochgeschätztes "Romeo und Julia in Berlin" (1953) gilt und möchte vermuten, daß die nur schwer verständliche Theatersequenz in Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan" (1958) im Kontext des Spiels genau dieses Dilemma anspielt. (13)

Politisch aufregend, darüber können auch Hörspielreihen wie "Die Vergangenheit ist noch nicht bewältigt" (1957) oder "Selbstporträt der Zeit" (1960) nicht hinwegtäuschen, wurde es in der Hörspiellandschaft der fünfziger Jahre, im sogenannten Zeithörspiel eigentlich nie. Das belegt recht instruktiv eine von Hansjörg Schmitthenner vorgelegte Auswahl "Sechzehn deutsche Hörspiele", die unter anderem "ein Spiegel zweier Jahrzehnte deutscher Geschichte" sein wollte, "ein Spiegel, in dem sich schon Millionen von Hörern wiedererkennen, prüfen und klären konnten." (14) Schmitthenner ist davon überzeugt, daß der Leser der "in diesem Band gesammelten Hörspiele (...) erkennen" werde, "daß es sich bei dem deutschen Zeithörspiel, von dem hier die Rede ist, nicht um Tendenz- oder Thesenstücke handelt, sondern um echte Literatur, die über Phrasen, Programme und Alltagsparolen hinweg auf das innere Wesen des Menschen zielt, dorthin, wo erlebt, gedacht und entschieden wird, auf jenes Humanum, aus dem allein eine neue Welt ihren Ursprung nehmen könnte. (15)

Schmitthenners Nachwort unterschlägt allerdings eine Tendenzwende im deutschsprachigen Nachkriegshörspiel, die wir mit 1951/1952 ansetzen müssen, vor der die großen Features von Axel Eggebrecht und Ernst Schnabel, die genannten Hörspiele mit offenem Schluß datieren, nach der das literarische Hörspiel reüssiert, das heute ausschließlich unser Bild vom Hörspiel der fünfziger Jahre bestimmt. Man kann diese Tendenzwende einer Erinnerung Helmut Heißenbüttels an die Ablehnung seines ersten Hörspiels durch den NWDR ablesen:

"1951, wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Probe aufs Exempel gemacht und eine von den Geschichten, die ich damals geschrieben habe, umgeändert in eine Folge von Dialogen und Monologen. Es ging um einen herumtrampenden Flüchtlingsjungen, der von einer älteren kinderlosen Frau aufgesammelt wurde und nun eine Weile bei dem Ehepaar wohnte. Es ergaben sich soziale und emotionale Mißverständnisse, die am Ende dazu führten, daß dieser Junge wieder auf die Landstraße ging. Das Hörspiel habe ich beim NWDR Hamburg eingereicht und wurde von dem Dramaturgen von Frau von Uslar ins Funkhaus gebeten. Der erklärte mir, daß er das Manuskript vor allem psychologisch interessant finde, aber der neue Leiter des Hörspiels, Dr. Schwitzke habe eben gemahnt, man solle doch die allzu zeitgebundene Thematik, Kriegs- und Flüchtlingsschicksale zum Beispiel, endlich fallen lassen. Man habe entdeckt, daß es auch im Hörspiel um die großen wenigen Themen gehe: Liebe, Treue, Tod, Vergänglichkeit. Ich habe mich bedankt, mein Manuskript wieder mitgenommen und zu Hause weggeworfen. Die Probe aufs Exempel hat mir für fast zwanzig Jahre gelangt". (l6)
Diese Entdeckung der "großen Themen" fällt zeitlich mit der Trennung von Hörspiel- und Featureredaktion zusammen. Letztere nimmt jetzt - wenigstens für die nächsten Jahre - die Diskussion zeitgeschichtlicher und politischer Thematik in ihre Verantwortung. Alfred Anderschs Indochina-Feature "Die Bürde des weißen Mannes" (1954), Peter Adlers "Die Vergessenen" (1956) oder Ernst Schnabels "Anne Frank - Spur eines Kindes" (1958) sind exemplarische Beispiele ihrer Gattung, der sich auf einer anderen Seite die an Hörmodelle Walter Benjamins anschließenden Radio-Essays Arno Schmidts zuordnen lassen. Was Ahlsens "Philemon und Baucis" nicht leisten konnte, brachte Erich Kubys "Nur noch rauchende Trümmer - Das Ende der Festung Brest" (1954) in die Diskussion um die Wiederaufrüstung ein. Ausgelöst durch einen Auftritt des Exgenerals Ramcke vor Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS, durch markige Sprüche der Art, "die Kriegsverbrecherlisten von heute" würden einmal "die Ehrenlisten von morgen sein", erarbeitete Kuby auf der Grundlage seines Tagebuches, das er als Gefreiter in der umkämpften Festung geführt hatte, ein Feature über den Wahnsinn der von Ramcke angeordneten Verteidigung "bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone", ein Feature, das nach Strafantrag Ramckes jahrelange juristische Folgen haben sollte. (17)

