Reinhard Döhl | Zu Eduard Reinacher "Der Narr mit der Hacke"

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Wie sehr und mit welchen Konsequenzen sich die Einschätzung von Hörspielen (und ihren Autoren) ändern kann, läßt sich am Beispiel dieser Lektion verdeutlichen. Galten Heinz Schwitzke Hermann Kasacks "Stimmen im Kampf" noch als kleines "experimentelles Werk", "charakterisch für die ersten Versuche mit dem sogenannten Inneren Monolog in gesprochener Form", wertet er Eduard Reinachers "Der Narr mit der Hacke" als den eigentlichen Beginn der "Geschichte des modernen Hörspiels":

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Reinacher hat in diesem Werk zum ersten Mal verwirklicht, was später Günter Eich in seinen Stücken zu voller Reife entwickelt hat: ein lyrisches Sprachwerk; bei dem alle Sichtbarkeit irrelevant ist, das vor uns heruntermusiziert wird wie ein Musikwerk aus Sprache, und das direkt, ohne kompakte Verwirklichung durch leibhaftige Darsteller und Bühnenbilder, in die Seele des Lauschers aufgenommen werden kann. Eigentlich mit Reinacher und diesem Stück fängt die Geschichte des modernen Hörspiels an zur Erfüllung zu gelangen.

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Dieser Auffassung ist Helmut Heißenbüttel auf der Internationalen Hörspieltagung in Frankfurt 1968 entgegengetreten mit dem Nachweis, daß eine solche, seit Richard Kolbs "Horoskop des Hörspiels" von 1932 datierende Wertschätzung eigentlich auf einer literarischen Fehleinschätzung beruhe:

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Die Kraft des gesprochenen Werks sollte noch einmal den Zugang zum Bereich der Verinnerlichung, der imaginativen Versenkung ins Zauberreich des Poetischen öffnen. Von daher gesehen, so kann man sagen, bildete sich im Hörspiel so etwas wie eine Nachhut der allgemeinen Entwicklung heraus, als Beispiel dafür seien Autoren wie Friedrich Bischoff, Wilhelm Schmidtbronn, Hermann Kasack, Ludwig Tügel, Otto Rombach, Josef Martin Bauer genannt; auch Eduard Reinacher gehört hierher. Dagegen wäre nichts zu sagen, solange man das Hörspiel innerhalb der unterhaltenden und vermittelnden Funktion des Rundfunks sieht: als Gebrauchsliteratur. Man muß jedoch kritisch unterscheiden, wenn man ernstlich literarische Maßstäbe anlegen will.

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Heißenbüttel bezieht sich dann an anderer Stelle direkt auf unser heutiges Beispiel und argumentiert im Detail:

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Wenn Kolb und Schwitzke das als frühes Musterbeispiel bezeichnete Hörspiel "Der Narr mit der Hacke" von Eduard Reinacher analysieren und hier den Zusammenklang der Sprache mit dem Geräusch der Hacke hervorheben, so bezeichnen sie nicht etwas, was für die poetische Imaginationsfähigkeit der Sprache charakteristisch wäre, sie weisen auf symbolische Versatzstücke, wie sie der Theaterliteratur in dieser Art etwa von Maeterlinck verwendet wurden. Das aber würde bedeuten, daß das Hörspiel Reinachers der allgemeineren Entwicklung um 30 bis 40 Jahre hinterherhinkte.

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Daß "Der Narr mit der Hacke" Gegenstand der heutigen Lektion ist, ist mit dieser widersprüchlichen Einschätzung und ihren Konsequenzen bereits (zum ersten) begründet, vor allem auch, weil dieses Hörspiel - soweit sich heute übersehen läßt - seit seiner Erstaufführung im Jahre 1930 so allgemein als "formal einleuchtendes Beispiel für die neue Kunstgattung" (Schwitzke) empfunden und gewertet wurde, daß Kolb 1932 ganz im Sinne einer vorherrschenden theoretischen und kritischen Wertschätzung dem Hörspiel allgemein fast ausschließlich mit Beispielen aus Reinachers "Der Narr mit der Hacke" das Horoskop stellen konnte.

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Man war sich damals schon einig, daß dieser Dichter der Idee des Hörspiels nähergekommen war als irgendein anderer bis dahin und wir können dem heute nur beipflichten,

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schließt sich Schwitzke noch 1962 dieser Auffassung an und macht sie zu seiner eigenen, bis Heißenbüttel 1968 einer solchen Einigkeit entgegenhielt:

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sie habe im Versuch, der Idee des Hörspiels näher zu kommen, eine Ideologisierung des Hörspiels betrieben.

