Das Faltblatt der Volkshochschule Stuttgart hat diese dritte Ausstellung im Rahmen des "Japan Festivals" überschrieben: "SHO - Japanische Kalligraphie". Und sie ist damit einer Tradition gefolgt, die das Wort Sho mit Kalligraphie übersetzt, was in unserem abendländischen Verständnis mit Schönschrift, Schönschreiben zu umschreiben wäre und als etwas äußerlich Geschöntes mißverstanden werden kann. Genau das aber ist Sho nicht.
Ursprünglich waren die chinesischen SchriftZeichen ("Kanji"), die auch in Japan verwendet werden, Bild-Zeichen, verloren aber im Laufe der Zeit ihren Bild-Charakter immer mehr. Diese Schrift-Zeichen dienen (wie unsere mit Hilfe des Alphabets gebildeten Wörter) in ihrer Addition in erster Linie der Information, wobei es mehr auf die "Bedeutung" als auf die "gestaltete Form" ankommt. Gestaltet man das Schrift-Zeichen jedoch aus seinem individuellen Lebensgefühl heraus, nähert man sich der Schrift-Kunst, der Kunst des Schreibens, dem "Sho do". Dabei gibt es, wie Ijima Tsutomu anläßlich einer Ausstellung schrieb, unendlich viele Möglichkeiten, die eigene Freiheit zu behaupten und dem Zeichen die Gestalt zu geben, wie sie dem eigenen absoluten "Leben" entspreche. Wobei es "nicht mehr so wichtig" sei, "daß das Zeichen gelesen und seine Bedeutung verstanden" werde, "sondern daß man es als Kunstwerk" betrachte und seinen "ästhetischen Inhalt" erfasse. Und weil es nicht mehr um Lesen, sondern um "Betrachten", nicht um Information, sondern um "ästhetischen Inhalt" geht, ist es mit den Worten Ijuma Tsutomus auch erlaubt, "daß das Schriftzeichen infolge unbeschränkter Ausdrucksfreiheit nicht mehr verständlich, das heißt unlesbar" ist. Diese Ausdrucksfreiheit an der Grenze zur Unlesbarkeit hat in Amerika und Europa dazu geführt, die Kunst der Pinselschrift mit abstrakter Malerei zu vergleichen und zu verwechseln. Aber wo diese entweder völlig gegenstandslos ist oder vom Gegenstand abstrahiert, geht Sho immer noch vom Schrift-Zeichen, seiner Struktur und Bedeutung aus, um sie auf eine andere Ebene zu transponieren.
Ein drittes Mißverständnis ist jeder Versuch, an die mit dem Pinsel "geschriebenen" Bilder unsere ästhetischen Maßstäbe anzulegen, was stets zur Folge hat, daß man an äußerlichkeiten hängen bleibt und das Wesen von Sho weit verfehlt. Denn nicht auf die äußere Erscheinungsform eines Schrift-Zeichens, auf sein Entziffern allein kommt es an, vielmehr geht es beim Betrachten darum, das Schrift-Bild "in seiner geistigen Tiefe zu empfinden und zu erfassen".
Wie sich dies aus der Sicht eines Sho-Meisters darstellt, möchte ich mit den Worten Morita Shiryus belegen: "Ich schreibe", sagt Morita Shiryu, "das Schriftzeichen Tod, ausgesprochen shi. Diese irdische Welt ist voll von Gegensätzen, Widersprüchen und Beschränkungen: Leben und Tod, Nichts und All. Für uns gibt es keine Freiheit, solange wir von diesen Gegensätzen und Beschränkungen gefesselt sind. Es ist unmöglich, daß unser Leben vollkommen funktioniert. Dies wird in der Tatsache klar und sinnfällig, daß zwischen meinem Ich und dem Schriftzeichen shi, wie ich es jetzt schreibe, ein Gegensatz besteht. Wie ich die Beschränkung dieses Schriftzeichens überwinde, wie ich mein Ich frei und vollkommen entfalten kann, darauf konzentriert sich mein ganzes Streben."
Aber, schränkt Morita Shiryu sein "Streben" ein: dies sei nur "sein Wunsch". Denn er wisse, daß "es schwierig" sei, ein befriedigendes "Werk zu vollbringen. [...] Zehnmal, sogar hundertmal muß ich neu schreiben. Jedesmal, wenn ich mit meiner Arbeit nicht zufrieden bin, prüfe ich meinen inneren Zustand, ehe ich die unbefriedigenden Formen und Linien entdecke. In der Tat, die meisten Fehler an meinem Werk haben ihre Ursache weit eher im inneren Seelenzustand als in der technischen Unzulänglichkeit. Auf diese Weise versuche ich durch Sho-Schreiben mein Ich zu finden."
Morita Shiryus Hinweis auf mögliche "technische Unzulänglichkeit" bringt neben dem 'Was' auch das 'Wie', die Praxis des Schreibens ins Spiel. Sie hier verständlich zu skizzieren, würde den Rahmen einer Ausstellungseröffnung sprengen. Ich übergehe also diese Skizze mit dem Hinweis darauf, daß Kei Suzuki am kommenden Dienstag um 17 Uhr im Theodor-Bäuerle-Saal demonstrieren wird, wie Sho-Arbeiten entstehen. Dort kann sich der Interessierte durch Augenschein viel besser mit der Technik des Sho-Schreibens vertraut machen, als ich es im theoretischen Exkurs leisten könnte.