Die genannte Tendenzwende im Nachkriegshörspiel läßt sich schließlich noch mit Eichs bekanntestem Hörspiel "Träume" belegen, dessen Erstsendung am 19. April 1951 gerne als "Geburtsstunde" des eigentlichen Hörspiels apostrophiert wird. Diese Erstsendung kennt nämlich noch nicht die appellativen, immer wieder zitierten Schlußverse ("Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt"), die mit ihrem Appell zugleich die Ohnmacht des Appellierenden signalisieren. Sie endet stattdessen in der alltäglichen Realität der Zuhörer, der Geschichte einer Abtreibung, bzw. der Verteidigung der Angeklagten. Wichtiger aber noch ist die 1953 für die Buchfassung vorgenommene Änderung des Anfangs. Denn wo der Leser ein Gedicht mit dem vielzitierten Vers "Alles was geschieht, geht dich an" liest, hörte der Hörer der Erstsendung:

SPRECHER 1: Am 1. Juni 1949 wurde in Dortmund ein Kind mit zwei Köpfen und drei Armen geboren. Bei diesem Anlaß wurde die Behauptung aufgestellt, die Mißgeburten bei Menschen und Tieren hätten seit den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und seit dem Atomversuch von Bikini zugenommen. Der zuständige Standesbeamte hatte indessen lediglich die allerdings schwierige Frage zu entscheiden, ob eine oder zwei Geburten zu registrieren waren.
SPRECHER 2: Der Atomversuch von Bikini fand am 1. Juli 1946 statt. Die Atombombe wurde unter Wasser zur Explosion gebracht. Es war bei Beginn des Versuches nicht bekannt, wie weit sich die Kettenreaktion fortpflanzen würde. Es wird in Zukunft die Aufgabe der Wissenschaft sein, experimentell festzustellen, unter welchen Umständen jegliches Leben auf der Erde unmöglich und damit die Wissenschaft überflüssig wird.
SPRECHER 1: Die Atombombe verhält sich zur Wasserstoffbombe wie eine Steinschleuder zu einem modernen Flakgeschütz. Ächtet deshalb die Atombombe.
SPRECHER 2: Im Handbuch für Stabsoffiziere, Ausgabe 1980, werden Sie folgende Sätze lesen: "Der Abwurf von Bazillen über feindlichem Gebiet ist eine veraltete Kriegsmaßnahme. Sie ist nicht wirkungslos, kann aber nicht als kriegsentscheidend angesehen werden. (18)
Wenn Burghardt Dedner in seiner Analyse "Das Hörspiel der fünfziger Jahre und die Entwicklung des Sprechspiels seit 1965" den Hörer bereits um 1950 auf dem Wege sieht, "sich im kleinen Glück des Wirtschaftswunders einzurichten und über 'Nordseebad' und 'Gehaltsempfang' die Erfahrungen der Hitlerzeit und das noch immer fortbestehende Elend zu vergessen" (19), dann bezieht er (die Stichworte "Nordseebad", "Gehaltsempfang" und "vergessen" belegen dies) auf das einleitende Gedicht von 1953. Erst für diese Druckfassung mit ihren Gedichtergänzungen, erst für die ihr folgenden späteren Inszenierungen stimmen denn auch Dedners Folgerungen, seine Charakterisierung der Hörspielintentionen der fünfziger Jahre. Den "Hörer aus seiner blinden Zufriedenheit aufzuschrecken, wird zur selbstgewählten Aufgabe des Dichters. Dichtung versteht sich als Auftrag. Sie wird, vor allem, da der Dichter selbst gegen die Versuchungen des kleinen Glücks nicht immun ist, zum Appell von Mensch zu Mensch. (20)

Diese Tendenzwende - sicherlich mitbedingt durch ein Wechselverhältnis von Hörererwartung und Dramaturgie wird beschleunigt durch ein schon 1961 von Hans Paeschke (21) kritisch hinterfragtes "dichterisches" Hörspielverständnis der Dramaturgen. In diesem Zusammenhang sind einige Belege zum in der Forschung viel zu wenig beachteten Aspekt der Hörererwartung, der Hörerreaktion, dem Wechselverhältnis Dramaturgie und Hörer angebracht.

Wie dies von der Seite derjenigen aussah, die seit 1951 den "Hörspielpreis der Kriegsblinden" zu vergeben hatten, von welchem Hörspielverständnis die Juroren ausgingen, formulierte 1971 Friedrich Wilhelm Hymmen in einem Rückblick auf die damals 20jährige Geschichte dieses Preises:

"Vor zwanzig Jahren war alles noch so klar und einfach. Da ließ sich noch ohne Zwist durch gemeinsames Abwägen der Juroren ermitteln, welches Hörspiel von den Ursendungen des vergangenen Jahres das 'beste' war, (...) und in der Monatszeitschrift 'Der Kriegsblinde' war es zu lesen, als im Juli 1951 der Preis vorgestellt wurde: 'Wenn wir nach dem besten deutschen Hörspiel fragen, so meinen wir damit das gewinnreichste, also jenes Hörspiel, das uns noch lange nach der Sendung am tiefsten bewegt und das uns innerlich bereichert. Wir suchen also jenes Hörspiel, das vom Menschlichen her uns anredet und uns eine Hilfe gibt, mit dem Dasein besser fertig zu werden oder die Zusammenhänge und Aufgaben unseres eigenen Lebens besser zu verstehen.
Die 'Aussagekraft' müsse allerdings, so hieß es, mit künstlerischer Qualität verbunden sein, und aus diesem Grunde unterlag bei der ersten Jurysitzung (...) ein Hörspiel von Waldemar Maaß - weil 'dem Traktat zu nahe', wie damals in der Diskussion argumentiert wurde -, aber es unterlag zugleich auch Günter Eich mit seinem heute so berühmten Hörspiel 'Träume', weil diese Visionen der Angst, wie es dann in der Kriegsblindenzeitschrift hieß, 'ohne ein Wort des Trostes oder des Auswegs gezeigt werden' und sich Eich 'aller helfenden, weisenden Aussage entzieht." (22)
Wie die Hörer auf diese "Visionen der Angst" reagierten, erfuhr der Nordwestdeutsche Rundfunk schon während der Erstsendung. Eine Flut von empörten und beleidigten Höreranrufen erreichte das Funkhaus und wurde damals auf Band mitgeschnitten. Sie liefert die (hörersoziologisch) interessante Begleitmusik zur "Geburtsstunde des Hörspiels".
"Sagen Sie mal, was für'n Mist verzapfen Sie heute abend schon wieder im Rundfunk? Das ist zum Kotzen! Hängen Sie sich Ihre ganzen Hörspiele an'n Nagel, wissen Sie. Schweinemäßig ist das!"
"Das zu hören, also das entspricht einer Geschmacksverirrung, die Sie sich wieder leisten, das spottet jeder Beschreibung! Der Brief folgt dazu."
"Sagen Sie mal, wir hören da jetzt gerade so'n komisches Hörspiel (...). Sind Sie dafür zuständig, da irgendwelche Beschwerden anzunehmen. (...) Das ist ja grauenhaft, was Sie da den Leuten auftischen. (...) Ich möcht' mal was Nettes hören, nicht aber, daß da Kinder verkauft werden, um sie abschlachten zu lassen und sowas, sowas setzt man doch nicht Leuten zum Abendbrot vor."
"Es ist doch ganz unmöglich, daß ein einigermaßen intelligenter Mensch es wagen kann, den Hörern sowas vorzusetzen. Das grenzt ja an Wahnsinn, so was. In der heutigen schweren Zeit, wo jeder zu kämpfen hat, bringen Sie was, daß es einem hochkommt geradezu. Ekelerregend ist das ja. Das will Kultur sein? Solch'n Mist einem
vorzusetzen. Das ist ja haarsträubend. Es scheint mir höchste Zeit, daß Sie das Hörspiel sofort abbrechen!" (23)
In derartigen Reaktionen, in einer das Hörspiel in Mehrheit ablehnenden Hörerpost, im Zerbrechen einer jahrelang vorherrschenden "Solidarität zwischen Hörern und Rundfunk" sieht Heinz Schwitzke rückblickend den Beginn einer "Literatur und entsprechend des Hörspiels", die "in hohem Maße dem Publikum zuwider (...), in der Auseinandersetzung mit ihm" geschieht. (24)

Angesichts der diesen Höreranrufen, diesen Hörerzuschriften in ihrer Mehrheit zu entnehmenden bereits tiefgreifenden Verdrängungsmechanismen ließe sich aber auch fragen, wieweit hier Hörererwartung eine Hörspielproduktion, wenigstens indirekt, mit beeinflußt hat, wieweit auch eine immer stärker aufs Allgemeine zielende Poetisierung den öffentlichen Verdrängungsprozeß mit spiegelt. Immerhin nahmen die Rundfunkanstalten auf ihre Hörer soweit Rücksicht, daß man die Hörspiele zeitlich richtig zu plazieren versuchte. Entsprechend notiert Fritz Eberhard in "Der Rundfunkhörer und sein Programm" zu den Hörspielterminen des Süddeutschen Rundfunks, einem Mittwochabend- und einem Sonntagnachmittag-Termin (übrigens schon seit 1946):