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Es ist auffallend, daß sich diese Einigkeit in der Einschätzung Reinachers eigentlich nur innerhalb der Hörspieltheorie und -kritik, und dort auch nur in Bezug auf sein erstes Hörspiel beobachten läßt. Denn obwohl ihm der - wie Schwitzke ihn apostrophiert - "hellsichtige Kenner" Franz Lennartz in seinem Lexikon der "Deutschen Dichter und Schriftsteller unserer Zeit" über drei Seiten einräumt, verzeichnen ihn die meisten einschlägigen literaturgeschichtlichen Werke und Lexika nicht. Wobei der Korrektheit wegen hinzuzufügen wäre, daß sich dieser Artikel Lennartz' (erst) in der achten Auflage von 1959 findet, während die von mir eingesehene erste, die dritte und die vierte Auflage von 1938, 1940 und 1941 den von den Nazis gefeuerten, 1929 mit dem Kleistpreis und noch 1938 mit dem Hebelpreis ausgezeichneten Dramaturgen des Westdeutschen Rundfunks nicht verzeichnen, obwohl er- wie der Lennartz von 1959 weiß - "in der Stille eine der stärksten lyrischen Potenzen der deutschen Dichtung der Gegenwart" ist. Dennoch war Reinacher, der laut Lennartz "als sein eigentliches Werk das Gedichtwerk betrachtete, gerade als Lyriker umstrittener als als Hörspielautor.

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Gefühl und Wort. Aber zu weit weg von dem, was ihre Zeitgenossen bewegt. Das sind vielleicht ewige, sicher aber längst vorübergerauschte Klänge romantischer Zeiten,

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zitiert ein Verlagsprospekt das Mißtrauen eines namentlich nicht genannten Chirurgen anläßlich eines Gedichtbandes mit dem bezeichnenden Titel "Silberspäne". Und es könnte durchaus dieser Chirurg sein, dem Reinacher in einem ebenso bezeichnend getitelten Gedichtband "Zyklen und Jamben" in sechsfüßigen Jamben antwortet:

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Ja, wenn ich Lenin-Trotzkis Taten dichtete,
Den Streit der Klassen und den proletarischen Sieg,
Dann möchte mir das Dichten noch verziehen sein.
Das etwa manchmal nützlich wird im Tageskampf.
Nun aber, da ich Silberspäne ringele,
Reden Sie streng: "Dies alles ist ja abgelebt.
Einst schrieben Sie auch manches Blatt von weitrer Sicht!'
Freunde, seid froh, wenn einer mitten unter euch
Im Angesicht des Höllensturzes dieser Welt
Mit frecher Frommheit Silberspäne ringeln mag!
Und glaubt: wie auch die neue Welt aus unserm Tod
Und Jammer aufstehn wird, (zwar langsam, fürchte ich!)
So wird dem Volk nichts Besseres gerüstet sein,
Als daß dem, der dann Sicheln oder Bündel schwingt,
Ein Klingeln von der Menschheit altem Silberspan
Im Herzen läutet, daß er auch dies Haus
Der Welt nicht gar zum Zuchthaus, zum Ameisenhaufen macht
Und nicht der Seele letztes Würzelchen verbrennt.
Es ist kein mussolinisch, kein leninisch Tun im Land
Des Menschen höher oder würdiger, als daß
Ein junges Menschenweib sein winselnd Kind aus Liebe küßt,
Als daß ein Käfer auf dem Blatt, wenn Ihn die Sonne rührt,
Vertraut die Fühler regt.

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Es bedarf kaum mehr als dieses Zitats und bestimmt keiner genaueren Analyse dieser - verglichen etwa mit dem Versuch in "Jamben" des großen Konservativen Rudolf Bochardt - nicht einmal gekonnten Verse, um auch für den Lyriker Reinacher die von Heißenbüttel diagnostizierte Verspätung von 30 bis 40 Jahren festhalten zu können.

Anders als Kasack, den bei aufs Banale reduzierter Fabel in seinen "Stimmen im Kampf" vor allem der Kunstgriff, die Erprobung der Möglichkeiten des Inneren Monologs für das Hörspiel interessierte, geht es dem Lyriker Reinacher in seinem ersten Hörspiel um die dichterische Aussage seiner in den fernen Osten und damit an dichterisch allgemeingültigen Ort verlegte Parabel vom Menschen, der durch eine gute Tat seine böse Tat sühnt und so für den Rächer, der ihn nach 30 Jahren endlich findet, ein Schluß statt Opfer Vorbild ist. Entsprechend ist auch der sprachliche Aufwand, mit dem das "lyrische Kunstwerk" - wie Schwitzke es formuliert - "vor uns heruntermusiziert wird wie ein Musikwerk aus Sprache".

Es ist rückblickend erstaunlich, und vielleicht nur aus den Wirren der Zeit erklärbar, daß Reinacher 1932, also in dem Jahre, in dem Kasack "1 Stimme von Millionen" und "Der Ruf" schrieb, auf die Frage, warum er keine Theaterstücke, sondern Hörspiele schreibe, ohne auf Widerspruch zu stoßen, antworten konnte:

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Das Hörspiel (könne) wagen, was auf der Bühne undenkbar geworden Ist. Es kann sich auf Landschaften der Seele einstellen, die aus der psychologischen Geographie der Bretter gestrichen worden sind. Das Hörspiel darf glauben, lieben, hoffen, es darf scherzen, singen, weinen, es darf aus vollem Herzen lachen, es darf tanzen und schweben, mit einem Wort: es darf s e i n , wo das Bühnenstück darauf angewiesen ist, im derbsten Sinne zu wirken. Und es darf trotz solcher Sünden gegen die Bürger von rechts-rechts bis links-links dankbarer Hörer gewiß sein"

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Vor allem die Annahme, das Hörspiel dürfe sich, was auf der Bühne undenkbar geworden sei, auf die Landschaften der Seele einstellen - Lennartz zitiert ergänzend Reinachers Auffassung der Kunst als eines Mittels, "die Seele aus dem Engen und Beschränkten herauszuheben" - bestätigt ja in spezifischer Weise Heißenbüttels These von der 30-40jährigen Verspätung und führt zu den eingangs gegenübergestellten Zitaten zurück.