Nicht eingehen werde ich auch auf die Geschichte der ShoKunst, die bereits in archäologischer Zeit in China beginnt, von dort im Laufe der Zeit nach Japan gekommen ist und hier eine durchaus eigenständige Tradition entwickelt hat.
Einen Aspekt allerdings möchte ich herausgreifen. Betrachtet man nämlich die Sho-Kunst in ihrer Tradition, fällt auf, daß sie - im europäischen Sinne - wenig Entwicklung zeigt, daß manche Arbeit früherer Zeit unserem Auge moderner anmutet als manche Arbeit von heute. Das hängt einmal damit zusammen, daß die Sho-Kunst ein größeres Traditionsbewußtsein hat als unsere abendländische Kunst. Das begründet sich aber auch aus der Tatsache, daß sie keine Epochenstile in unserem Sinne herausgebildet hat. Sie ist stattdessen eine extrem individuelle Kunst oder Kunstausübung, in der jeder auf seine Weise und mit seinen Mitteln versucht, sein "Ich frei" und "vollkommen" zu "entfalten".
Zwei Punkte, auf die ich einleitend noch eingehen möchte, sind der (von Ausnahmen abgesehen) ausschließliche Schwarz/ Weiß-Charakter der Sho-Kunst und das, was man die "Linie" nennt. "Die Schriftkunst", hat es Zaitsu Nagatsugi pointiert, "besteht aus zwei entgegengesetzten Elementen, Weiß und Schwarz, die jenseits aller Farbwerte liegen. Das Schwarz als Element gewinnt durch die Form der schwarzen Linien seine Gestalt." Da nun alle Zeichen eine bestimmte Schreib-Reihenfolge haben, "nach der sich die schwarze Linie bewegt", ist die "Tuschlinie eine Linie in Bewegung. Da sie nach bestimmten Richtungen mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschrieben wird, kann man die fließende Bewegung im sosho [...] mit den Augen selbstverständlich nachvollziehen. Insofern unterscheidet sie sich von derjenigen in der Malerei. Sie ist eine ununterbrochene Linie, denn selbst, wenn die schwarzen Linien auf dem Papier nicht verbunden sind, fließt die Idee der Linie über den leeren Raum hinweg in der Bewegung des Pinsels weiter, so als ob die Linie auf einem räumlichen Papier weitergeschrieben worden wäre. D.h. die Bedeutung des Geschriebenen ist die kontinuierliche geistige Verbindung."
Nach diesen eher allgemein gehaltenen Hinweisen auf die Sho-Kunst habe ich abschließend noch ein paar Sätze zur heutigen Ausstellung anzuschließen. Die Verbindung eines japanischen, mehrfach ausgezeichten Sho-Meisters und eines europäischen Künstlers ist die Regel nicht. In diesem Fall erklärt sie sich aus einer langjährigen Freundschaft, wiederholter Zusammenarbeit und künstlerischem Dialog.
Die Ausstellung belegt dies mit verschiedenen Beispielen. Ich nenne als Beispiele Kei Suzukis "Taegataki sizumori [...]", eine Arbeit, die ein Haiku von mir umsetzt:
Auf eine andere Art dokumentiert sich der Dialog in den beiden Arbeiten "Hogetsu" [= im Mondschein gehen] und "Kokurin" [= Schwarzwald]. Sie entstanden 1990 an einem Abschiedsabend, an dem wir gemeinsam schrieben. Ich reagierte damals auf eine ältere Arbeit Kei Suzukis, "Hogetsu", worauf Kei den Schwarzwald [= "Kokurin"] hinzufügte, was zusammengelesen den Wunsch eines gemeinsamen Mondscheinspaziergangs im Schwarzwald ergibt, den wir uns allerdings bisher noch nicht erfüllen konnten.
Eine dritte Möglichkeit des Dialogs wäre das Aufeinanderzuarbeiten, ablesbar etwa bei Kei Suzuki in einer deutlich zunehmenden Tendenz, einer Radikalisierung in Richtung des Abstrakten, z.B. auf dem Blatt "Kinchyo matawa nihon no sen" [= Spannung oder zwei Linien], was mich provozierte, das Kanji für Fluß [= "Kawa" zu radikalisieren.
Natürlich gibt es noch weitere gemeinsame Arbeiten, eine davon inzwischen im Dortmunder Museum am Ostwall, Collagen, die aber nicht Gegenstand dieser Ausstellung sind.
Von den Arbeiten Kei Suzukis, um deren Präsentation es in dieser Ausstellung vor allem geht, im einzelnen zu reden, ist schwierig. Aus dem, was ich allgemein zur Sho-Kunst anzumerken versuchte, ist deutlich geworden, daß über die hier einschlägigen Arbeiten nicht wie über ein Bild, eine Grafik abendländischer Kunst verhandelt werden kann. Kei Suzukis Arbeiten entziehen sich analytischer Betrachtung. Wer sie, falls es ihm gelingt, gelesen hat, hat erst die Oberfläche. Die Schönheit z.B. von "Sooi" [= Kleid aus Gräsern gewoben / Ehrliche Armut) oder "Shinke" [= Die reine Blume des Herzens] erschließt sich erst, wenn der Betrachter sich, das Thema nachvollziehend, auf "Schrift" und "Linie", auf den beschriebenen und den freien Raum, auf die Anwesenheit und die Abwesenheit von Schrift einläßt, wenn er das Verhältnis der Zeichen zu- und gegeneinander zu empfinden versucht.