"Die Wahl von zwei so verschiedenen Hörspielterminen, wie es Sonntagnachmittag und Mittwochabend sind, kommt den verschiedenen Wünschen der Hörspielfreunde offensichtlich entgegen." (25)
Das Buch Eberhards, das all denen zu empfehlen ist, die sich für die fünfziger Jahre mit Zahlenmaterial versorgen wollen, verzeichnet ferner seit 1950 "im UKW-Programm" noch "an einem anderen Abend" einen weiteren Hörspieltermin, von der Zahl der Besitzer entsprechend ausgerüsteter Apparate her gerechnet, zunächst für eine Minderheit. Hinzu kam schließlich - ebenfalls nach 1950 - ein mit 23 Uhr, später mit 22 Uhr relativ spät liegender Funkstudiotermin, an dem die damalige Dramaturgie Hörspiele plazieren konnte, die sie dem durchschnittlichen Hörspielkonsumenten noch nicht glaubte zumuten zu dürfen. In diesem "Funkstudio" wurden zum Beispiel zum ersten Mal - mit Rücksicht auf ihre unübliche Form Otto Heinrich Kühners "Die Übungspatrone" (1950), ferner Wolfgang Weyrauchs "Ballade" "Die Minute des Negers" (1953) oder Martin Walsers erste Hörspiele
vorgestellt. Die jeweiligen Einleitungen machen deutlich, wie sehr man sich zugleich um eine "ästhetische Erziehung" des Hörers bemühte:
"Wir wollen heute an unsere letzte Reihe aus dem vorigen Winter und Frühjahr anknüpfen, an unsere Experimente, die wesentlich darauf ausgingen, die rhythmischen Elemente, die der echten funkeigenen Kunst innewohnen, besonders hervorzuheben und damit eine adäquate Funkform für die Darstellung des von den kollektiven Mächten bedrohten Menschen unserer Zeit zu finden, seiner fast ausweglosen Situation." (26)
Vom Hörspielhörer und seinen Erwartungen handelt, wenigstens zu Teilen, ein Hörspiel Heinz Hubers, "Früher Schnee am Fluß" (1950/1952), das in der Literatur als Reagenz auf den Koreakrieg gelegentlich noch zitiert wird. Auch Hubers Hörspiel kennt den Appell ("Wenn die Welt zugrunde gehen wird, so geht sie zugrunde nur durch die grenzenlose Gleichgültigkeit der Menschen" (27)). Auch für Hubers Hörspiel gilt, daß menschlich-privates Schicksal sich vor das Zeitgeschehen (Koreakrieg) und seine weltpolitischen Implikationen drängt. Aber, und das haben Hubers Kritiker überhört: der Stoff ist authentisch. (28) Und der Auftrag, den der Reporter des Hörspiels mit nach Korea nimmt, der ihn veranlaßt, die Geschichte einer Hinrichtung so zu erzählen, wie er sie erzählt, dieser Auftrag ist von seinem Vorgesetzten im Hinblick auf den Hörer, die "Familie Schneider" genau formuliert. (29) Wenn man so will, kann man die Familie Schneider dieses Hörspiels durchaus gleichsetzen mit einem Großteil der Anrufer, die sich anläßlich der Eichschen "Träume" beim Norddeutschen Rundfunk meldeten. Dann thematisiert Hubers Hörspiel, in Gegenüberstellung eines angenommenen betroffenen und des sich in Wirklichkeit durch das Geschehen belästigt fühlenden Hörers, durchschnittliches Rundfunkpublikum und seine Reaktionen (ohne dies allerdings psychologisch zu hinterfragen).

STEIN: "Die Partisanin, die in der dritten Reihe stand, starb einige Minuten später, ohne mit einer Wimper zu zucken..." Drei Punkte dahinter, fertig, ab. Geschrieben am 3. November an einem dreckigen Fluß in einem verdammten Land, während früher Schnee fiel. Geschrieben zur Verteidigung unserer Ideale von Freiheit und Menschlichkeit. Darum und nur darum. Denn ich weiß, daß irgendwo in der Weit Herr Schneider, wenn er meinen Bericht gehört hat, den Löffel auf den Tisch legen wird und den Teller wegschieben wird und aufstehen wird und sagen wird: "Frau", wird er sagen, "Frau, ich habe genug gegessen." Und die Frau, wenn sie meinen Bericht gehört hat, wird die vollen Teller aufeinanderstellen und wird die Bratkartoffeln in die Küche tragen und wird schweigend das Tischtuch abwischen, und sie werden keinen netten Abend haben. Wenn sie meinen Bericht gehört haben. Und das wäre schon genug für einen müden Mann mit einer Schreibmaschine. Denn dann hätte nicht der viele Schnee die Stimme einen toten Freudenmädchens erstickt und nicht die Zellenwände das Weinen eines mutterlosen Kindes.