Wenn nun Reinachers erstes Hörspiel seit dem Moment seiner Erstsendung 1930 bis weit in die sechziger Jahre als Musterbeispiel für das "eigentliche", das "dichterische Hörspiel" galt, mußten sich die Hörspielautoren der Folgezeit an ihm als einem Modell orientieren, mußte die Hörspieltheorie von diesem Modell ausgehen. Damit setzt in einer vierten Phase der Hörspielgeschichte eine theoretische und praktische Verengung auf ein spezifisch "dichterisches Hörspiel" ein, die in einer Fehleinschätzung von "dichterisch" und "Hörspiel" fast notwendigerweise zu jener Ideologisierung führen mußte, die meines Wissens Heißenbüttel als erster herausstellte:

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Die reproduktionstechnischen und dramaturgischen Voraussetzungen des Hörspiels unmittelbar auf romantisch-poetischen Sprachgebrauch zu beziehen, heißt es ideologisieren: nach der Idee Hörspiel zu suchen, wo nur die Offenheit des Unerprobten und Auszuprobierenden sinnvoll sein kann.

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Historisch bot damit der Rundfunk (und das eigentlich bis heute) nicht nur einer zeitlich überholten Literatur so etwas wie ein letztes Refugium, eine Art Existenzberechtigung, bzw. Legitimation, sondern historisch erfolgte der Durchbruch zu einem so verstandenen dichterischen Hörspiel auch zu einer Zeit äußerster Unsicherheit und Unruhe.

Wiederum in Jamben antwortet 1931 Reinacher einem weiteren Kritiker seiner Lyrik:

Zitat

Sie schreiben, und verachten mir mein Dichterwerk,
"Wenn Sturm das Schiff zu trümmern droht, dann ist nicht Zeit
Zum Flötenspiel!" Ich aber frage wann denn sonst!
Wo Tod ein Häuflein Menschen wogend rings umstürmt,
Und einer weiß zu singen, ist es Öl der Flut
Wenn der von Herzen singt. (...)

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Es bedarf keiner Frage, daß diese traditionell in Jamben einherstelzende Antwort und ja auch Entscheidung Reinachers keinen Vergleich aushält mit einer Entscheidung zu einer neu gewollten Kunst, wie sie von Kurt Schwitters nach dem ersten Weltkrieg, wie sie von Hans Arp schon während des Ersten Weltkrieges getroffen wurde:

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Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte. Wir spürten, daß Banditen aufstehen würden, denen in ihrer Machtbesessenheit selbst die Kunst dazu diene, Menschen zu verdummen.

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Ich will den Fall Reinacher nicht weiter problematisieren. Doch glaube ich dennoch, mit Recht hier schon fragen zu dürfen, ob unter den genannten Voraussetzungen das - wie ich meine bezeichnenderweise - als Laienspiel tradierte erste Hörspiel Reinachers in seiner Bedeutung für die Geschichte des Hörspiels nicht völlig falsch eingeschätzt und in seinen literarischen Qualitäten total überschätzt wurde? Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind unübersehbar. Und auch deshalb wird weiter zu fragen sein, ob die Geschichte des Hörspiels hier nicht wird umgeschrieben werden müssen?

So fragwürdig aber auch immer der Stellenwert dieses Hörspiels sein mag, die Regieleistung Ernst Hardts ist davon wenig betroffen. Mit Recht betont Klaus Schöning kurz nach dem glücklichen Wiederauffinden des alten Plattensatzes:

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Der nachhaltige Erfolg dieses Hörspiels resultiert nicht zuletzt aus der differenzierten Inszenierung durch Ernst Hardt. (...) Hardt vermeidet in seiner Realisierung jeglichen Naturalismus, sowohl in der Stimmenführung als auch im Einsetzen der Geräusche, und erreicht somit ein Höchstmaß an Musikalität und künstlerischer Geschlossenheit. Das permanente Schlagen der Hacke z.B., daß das ganze Hörspiel leitmotivisch durchzieht, und das gleichzeitig als geschickte Zeitbrücke eingesetzt ist, besteht aus einem in Ton und Rhythmus unveränderten Geräusch. Das rhythmisierte Lachen der Bauern und der Chor der Stimmen zeigt die Tendenz zu einer Distanzierung und Künstlichkeit, die signifikant für den Inszenierungsstil Ernst Hardts war.

WDR III, 8.7.1971