Die Bildzuschriften, die deshalb auch in Übersetzung gegeben sind, können ihm dabei eine kleine Hilfe auf diesem Weg = "do" sein, wenn sie zum Beispiel als Thema benennen "Kakusan matawa kokoro no rizumo" [= Entfaltung oder mein Herzschlag] der "Sookoku" [= Im Streit mit ich selbst), aber auch "Yushin" [= An etwas das Leben genießen] oder "Hooitsu" [= Nur Eines festhalten].
Auf zwei Arbeiten, die etwas herauszufallen scheinen, möchte ich abschließend besonders hinweisen. Das ist erstens das durch seinen ideographischen Charakter auffällige Blatt "Yuroku wo iro" [= Ein spielendes Reh schießen] mit seiner deutlichen Anspielung auf die urzeitliche Knochenschrift in China (und damit auf die Tradition der Sho-Kunst). Zweitens ist dies die Arbeit "Gofu juu" (= Fünf Winde zehn Regen). Dieses Blatt ist nämlich mit einer anderen Tinte geschrieben, mit "blauer" Tinte. Und der 'wässrige' Eindruck, den es auf den Betrachter macht, lenkt seine Gedanken, sofern er sich von Schrift und Pinselführung leiten läßt, alsbald in die richtige Stimmung. Vorausgesetzt, daß er sich ernsthaft darauf einläßt. Sonst mögen ihm allenfalls der verregnete Mai und Juni dieses Jahres einfallen.
Ich möchte es mit diesen Hinweisen bewenden lassen. Kei Suzuki ist anwesend und wird sicherlich gerne das, was ich gesagt habe, ergänzen oder korrigieren. Im übrigen verweise ich noch einmal auf die Sho-Demonstration am kommenden Dienstag und bedanke mich für's Zuhören.
2. Die Entstehung eines SHO-Schreibkunstwerks.
Drei Mißverständnisse
Das westliche Verständnis von Sho-Kunst ist mit einigen Irrtümern besetzt. Das wird bereits deutlich, wenn wir hartnäckig Sho-Kunst mit Kalligraphie, mit "Schreibkunst" übersetzen. Diese "Schreibkunst" entwickelte sich im Barock, als nach Erfindung des Buchdrucks der Beruf des Abschreibers überflüssig wurde. Sie ist in ihrer Genese an den Namen Johann Neudörffer und das Entstehen der deutschen Schrift gebunden, was hier aber nicht weiter interessiert. Was Kalligraphie, was "Schreibkunst wollte und sollte, definierte 1659 Louis Barbedor:
Damit bleibt die Kunst des schönen Schreibens dem "delectare" und "prodesse", dem Nützen und Erfreuen noch dort verpflichtet, wo sich der Schreiber um höchste "Kunstfertigkeit" bemüht. Und sie wird maniriert, wo er sich verkünstelt.
Das ist in der Sho-Kunst durchaus anders. Sie zeigt nicht und will nicht unter Beweis stellen die 'Kunstfertigkeit' des Schreibers, sie ist vielmehr Ausdruck des "Lebensgefühls", aus dem heraus der Schreiber das oder die Schrift-Zeichen zu gestalten versucht.
Dabei gebe es, sagt Ijima Tsutomu, "unendlich viele Möglichkeiten, die eigene Freiheit zu behaupten und dem Zeichen die Gestalt zu geben", die "dem eigenen absoluten Leben" entspreche. Eine "unbeschränkte Ausdrucksfreiheit" könne durchaus dazu führen, daß das geschriebene Zeichen "nicht mehr verständlich, das heißt unlesbar" sei. Das könne aber in Kauf genommen werden, weil es beim Betrachten eines Sho-Kunstwerks nicht so sehr darum gehe, "das Zeichen zu lesen und seine Bedeutung" zu verstehen, "sondern daß man es als Kunstwerk" betrachte und seinen "ästhetischen Inhalt" erfasse. Mit anderen Worten, es geht beim Betrachten einer Sho-Arbeit weniger um semantische als vielmehr um ästhetische Information, nicht um verstehendes Lesen, sondern um nachvollziehendes Betrachten.
Diese "Ausdrucksfreiheit" der Sho-Kunst bis an die Grenze der Unlesbarkeit hat im Westen zu einem weiteren, zweiten Mißverständnis geführt, nämlich die Kunst der Pinselschrift mit abstrakter Malerei zu vergleichen und, wo sie sich skriptural gebärdete, sogar zu verwechseln. Aber wo die abstrakte Kunst gegenstandlos ist, den Schreibgestus allenfalls fingiert, geht der Sho-Meister immer noch vom Schrift-Zeichen, von seiner Struktur und Bedeutung aus, um sie auf eine andere Ebene zu transponieren.
