[Am 10.9.1994 gaben auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense" Bohumilá Grögerova / Josef Hiršal eine kurze historische Skizze der tschechischen konkreten bzw. experimentellen Poesie und ihrer Beziehungen zur Stuttgarter Gruppe/Schule, die sie 1997 für den Internet-Reader "als Stuttgart Schule machte" noch einmal aktualisierten. Aus ihr sind im Folgenden sind die Erwähnungen Ernst Jandls zusammengestellt.]
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Ende März [1964] kam
aus Wien eine gemeinsame Karte von Ernst Jandl und Döhl. Auch sie
wollten mit uns Kontakt aufnehmen, schriftlich oder persönlich. Döhl
berief sich auf Bense. Die beiden Namen waren uns nicht unbekannt. Jandl
kannten wir aus der von Döhl herausgegebenen Anthologie "Zwischen
Räume - 8 mal Gedichte", Limes Verlag 1963, und Döhl aus dem
"Augenblick" und seinen "fingerübungen", Limes Verlag 1962, die uns
Haroldo de Campos mitgebracht hatte.
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Unsere Kulturhorizonte erweiterten
sich also endlich und mit ihnen die Publikationsmöglichkeiten. Mit
dem Direktor des Odeon-Verlags verabredeten wir die Herausgabe einer Anthologie
internationaler Experimentalpoesie und die tschechische Übersetzung
der "Theorie der Texte" Benses. Im Verlag Ceskolovenský spisovatel
deutete sich die Möglichkeit an, einen Sammelband theoretischer Studien,
Artikel und Manifeste der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
herauszugeben, den wir entworfen hatten. Das Gutachten sollte Jirí
Levý schreiben, vielleicht auch deshalb, weil er kürzlich an
der Technischen Hochschule in Stuttgart war, um Vorträge zu halten
und Erfahrungen zu sammeln (3). Im Verlag Mladá fronta waren inzwischen
die Texte Heißenbüttels bereits im Druck. Ende März veranstalteten
wir einen Vortrag über die auditive Poesie von den alten onomatopoetischen
Schöpfungen über Hausmann, Schwitters bis zu der heutigen phonischen
Poesie, die mit Hilfe der modernen technischen Mittel in den Rundfunkstudios
entsteht. Als Beispiele konnte das Publikum Lautgedichte Raoul Hausmanns,
die "Ursonate" Kurt Schwitters', das Souffle-Manifest und Spatial Garniers,
Ilse Garniers Sprechaktionen, Nováks "Samohlásky" [Selbstlaute]
und Artikulationen Mons hören. Falls es uns gelingen sollte, Aufnahmen
von Chopin, Kriwet und Jandl zu bekommen, war ein weiterer Abend geplant.
Vor allem suchten wir jedoch die auditiven Gedichte der russischen Futuristen
Chlebnikow, Krutschenych und Zdanewitsch, die jedoch kaum aufzutreiben
waren. Die selben Vorträge mit Hörproben organisierte auch Novák
an der Brünner Universität.
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Nach einem weiteren Besuch
Chopins im März 1966 beschlossen wir, in der Prager poetischen Weinstube
Viola einen Abend mit experimenteller Posie zu veranstalten und benannten
ihn nach einem akustischen Text Jandls "Bestiarium". Wir führten da
die "Crirythmes" von Dufrêne, "Lautgedichte" von Mon, "L'énergie
du sommeil" von Chopin, Heidsiecks "poème-particions", Garniers
"Sprechaktionen", Döhls "Märchen" und Nováks "Samohlásky"
auf.
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Die Arbeit wuchs uns über
den Kopf, machte aber immer weniger Spaß, da wir uns kaum noch auf
sie konzentrieren konnten. Die Spannung der Tage und Wochen spürte
man immer stärker, in allen Richtungen. In dieser Atmosphäre
lud uns Döhl mit einem formalen Schreiben zu den Tagen für "Neuen
Literatur in Hof" ein und präzisierte das Datum auf Oktober. Vorher
erwartete uns aber noch das Forum in Alpbach, wohin wir gemeinsam am 16.
August fuhren. Und dort überraschte uns der Einmarsch der sowjetischen
Truppen. Aus Alpbach übersiedelten wir nach Wien, wohin unsere Familien
nachkamen. Eine unschätzbare Hilfe gewährten uns die "Österreichische
Gesellschaft für Literatur" und deren Direktor Wolfgang Kraus. In
diesen schweren Tagen, wo wir uns entscheiden mußten, ob wir nach
Hause zurückkehren oder emigrieren sollten, wußten wir den guten
Willen und die finanzielle Hilfe unserer Freunde Döhl, der nach Wien
kam, um uns nach Stuttgart zu holen, Schmidt, der uns eine Anstellung anbot,
Jandl und Friederike Mayröcker, die uns in Wien auf alle erdenklichen
Arten halfen, außergewöhnlich zu schätzen. Bohumila Grögerová
kehrte schließlich als erste nach Prag zurück, während
Hiršal noch die Frankfurter Buchmesse, die Documenta in Kassel besuchte
und an den Tagen für "Neue Literatur in Hof" teilnahm.
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Kaum waren wir wieder in
Prag, wurde die westliche Grenze für die tschechoslowakischen Bürger
fast hermetisch gesperrt. Das bedeutete auf lange Jahre das Ende unseres
ganzen Reisens. Im November 1969 kam
Döhl ein weiteres mal nach Prag, um in der Viola bei der szenischen
Realisation von "Zed" [Die Mauer] anwesend zu sein und den Vertrag für
eine Anthologie der Nonsens-Poesie mit dem Verlag Ceskolovenský
spisovatel zu unterschreiben. Im Dezember weilten noch auf Einladung des
Verbands der tschechoslowakischen Schriftsteller Jandl und Friederike Mayröcker
in Prag. Wir dagegen mußten unsere Einladungen ins Ausland - und
es kamen damals sehr viele - jetzt leider immer ablehnen.
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Erst nach der Revolution
konnten endlich auch unsere Übersetzungen der Gedichte Jandls, eine
große Artmann-Auswahl und unsere gemeinsamen Prosa-Dichtungen "Trojcestí",
bestehend aus "Preludium" [Präludium] - "Mlýn" [Mühle]
- "Kolotoc" [Ringelspiel, Karussel], Buch werden. Die "Mühle" wurde
separat auch in deutscher Übersetzung 1991 im Residenzverlag ediert.
[...]
Nachtrag des Herausgebers:
Am 14.4.1994 sprechen auf
dem vom Theaterinstitut Prag, dem Österreichischen Kulturinstitut
Prag und der Zeitschrift Literární novyni organisierten Kolloquium
: "Wort / Körper / Stimme. Lyrik und Dramatik von Ernst Jandl im Kontext
der tschechischen experimentellen Literatur" Bohumila Grögerová
und Josef Hiršal über ihre "Begegnungen mit Ernst Jandl", wird Jandls
"Aus der Fremde" (Z cizoty) in der Übersetzung von Bohumila Grögerová
im Divadelni ustav/Theaterinstitut Prag erstmals in einer szenischen Lesung
realisiert.
Die weiteren Essays
Ernst Jandl: ich
begann mit experimenten...
Ernst
Jandl: Wie kommt man zu einem Verlag
Helmut Heißenbüttel:
Nachwort
Max Bense: Die
pantomimische Funktion der Sprache
Reinhard Döhl: Ernst
Jandl und Stuttgart
Claus Henneberg: Ernst
Jandl in Hof