(Akustikwechsel, einblenden)
STMME DES RUNDFUNKSPRECHERS: "... hörte ihr Lied noch, während schon die ersten neun Delinquenten tot an ihren Pfosten hingen. In der zweiten Gruppe war sie selbst. Sie wehrte sich und mußte zu ihrem Pfosten hingetragen werden. Dann verband man ihr die Augen. Sie wurde wieder ruhig. Als die Salve krachte, sang sie die zweite Strophe ihres Liedes. Die Partisanin, die in der dritten Reihe stand, starb einige Minuten später, ohne mit der Wimper zu zucken..."
(Ausblenden)
DER MANN (mit vollem Mund): Mach mal das Radio aus, ich kann dieses Gequassel nicht mehr hören. Übrigens sind die Kartoffeln wieder mit Öl gebraten. Du weißt doch, daß ich - na gib schon her! Und die Platte mit den Frikadellen. Ich will meine Ruhe haben beim Essen.
DIE FRAU: Mit Öl komm' ich weiter. (30).
Für die Entwicklung des Nachkriegshörspiels ist schließlich die Einführung der Ultrakurzwelle nach 1950 folgenreich. Auch das muß in diesem Zusammenhang skizziert werden.
"Der auf der Kopenhagener Konferenz 1948 beschlossene und am 15. März 1950 in Kraft getretene Wellenplan gab Deutschland keine Langwelle und keine ausschließliche Mittelwelle. Für die bestehenden vier Besatzungszonen wurden je zwei Mittelwellen zugeteilt, die sämtlich Gemeinschaltswellen sind, also auch von anderen europäischen Sendern benutzt werden. Die Bezeichnung "Wellendemontage" kennzeichnete die Auswirkung auf Deutschland sehr richtig. Die Wellendemontage ließ sich leider nicht so leicht ausgleichen wie die industrielle Demontage, wenigstens nicht, was den Mittelwellenempfang angeht. Die Rundfunkanstalten der Bundesrepublik bauten unter dem Druck der Wellendemontage eine Rundfunkversorgung über Ultrakurzwelle (UKW) auf." (31)
Sicher ist, daß viele Hörer nach 1950 nicht sofort über Geräte mit UKW-Teil verfügten. Statistisch gesichert ist auch, daß nicht alle Hörer mit UKW-Empfangsmöglichkeit auch UKW hörten. Man muß also davon ausgehen, daß die Möglichkeit, Hörspiele auf UKW zu empfangen, erst allmählich ausgeschöpft wurde. Dennoch war die Einführung dieser Welle für die Hörspielentwicklung von großer Bedeutung, war es doch jetzt möglich, wegen des ausgezeichneten Empfangs ohne athmosphärische Nebengeräusche, einen Inszenierungsstil zu entwickeln und zu pflegen, der die Textvorlage nahezu schlackenlos umsetzen, bedeutungsträchtige Pausen mitinszenieren und auf die mitschöpferische Kraft der Hörerphantasie rechnen konnte. Der Regisseur, der diesen Stil wesentlich mitgeprägt hat, ist Fritz Schröder-Jahn. Heinz Schwitzke hat in seiner "Dramaturgie und Geschichte des Hörspiels" der Entwicklung dieses Stils größeren Raum zugewiesen und ihn als "Methode" charakterisiert, "bei der plötzlich alles, was bis dahin galt", ins Gegenteil verkehrt wurde:
"Stille, das war nicht mehr die Lücke zwischen Worten und Tönen, sondern Worte und Töne schwammen vereinzelt und vorsichtig in dem Meer aus Stille, das sie trug. Die Qualität einer Inszenierung wurde geradezu daran meßbar, daß der Regisseur es wagen konnte, sekundenlang und immer wieder Stille vorherrschen zu lassen, ohne daß sie unausgefüllt schien. Niemals wurde ein Geräusch als szenische Grundierung verwendet: es durfte mit dem Wort nicht zusammenfallen und dem Wort als Zeichen ebenbürtig werden. Das Laute war nicht etwa die Steigerung des Leisen, sondern eher umgekehrt: Lautes konnte unversehens und ohne Vorbereitungeinen Augenblick lang hervorbrechen, dann aber war alles wie von Schreck weggewischt, und nach einer langen, gleichsam beleidigten Stille kam die Möglichkeit dichtester Intensität durch den leisesten Ton." (32)
Gleichsam in einem Vorgriff auf diese dramaturgischen Möglichkeiten thematisierte schon 1949, also vor Einführung der Ultrakurzwelle, allerdings bei anderen inhaltlichen Voraussetzungen, ein heute vergessenes Stimmenspiel "Odilo" die Stille.
(Langsam verklingender Ton)
Still, als ob es gar nichts gäbe, so still ist es. Als ob wir nichts zu erwarten hätten. Aber wir warten doch. Wir tun das eigentlich immer. Und richtig, wie töricht, zu glauben, die Stille hätte keinen Inhalt. Sie hat ihn, und man kann ihn hören. Nur an der Front der Stille ist es still. Nur an der Front der Leere ist es leer. Wie ja auch von den Dingen immer nur der Saum zu sehen ist. So muß man denn wohl gute Ohren haben, um die Stille zu hören.
Aus ihr läßt ein Souffleur Odilo nacheinander schon von ihrem Wortschatz her "unmenschliche" Stimmen heraustreten, wieder verstummen, sich umkreisen, bis ins fast Unverständliche überlagern. Sie bilden mit ihren stereotypen, überwiegend banalen Worten oder Sätzen das akustische Umfeld zu einer immer dominierenderen Stimme, die - zitierend - jüngste Geschichte in ihre unausweichliche Katastrophe führt.
Wir haben es gar nicht notwendig, aus dieser politischen Bewegung etwa eine Religion zu machen. Ich kann diese geschichtliche Periode der Wiederherstellung der Ehre und Freiheit meines Volkes nicht abschließen, ohne es nunmehr zu bitten, mir die nachträgliche Zustimmung zu erteilen zu allem dem, was ich in diesen Jahren an oft scheinbar eigenwilligen Entschlüssen, an harten Maßnahmen durchführen und an großen Opfern fordern mußte. Der Soldat marschiert und kämpft, tötet und wird getötet, wie es seine Aufgabe und sein Schicksal war von je und immer sein wird. Den Krieg so hart zu führen wie nur irgend möglich, ist die selbstverständliche Pflicht des Soldaten und zugleich die menschlichste Form...
(Aufschrei)
Das Ende scheint endgültig. Nur der "Stimme der Liebe" bleibt die zugesicherte Hoffnung der Unsterblichkeit, während die anderen Stimmen von der Stille wieder aufgesogen werden.
 