Ein drittes Mißverständnis, dem die Sho-Kunst im Westen ausgesetzt ist, besteht in Versuchen, an die mit dem Pinsel geschriebenen Bilder unsere ästhetischen Maßstäbe anzulegen, was in der Regel dazu führt, daß man an Äußerlichkeiten hängen bleibt und das Wesen der Sho-Kunst gleich doppelt verfehlt.
Richtig betrachtet, ist nämlich bei jeder Sho-Arbeit auf die "Linie" zu achten. "Die Schriftkunst", zitiere ich im Folgenden Zaitsu Nagatsugi, "besteht aus zwei entgegengesetzten Elementen, Weiß und Schwarz, die jenseits aller Farbwerte liegen. Das Schwarz als Element gewinnt durch die Form der schwarzen Linien seine Gestalt." Da nun alle Zeichen eine bestimmte Schreib-Reihenfolge haben, "nach der sich die schwarze Linie bewegt", ist die "Tuschlinie eine Linie in Bewegung. Da sie nach bestimmten Richtungen mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschrieben wird, kann man die fließende Bewegung im sosho [...] mit den Augen selbstverständlich nachvollziehen. Insofern unterscheidet sie sich von derjenigen in der Malerei. Sie ist eine ununterbrochene Linie, denn selbst, wenn die schwarzen Linien auf dem Papier nicht verbunden sind, fließt die Idee der Linie über den leeren Raum hinweg in der Bewegung des Pinsels weiter, so als ob die Linie auf einem räumlichen Papier weitergeschrieben worden wäre. D.h. die Bedeutung des Geschriebenen ist die kontinuierliche geistige Verbindung."
Um das Wesen einer Sho-Arbeit zu erfassen, muß der Betrachter sich also erstens auf den Nachvollzug der "Linie" einlassen. Um die "geistige Tiefe" der Arbeit aber zu empfinden und zu erfassen, kommt noch ein Zweites hinzu, nämlich daß man der Arbeit die Intensität des Schreibakts abspürt. Ein solcher Schreibakt besteht nämlich nicht wie in der Kalligraphie in einer möglichst schönen Wiedergabe von Zeichen, sondern in einer geistigen Auseinandersetzung mit ihnen.
Das für mich einleuchtendste Beispiel habe ich Anfang der 60er Jahre bei dem Sho-Meister Morita Shiryu gelesen, der seine wiederholten Versuche, das Kanji shi[= Tod] zu schreiben, wie folgt begründete:
"Diese irdische Welt ist voll von Gegensätzen, Widersprüchen und Beschränkungen: Leben und Tod, Nichts und All. Für uns gibt es keine Freiheit, solange wir von diesen Gegensätzen und Beschränkungen gefesselt sind. Es ist unmöglich, daß unser Leben vollkommen funktioniert. Dies wird in der Tatsache klar und sinnfällig, daß zwischen meinem Ich und dem Schriftzeichen shi, wie ich es jetzt schreibe, ein Gegensatz besteht. Wie ich die Beschränkung dieses Schriftzeichens überwinde, wie ich mein Ich frei und vollkommen entfalten kann, darauf konzentriert sich mein ganzes Streben."
Morita Shiryu macht zugleich klar, daß er hier einen Wunsch formuliere, da es "schwierig" sei, ein befriedigendes "Werk zu vollbringen. [...] Zehnmal, sogar hundertmal muß ich neu schreiben. Jedesmal, wenn ich mit meiner Arbeit nicht zufrieden bin, prüfe ich meinen inneren Zustand, ehe ich die unbefriedigenden Formen und Linien entdecke. In der Tat, die meisten Fehler an meinem Werk haben ihre Ursache weit eher im inneren Seelenzustand als in der technischen Unzulänglichkeit. Auf diese Weise versuche ich durch Sho-Schreiben mein Ich zu finden."
Bumbo-shiho
Morita Shiryus Hinweis auf eine mögliche "technische Unzulänglichkeit bringt neben dem 'Was' auch das 'Wie', die Praxis und Technik des Schreibens, die technisch-materialen Voraussetzungen der Schrift-Kunst zur Sprache. Mit ihrer Skizzierung möchte ich zugleich zur anschließenden Schreib-Demonstration Kei Suzukis überleiten.
Die Technik des Schreibens mit dem Pinsel weicht auf vielfache Weise von unseren Schreibgewohnheiten ab. Das beginnt mit der Haltung des Pinsels, den man traditioneller Weise senkrecht hält, undzwar mit gewölbter Hand. Anfängern gibt man dabei gelegentlich sogar ein rohes Ei in die Hand. Später nimmt sich der Sho-Meister allerdings bei der Haltung des Pinsels durchaus größere Freiheiten heraus.
Zweitens schreibt man von oben nach unten und - in der Regel - von rechts nach links. In dieser Richtung sind auch die Sho-Arbeiten zunächst zu lesen, will man den Verlauf der "Linie" entdecken und verfolgen.