- Was naht sich da. Die Erde bebt. Siehst du, wie die Häuser wanken. Odilo!
- Fürchte dich nicht. Wir sind unsterblich.
(Bombeneinschlag. Nach einer Pause)
- Still. Nachdem sie etwas Grauenhaftes getan haben, ist es denn auch geschehen. Stille. Wie war denn das? Seltsam, ich verstehe es nicht. Was hat der Souffleur damit zu tun, Odilo? Fürchte dich nicht, sagte er, und da geschah es. Das war soeben die Katastrophe.
Aber jetzt - ein rätselhafter Augenblick. Ja, vielleicht ist es sogar das Wunderbare, was jetzt geschieht. Denn diese Stimmen, meine peinigenden Stimmen werden bald von der Stille wieder eingeschlossen sein.
Die Zitate können ohne die Tonbeispiele nur einen ungenügenden Eindruck von einem Spiel vermitteln, auf das die Stuttgarter Dramaturgie mit Recht stolz war. Sein verstorbener Verfasser - Paul Ohlmeyer - ist hörspielgeschichtlich sonst nicht von Bedeutung. Wohl aber dieses eine, sein - soweit mir bekannt ist - einziges Hörspiel, das 1949 von Helmut Jedele inszeniert wurde, der zusammen mit Martin Walser, Heinz Huber, Peter Adler und Hans Gottschalk zu den Mitarbeitern in Gerhard Pragers Stuttgarter Dramaturgie zählte. Als Mitarbeiter waren sie bald derart eigenständig, durchaus auch aufmüpfig, daß sich für sie die Bezeichnung "Stuttgarter Genietruppe" (nicht "Genietrupp", wie Schwitzke schreibt) einbürgerte. Als solche geistern sie gelegentlich noch durch hörspielgeschlchtliche Untersuchungen, ohne daß ihre hörspielgeschichtliche Bedeutung erkannt, geschweige denn in ihren wirklichen Ausmaßen umrissen wird. Auch ich kann dies in diesem Zusammenhang nur in Stichworten leisten, wobei erschwerend hinzukommt, daß wichtige Hörspielaufzeichnungen dieser 'Truppe' inzwischen gelöscht wurden, nicht alles interessante Material mehr zugänglich ist.

Gottschalk, Jedele und Walser lieferten Bearbeitungen und führten Regie, Jedele zum Beispiel bei Ohlmeyers "Odilo", bei Kühners "Übungspatrone" und bei einem frühen Hörspiel Martin Walsers, "Die letzte Ausflucht", 1953, nach einer Erzählung von Arno Schmidt, aus dem ich ein eingelegtes grammatisches Spiel zitieren möchte:

1. STIMME: Ich war...
2. STIMME: Ich bin gewesen
3. STIMME: Ich war gewesen
PYTHEAS: 1., 2. und 3. Vergangenheit: 52 Jahre! Was die Grammatiker doch für flache unlogische Köpfe sind.
1. STIMME: Ich war...
PYTHEAS: Das nennen sie erste oder unvollkommene Vergangenheit!
2. STIMME: Ich bin gewesen
PYTHEAS: Zweite oder vollkommene Vergangenheit!
3. STIMME: Ich war gewesen
PYTHEAS: Dritte oder übervollkommene...
4. STIMME: Ich werde sein...
PYTHEAS: Vage Zukunft
3. STIMME: Ich bin
PYTHEAS: Intensive... enge Gegenwart
5. STIMME: Ich bin
PYIHEAS: Gefangen
5. STIMME: Ich bin
PYTHEAS: Gefangen
5. STIMME: Ich bin
PYTHEAS: Nein nein, ich bin nicht! "Gefangen" heißt: ich bin
1. STIMME: Ich war
PYTHEAS: Frei! das ist keine unvollkommene Vergangenheit! 0, diese Grammatiker!
1. STIMME: Ich war!
PYTHEAS: Das ist die vollkommenste Vergangenheit.
2. STIMME: Ich bin gewesen
PYTHEAS: Da ist ein "ich bin" dabei... eine Gegenwart, das ist die unvollkommene Vergangenheit!
(jetzt die 5 Stimmen durcheinander)
1. STIMME: Ich war
2. STIMME: Ich bin gewesen
3. STIMME: Ich war gewesen
4. STIMME: Ich werde sein
5. STIMME: Ich bin." (34)
Von Helmut Jedele stammt ferner die häufiger zitierte, aber wie es den Anschein hat nicht immer gelesene Dissertation über "Reproduktivität und Produktivität im Rundfunk" (35), die, wie die argumentativ benutzten Hörspiele von Kühner, Eich, Schäfer und Eggebrecht zeigen, wesentlich aus der Stuttgarter Praxis entstanden sein dürfte.