Drittens ist beim Lesen einer Sho-Arbeit darauf zu achten, daß dem Schreibenden wahlweise verschiedene Schriftarten und -typen zur Verfügung stehen. Bei dem Traditionsbewußtsein der Sho-Meister ist es kaum verwunderlich, daß auch alte Schrifttypen, die eigentliche historische Phasen der Schriftentwicklung markieren, heute noch wahlweise benutzt werden können, so daß in der Sho-kunst verschiedene Schriften, chinesische Kanji und japanische Hiragana, nebeneinander verwendet werden können. je nachdem, was und wie es der der Künstler ausdrücken möchte. Ferner sind im Werk Kei Suzukis vor allem zwei Schrifttypen zu beachten: die strenge Tensho und die freiere und fließende Sosho, neben denen es noch die Reisho, Kaisho und, wiederum fließend, die Gyosho gibt. Für die heutige Demonstration hat Kei Suzuki dies mit fünf Fahnen belegt, mit einem 4-Wörter-Text, der von oben nach unten gelesen lautet: Berg Pupurnebel Fluß Licht, oder etwas poetischer formuliert: Der Berg verbirgt sich im Purpurnebel, hell leuchtet der Fluß.
Die Schreibmaterialien, die man auch die "Kostbarkeiten eines Literaturzimmers (= Bumbo-shiho)" nennt, sind der Pinsel, Pinselhalter, die Tusche und der Tuschstein. Gelegentlich nennt man statt des Pinselhalters auch das Papier, eine Viererfolge, an die ich mich halten werde.
Wählt man keine bereits fertige, besteht die Tusche (= boku) aus einem meist länglichen harten Block, der aus Kiefernholzruß und Leim unter Zugabe von Duftstoffen gepreßt ist. Dabei wird zwischen zumeist verwendeter schwarzer und der selteneren, da nicht ganz leicht zu handhabenden "blauen" Tusche unterschieden. (Eine mit "blauer" Tusche geschriebene Arbeit hängt übrigens in der Ausstellung.)
Die Tusche wird vor dem Schreiben auf einem Tuschstein (= suzuri) unter Zugabe von Wasser in kreisenden Bewegungen angerieben, bis sie die vom Schreiber für den geplanten Schreibakt gewünschte Schwärze hat. Die Tuschsteine sind dabei oft Einzelstücke und nicht selten entsprechend wertvoll.
Im Falle des Papiers (= gasenshi) hat der Schreibende die Wahl zwischen dünnen oder dicken, weißen oder eher gelblichen, groben oder feinen Qualitäten, wobei die Papiere entweder aus der Rinde des Maulbeerbaums oder - in China - aus Seidelbast hergestellt sind, ein Papier, das Kei Suzuki für seine Arbeit bevorzugt. Die Wahl wird bestimmt durch das, was geschrieben werden soll. Das gilt auch für das Format. Will man z.B. ein Gedicht schreiben, wird man ein schmales Hochformat wählen, das man später auf eine Rolle aufziehen kann. Für die heutige Demonstration hat Kei Suzuki dies an zwei Tankas belegt, die aus einem Kettengedicht von Syun Suzuki und mir stammen und lauten: [japanischer Text]. Wer sich für die Übersetzung interessiert, ist zu unserer Lesung am Samstag herzlich eingeladen. Das werden wir die Texte auch in deutscher Sprache vorlesen.
Für andere Absichten sind verschieden große Formate im Handel. Sie können aber auch durch Zuschneiden individuell hergestellt bzw. durch Aneinanderfügen und -kleben vergrößert werden.
Die vierte "Kostbarkeit" schließlich ist der Pinsel (= fude). Auch hier gibt es natürlich die unterschiedlichsten Qualitäten: weiche oder harte, lange oder kurze, schmale oder dicke Pinsel. Und auch hier wird die Wahl immer davon abhängen, was der Schreibende auszudrücken versucht, welches Format er sich gewählt hat. Was für Überlegungen die Wahl des Pinsels bestimmen können, möchte ich mit einem bekannteren Beispiel belegen, einer chinesischen Mönchsarbeit (= bokuseki) aus dem 13. Jahrhundert. Für seinen in sosho geschriebenen Text
"yün ch'ü-lai" (japanisch: "un kyorai") = "Wolken gehen und kommen" benutzte Wu-an P'u-ning (japanisch: Gottan Funei), um den Duktus seiner Handschrift dem Inhalt des Textes adäquat zu machen, einen dicken, fast bürstenähnlichen Pinsel, der aber doch elastisch genug war, starke Druckunterschiede auf dem Papier in Gestalt wechselnder Strichdicke sichtbar zu machen, der andererseits aber auch einen "fei-pai"-Effekt an den Strichenden zuließ. (Zit. nach dem Ausstellungskatalog "Sho - Pinselschrift und Malerei in Japan vom 7.-19. Jahrhundert." Köln: Museum für Ostasiatische Kunst 1975).
Zu diesen "4 Kostbarkeiten des Studierzimmers" kommen schließlich noch hinzu die Unterlage, auf der geschrieben wird, meist ein rotes oder schwarzes oder blaues Filztuch. Man kann aber auch auf Decken oder Zeitungen schreiben. "Die Aula scheint leergeräumt", beschreibt 1991 Irmtraud Schaarschmidt-Richter eine größere gemeinsame Schreibübung in Kyoto: "Außer ein paar Bänken gibt es nichts zum Sitzen. Der Boden ist mit alten Decken und Lagen von Zeitungen fast völlig bedeckt. Dazwischen stehen Eimer und Schüsseln mit schwarzglänzender Flüssigkeit: Tusche. Pinsel liegen daneben, große armdicke und solche, die man kaum mit den Händen umfassen kann, wie Pferdeschwänze so mächtig."
Ergänzen muß ich dabei, daß die auf welchem Untergrund auch immer ausgebreiteten Papiere natürlich fixiert sein müssen, wobei es zum Fixieren verschiedene käufliche Gewichte gibt. Man kann aber auch - wie ich es gerne tue - Steine nehmen.
Ist endlich alles zum Schreiben vorbereitet, wobei die Vorbereitungen, z.B. das Anreiben der Tinte, bereits als Konzentrationsschritte aufgefaßt und genutzt werden können, folgt nach einer kürzeren oder längeren Konzentrationsphase, in der, mit den Worten Kei Suzukis, der Kopf leer und das Herz voll gemacht werden muß, die für westliche Augen ziemlich zügige Niederschrift, wobei - ich wiederhole - vor allem auf die "Linie" zu achten ist und die "Tiefe des Ausdrucks", das harmonische Ineinanderfließen von der strengen Form in den geistigen Inhalt.
Ist die Arbeit geschrieben, wird sie vom Künstler geprüft, und dies durchaus in dem Sinne, wie ich es mit Morita Shiryu beispielhaft zitiert habe. Erst dann und wenn das Ergebnis den Künstler befriedigt, wird signiert. D.h. im Falle der ShoKunst gestempelt. Zu diesem Zweck hat der Künstler in der Regel mehrere Stempel aus Speckstein sich geschnitten oder schneiden lassen, unter denen er je nach Arbeit auswählt. Dabei ist es durchaus nicht unbedeutend, wohin, an welche Stelle der Arbeit der Künstler seinen Stempel druckt: stets in rot.
3. Stuttgart - Tokyo und zurück. Ein japanisch-europäischer Literaturwechsel
Der heutige Abend ist japanischer Poesie gewidmet, natürlich nur in einem Ausschnitt, und dies unter einem besonderen Blickwinkel, nämlich dem literarischer Wechselbeziehungen. Solche gibt es, wenn auch in dieser Stadt kaum wahrgenommen, in einer größeren Intensität seit über 30 Jahren.
Macht man sich auf die hier notwendige Spurensuche, wird man schon Ende der 50er Jahre in der inzwischen legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm fündig, im Umfeld von Max Bill und Eugen Gomringer, der damals Sekretär Bills war. An dieser Hochschule unterrichtete auch Max Bense und studierte Shutaro Mukai, heute Professor an der Mushajino Art University, der Kunstakademie Tokyos, und Chef eines Designbüros. Mukai ist Bense und seinen ästhetischen Theorien bis heute treu geblieben, gehört zum wissenschaftlichen Beirat der von Elisabeth Walther edierten internationalen Zeitschrift für Semiotik und ästhetik, "Semiosis". Vor allem Mukai hat, neben übersetzungen Hiroo Kamimuras, Benses exakte ästhetik und Zeichentheorie in Japan bekannt gemacht, nicht zuletzt in einem 1982 in Tokyo erschienenen Sammelband "Kunst als Zeichen".
Von Mukai bekamen wir auch erste Informationen über aktuelle ästhetische und künstlerische Bestrebungen in Japans, über die japanische Spielformen konkreter Poesie ebenso wie über die radikalen Aktivitäten der "Gutai"-Gruppe, in deren Nähe sich auch der "Butoh"-Tanz entwickelte. Darüber hinaus interessierte uns damals besonders ein von Ezra Pound herausgebener Essay Ernesto Fenelosas, "Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium".
Neben der Hochschule für Gestaltung waren es vor allem zwei Ausstellungen, die unser Interesse an Japan vertieften: 1962 in Darmstadt die Ausstellung "Sinn und Zeichen", die in Deutschland erstmals mit (radikal) moderner Sho-Kunst vertraut machte, ferner die 1963 von Amsterdam nach Baden-Baden gewanderte Ausstellung "Schrift und Bild" mit ihren uns wichtigen ästhetischen Grenzüberschreitungen.
Spätestens 1963 sind auch andere internationale Kontakte der Stuttgarter Gruppe weitgehend geknüpft, nach Prag unter anderem zu Bohumila Grögerová und Josef Hirsal, zu Ilse und Pierre Garnier in Paris, dessen "Plan pilote" einer spatialistischen Poesie von tschechischen, französischen, englischen und japanischen Autoren unterschrieben war, die auch an dem von Stuttgart ausgehenden, nach Stuttgart zurückwirkenden internationalen Dialog beteiligt waren.
Der damals in Stuttgart zuerst Chemie, dann Germanistik studierende Yüksel Pazarkaya, mit dem zusammen ich aus dem Türkischen übersetzte, komplettierte schließlich den west-östlichen Divan. Damit habe ich bereits die meisten Autoren genannt, von denen im Laufe des Abends Texte zu hören sein werden. Noch nicht hinreichend skizziert sind allerdings die Wechselbeziehungen mit Japan. Ich fahre also mit ihrer Chronologie fort.