Neben Jedele war Martin Walser mit sehr eigenständigen Inszenierungen der wohl wichtigste Regisseur dieser Gruppe. Von ihm stammen nicht nur interessante Inszenierungen Weyrauchscher Hörspiele (u.a. der "Minute des Negers" (36)), sondern auch eigener Arbeiten, so seines zweiten Hörspiels "Draußen" von 1953, der Geschichte eines Namenlosen, der vergeblich versucht, aus der großen Kälte in eine fragwürdige Geborgenheit zu gelangen, bis er sich schließlich dem Zirkus, der großen Narrenarmee anschließt.
"(Zirkuskapelle nähert sich mit mächtiger Musik)
N.: Zieht mir den Hokus-Pokus-Frack an, drückt mir das Gewehr in die Hände, pfeift mich hinein in die warme Manege, peitscht mich herum im blutigen Kreis zum Gelächter der eng beieinandersitzenden Zuschauer, die sich nicht satt sehen können an unseren Übungen! Hängt mir die Nummer um den Hals, die mich einrollt in die allmächtige Narrenarmee. Ich bin kein Freiwilliger, aber ein guter Narrensoldat!

CHOR DER NARRENARMEE (mit Musik):
Bravo, bravo, bravo!
Endlich unser Mann
Endlich angekommen
Endlich unser Mann!
1. STIMME: Wir haben gewartet
2. STIMME: Aber wir wußten
3. STIMME: Aber wir wußten, solange wir warteten
CHOR: Daß Du zu uns kommen würdest.
Bravo, bravo, bravo
Endlich unser Mann
Endlich angekommen
Endlich unser Mann!
1. STIMME: Ein Mann mit Hoffnungen.
2. STIMME: Ein Mann mit Aufstiegsmöglichkeiten.
3. STIMME: Ein Mann mit ungeheuren Aufstiegsmöglichkeiten.
1. STIMME: Ein Mann, wie man ihn braucht.
CHOR: In Zirkus Aberdon's Narrenarmee!
Bravo. Bravo. Bravo!
N.: Bravo - auch von mir!
Sind noch Fragen an mich,
Formalitäten,
Will jemand wissen, warum ich komme,
Will jemand fragen, wie lange ich bleib?!
Ich sage alles, alles, was ich zu sagen habe!
1. STIMME: Du hast nichts zu sagen'
2. STIMME: Niemand will etwas wissen von dir!
3. STIMME: Du hast nur zu singen,
1. STIMME: nur zu marschieren,
2. STIMME: nur zu tanzen,
3. STIMME: nur mitzumachen,
CHOR: was jeweils befohlen wird!
1. STIMME: Und jeweils wird befohlen,
2. STIMME: was jeweils nötig ist,
3. STIMME: was jeweils wichtig ist.
CHOR: Das ist schon alles!
1. STIMME: Tritt ein!
2. STIMME: Tritt ein!
3. STIMME: Tritt ein!
CHOR: Tritt ein!
N.: Ich trete ein.
1. STIMME: Du gehörst zu uns.
2. STIMME: Es wird warm.
N.: Ja, warm.
3. STIMME: Wir berühren dich, wir alle.
N.: Alle mich.
1. STIMME: Wir sind alle eins.
N.: Alle eins.
2. STIMME: Wir alle sind
N.: Alle sind
CHOR u. N.: Zirkus Aberdon's Narrenarmee!
(neuer Ansatz)
Bravo, Bravo, Bravo
Endlich unser Mann
Endlich angekommen
Endlich unser Mann!
Endlich -
Unser--?!
Mann--?!
Ich lüge - -.
aber - -
es ist
warm." (27)
Walsers Hörspieladaption der Schmidtschen Erzählung "Gadir", "Die letzte Ausflucht", ist leider gelöscht. Dieser Verlust ist vor allem bedauerlich, weil die von Walser im Manuskript einleitend genau vorgeschriebenen "akustischen Ebenen in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit" bereits auf stereophones Spiel mit Positionen vorausweisen. Ähnliches gilt für die auftauchenden, wieder verstummenden, sich umkreisenden und bis ins fast Unverständliche überlagernden "unmenschlichen" Stimmen in Ohlmeyers "Odilo". Noch deutlicher wird diese erstaunliche Nähe zur Stereophonie in einem ebenfalls gelöschten, als Manuskript (38) aber erhaltenen Hörspiel Hubers, "Koch bis Kruse" (1953), das Simultansequenzen vorsieht, deren sprachliche Abläufe sich wechselseitig bedingen. Ein erhaltenes Exposé bietet genügend Anhaltpunkte für die Intentionen dieses Hörspiels. Sein auszugsweises Zitat soll ein letzter Beleg für die hörspielgeschichtliche Bedeutung der damaligen Stuttgarter Dramaturgie sein und zugleich eine Aufforderung, von den Erfahrungen des Neuen Hörspiels her diesen vergessenen Winkel der Hörspiellandschaft der fünfziger Jahre einmal genau zu durchleuchten.
"Der Rundfunik bringt fast täglich in den Vormittagsstunden Such- oder Gefallenenmeldungen in alphabetischer Reihenfolge, eine sachlich-nüchterne Aufzählung von Namen und Daten, hinter denen oft erschütternde Schicksale stehen. Die stumpfsinnige Gewohnheit zahlloser Menschen, den Lautsprecher ununterbrochen in Gang zu halten, verdammt auch diese Chiffren des Leids dazu, sinnlose Geräuschkulisse der banalsten Beschäftigungen zu sein. Das Studio-Hörspiel "Von Koch bis Kruse" geht nun aus von dem Glauben, das Nennen gleich Beschwören ist und Worte wirkende Kräfte sind, die den Menschen und seine Handlungen durch sein Unterbewußtsein beeinflussen können, selbst wenn sie das Bewußtsein nicht erreichen (...). Es werden fünf Handlungsverläufe des Alltags gegeben, die sich zur gleichen Vormittagsstunde vor der gleichen Geräuschkulisse abspielen, der Durchsage einer Namensgruppe von Koch bis Kruse nämlich. Diese Handlungsverläufe werden (...) einem "akustischen Beschuß" ausgesetzt, der ihre Bahn beeinflußt, ablenkt, zersetzt, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt (...).
Dieses Hörspiel ist ein Experiment, ein Experiment insofern, als die Veränderung oder Zersetzung der Handlungsverläufe ausschließlich in der Sprache, mit dem Mittel der Sprache dargestellt werden sollte, und ganz in die Sprache verlegt wurde. Und es ist ferner ein Experiment, weil die Realität verlassen wurde, verlassen werden mußte. In der Realität hätte nur das Ergebnis, nicht aber der Vorgang selbst gegeben werden können, der sich ja im Unterbewußtsein abspielt, da die fünf Personen sich der Beeinflussung gar nicht bewußt sind, der sie durch das Geräusch "Koch bis Kruse" ausgesetzt sind. Dies also war hier die Aufgabe: Einen Vorgang als solchen darzustellen, und zwar einen irrealen Vorgang, und zwar darzustellen mit dem Mittel der Sprache.
Neben dieser formalen Seite hat das Hörspiel zweifellos auch ein sogenanntes "Anliegen". (...) Es ist der Versuch, ein gedankenlos aufgesogenes Geräusch als gesättigt mit Schicksalen zu enthüllen. Es sollte aber noch mehr gesagt werden: daß auch Tote da-seiende Kräfte sind, Energien, die uns beeinflussen. Am deutlichsten wird diese Absicht vielleicht in der letzten Handlung des Stücks, in der versucht ist, zu demonstrieren, wie diese Toten durch ihr Dasein ein entstehendes Gedicht verändern von zeitfremder zu zeitgemäßer Form. Denn in einer Zeit, die jeden Vormittag die Chiffren tausender Vermißter oder Gefallener durchsagt, wird selbst und gerade das Dichten von diesen Chiffren beeinflußt - nicht so sehr im Stoff (Stacheldraht-Lyrik), als vielmehr in der Form.
Den Vorgang solcher Veränderung in verschiedenen Lebensbereichen sucht das Hörspiel darzustellen."
Daß Huber auch ein bemerkenswerter Bearbeiter war, habe ich schon angedeutet und mit einem Beispiel belegt. Wurde seine Bearbeitung im Falle der Hömbergschen "Kirschen für Rom" auch in der Inszenierung verfälscht, eine zweite interessante Bearbeitung, Ödön von Horvaths "Glaube, Liebe, Hoffnung" (39), hat sich unverfälscht erhalten und bis heute eine erstaunliche Frische bewahrt. 1956 gesendet, ist dieser als Moritat bearbeitete "kleine Totentanz" übrigens ein früher Beleg einer erst später breit einsetzenden Horvath-Renaissance.