Wann sich die ersten direkten Kontakte zwischen Stuttgart und Japan angesponnen haben, konnte ich nicht mehr genau herausfinden. Mit Sicherheit sind 1964 auf der Ausstellung "poema concreta / konkrete poesie, die vom Sogetsu-Kunstzentrum unter Mitwirkung der brasilianischen Botschaft und des deutschen Kulturinstituts veranstaltet wurde, auch Pierre Garnier und aus Stuttgart Bense, Heißenbüttel und ich vertreten, datieren seit spätestens diesem Zeitpunkt immer intensivere persönliche Kontakte, zunächst zur ASA-Gruppe um Seiichii Niikuni, nach seinem Tod zur SHI-SHI-Gruppe.
1966/1967 verbringt Hiroo Kamimura ein Jahr an der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart. Einige seiner hier entstandenen "Vokaltexte" erschienen 1967 in der inzwischen legendären Publikationsfolge "futura" Hansjörg Mayers. Ich habe diese "Vokaltexte" zum Teil "fortgesetzt", wie wir dieses poetische Verfahren seiner Zeit nannten, und später als "laut / gedichte nach dem japanischen des hiroo kamimura" publiziert. Etwa gleichzeitig edierten Pierre Garnier und Seiichii Niikunii in Paris ihre "Poèmes Franco-Japonais", eine erste konkrete japanisch-europäische Gemeinschaftsarbeit, nachdem beide bereits 1965 gemeinsam das "Dritte Manifest des Spatialismus / Für eine übernationale Poesie" verfaßt und veröffentlicht hatten.
1970 veranstalte die ASA-Gruppe eine umfassende "Exhibition of contemporary concrete poetry", auf der Arbeiten der meisten genannten Künstler gezeigt wurden. Im gleichen Jahr werden in die von Stuttgart (mit)aufgebauten Ausstellungen "text buchstabe bild" in Zürich und "klankteksten / ? konkrete poezie / visuelle teksten" in Amsterdam Werke unserer japanischen Dialogpartner mitaufgenommen. Desgleichen in die 1972 von der Staatsgalerie Stuttgart zusammengestellte Ausstellung "Grenzgebiete der bildenden Kunst".
In der Folgezeit fahren Max Bense und ich zu Vorträgen nach Japan, sind wir an weiteren Ausstellungen beteiligt, kommen vor allem Shutaro Mukai und Hiroo Kaminura immer wieder einmal für kürzere oder längere Zeit nach Stuttgart, was dann Anlaß für gemeinsame Arbeiten geben kann, so z.B. zu einem größeren Chlebnikov-Portrait von Kamimura und mir.
1987 erweitert sich der Kreis noch einmal durch die Bekanntschaft mit dem Dichter und übersetzer Syun und seinem Bruder, dem Sho-Meister Kei Suzuki. Mit beiden habe ich in der Folgezeit wiederholt zusammengearbeitet, mit Syun an einem bis heute nicht abgeschlossenen Renshi / Renga, mit Kei - wie seine Ausstellung belegt - auf dem Gebiet der Sho-Kunst, wobei wir seit Ende der 80er Jahre mehrfach auch gemeinsam ausgestellt haben.
1992 hat, um damit die Chronologie abzuschließen, die Buchhandlung Julius mit der Ausstellung "Schrift Bilder Bild Schrift" die Wechselbeziehungen zwischen Stuttgart und Japan ein erstes Mal dokumentiert.
Auch die folgende gemeinsame Lesung versteht sich als eine Dokumentation dieser Wechselbeziehungen. Daß und warum dabei neben deutschen und japanischen Texten auch Texte von Ilse und Pierre Garnier, Bohumila Grögerová und Josef Hirsal, sowie Yüksel Pazarkaya vorgestellt werden, erklärt sich aus dem chronologischen Aufriß von selbst.
Das folgende Programm hat zwei Teile. Zunächst werden Syun Suzuki und ich die "Vokaltexte" Hiroo Kamimuras und meine "Fortsetzungen" vorstellen.
Danach wird Pierre Garnier Dias von den gemeinsam mit Niikuni erarbeiteten "Poèmes Franco-Japonais" zeigen und kommentieren.
Es folgt eine Aufzeichnung Yüksel Pazarkayas mit in Japan aufgenommenen Originaltönen und eigenen Texten.
Den ersten Teil des Programms werden Syun Suzuki und ich mit unserem gemeinsamen Renshi abschließen.
Der zweite Teil ist dann eine Premiere, nämlich die Lesung eines aus Anlaß des "Japan Festivals" enstandenen Kettengedichts, einer poetischen Korrespondenz von Bohumila Grögerová und Josef Hirsal aus Prag, Ilse und Pierre Garnier aus Frankreich, Hiroo Kamimura und Syun Suzuki aus Japan, Yüksel Pazarkaya und mir.
Reihard Döhl: laut / gedichte nach dem japanischen des hiroo kamimura
Die Texte, die wir jetzt lesen werden, stammen aus den 60er Jahren. Hiroo Kamimura hatte 1966/1967 zwei Forschungssemester an der damals noch Technischen Hochschule in Stuttgart verbracht, sich aber nicht nur in der Germanistik umgetan, sondern auch im experimentellen Umfeld der "Stuttgarter Schule/Gruppe" getummelt. Mit dem Ergebnis, daß er in der Folgezeit über die ästhetischen und semiotischen Theorien Max Benses veröffentlichte, daß er aber auch eigene Experimente anstellte. Ein Teil dieser noch in Stuttgart enstandenen experimentellen Texte hat Hansjörg Mayer 1967 in seiner Publikationsfolge "futura" unter dem Titel "vokaltexte" herausgegeben.