Franz Peter Wirth, der Regisseur dieser "Moritat", muß - die Skizze der "Stuttgarter Genietruppe" abschließend - auch als Oberspielleiter des Pforzheimer Theaters erwähnt werden, weil bei den dortigen Aufführungen die Stuttgarter Dramaturgie häufiger Gast war. Hier holte sie sich, in der Auseinandersetzung mit dem modernen Theater, wichtige Anregungen. Die Teilnahme Arthur Adamovs und Eugène Ionescos an der Stuttgarter Hörspieltagung 1952 war eine sichtliche Folge dieser Kontakte, die sich mit den Hörspielen Adamovs, "Das Fest der Unabhängigkeit" (1952) und "Die Universalagentur" (1954) auch konkret im Stuttgarter Hörspielprogramm auswirkten. Was sich von diesen Pforzheimer Theaterbesuchen an Niederschlag in den Hörspielen und Regien der "Stuttgarter Genietruppe" abgesetzt hat, aber auch andere, nicht zeitübliche Einflüsse auf die "Truppe" harren noch der genauen Untersuchung. Mit dem Auftreten Adamovs und lonescos, mit der Sendung der Adamovschen Hörspiele im Stuttgarter Programm hat die Hörspielgeschichtsschreibung jedenfalls erste unübersehbare Belege für die in den sechziger Jahren dann bedeutende Zusammenarbeit der Stuttgarter Hörspieldramaturgie mit den Autoren des französischen Nouveau Roman.

Symposion "Literatur der fünfziger Jahre. Konkrete und experimentelle Poesie". 27.-29.4.1980 Katholische Akademie Schwerte. Druck in Jörg Drews (Hrsg.): Vom Kahlschlag zum Movens. München: Edition text + kritik 1980, 97-123

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