[5 vokaltexte]
Ein experimentelles Verfahren, dessen wir uns damals gelegentlich bedienten, nannten wir "Fortführungen". Darunter verstanden wir das Fortführen fremder Texte, bildkünstlerischer Arbeiten (vor allem Grafik) und Musiken mit eigenen Mitteln und Intentionen. André Thomkins fand dafür die Formulierung gefunden: "Kunst macht aus etwas etwas anderes".
Mich reizten damals die "vokaltexte" Kamimuras vor allem wegen ihrer akustischen Struktur. Und da ich mich theoretisch und praktisch mit den Möglichkeiten akustischer Poesie beschäftigte, entstanden als "Fortführungen" die "laut" überschriebenen "gedichte nach dem japanischen des hiroo kamimura".
[laut / gedichte nach dem japanischen des hiroo kamimura]
Seiichi Niikuni/Pierre Garnier: Poèmes Franco-Japonais
Pierre Garnier: Die schöne Persephone (Neue Haikais)
[Kommentar Pierre Garnier]
Yüksel Pazarkaya: Ich höre Tokio mit geschlossenen Augen
1990 hielt sich Yüksel Pazarkaya aus Anlaß des Internationalen Germanistenkongresses in Tokyo auf und reagierte wie viele Künstler auf die zunächst eigentümlich berührende Klangwelt Japans. D.h. er begann, diese Klänge (aus einem zenbuddhistischen Tempel, von Markt und Straße) aufzuzeichnen. Der akustische Text, den wir gleich einspielen werden, ist auf diesen Klängen aufgebaut, in die sich dann O-Töne des Germanistenkongresses einmischen: zu einem typisch deutschen Thema, dem "Faust", der damals in Tokyo von den "Münchner Kammerspielen" aufgeführt wurde und über den der Göttinger Germanist Albrecht Schöne referierte. So begegnen sich auch in dieser Klangcollage Japan und Europa und bilden in ihrer akustischen Begegnung zugleich das athmosphärische Ambiente für einige Haikus und Tankas, die Yüksel Pazarkayas eigene Eindrücke von Japan festhalten.
[Ich höre Tokio mit geschlossenen Augen
Reinhard Döhl/Syun Suzuki: Das weiße Schiff
1987 machte mich auf einer Vortragsreise Hiroo Kamimura in Tokyo mit dem Dichter und übersetzer Syun Suzuki und seinem Bruder, dem Sho-Meister Kei Suzuki bekannt. Die Folge war eine umfangreichere Korrespondenz, zunächst über die Publikation eines Vortrags im "Japan Dichter Club", dann über Fragen der Sho-Kunst, über Ausstellungen in Japan und Deutschland. Im Juli 1992 fügte ich einem Brief an Syun Suzuki ein Tanka ein:
Da ich im zweiten Teil noch ausführlicher über die Tradition und die ästhetischen Bedingungen des Renshi zu sprechen habe, darf ich mich hier auf die notwendigsten Angaben beschränken. Voraussetzung für das Zustandekommen eines Renshi ist das Zusammenkommen von mindestens zwei Dichtern mit der Absicht, aus abwechselnd geschriebenen Gedichten eine Kette zu bilden. Die Tradition schreibt für die Gedichte die Form des Tanka vor. Ein Tanka besteht aus 5 Zeilen zu 5, 7, 5, 7, 7 Silben. Dabei bilden die ersten drei Zeilen aus 5, 7, 5 Silben die Ober- bzw. Anfangsstrophe (kami-no-ku bzw. hokku), die 4. und 5. Zeile aus je 7 Silben die Unter- bzw. Schlußstrophe (shimo-no-ku bzw. matsu-no-ku). Als später die Japaner die beiden letzten Verse wegließen, war das uns in Europa bekanntere dreizeilige Haiku entstanden. Wie für dieses gelten auch für das ältere fünfzeilige Tanka bestimmte Vorschriften, von denen ich als eine der wichtigsten den poetischen Verweis auf die Jahreszeit nenne.
Treten nun mehrere Tankas zusammen, ist zusätzlich das Problem des Anschlusses gegeben. Auch dafür hat die Tradition Regeln entwickelt dergestalt, daß man sich an den Wortlaut des vorangehenden "Tankas" hält, sein Motiv weiterführt. Aber auch ein bewußt gegensätzlicher Anschluß ist erlaubt, desgleichen das Zitat, oder die literarische Anspielung. Sie werden das alles im Folgenden leicht heraushören.
Eine Vorbemerkung scheint mir jedoch noch wichtig. Im Gegensatz zur traditionellen "Renga-" bzw. Renshi-Dichtung, bei deren Produktion sich die Teilnehmer an einem Ort befinden, entstand das folgende Renshi in Korrespondenz, also an getrennten Orten. Das hat natürlich seinen Charakter, den z.T privateren Inhalt der Texte mit bestimmt, weshalb Syun Suzuki und ich unser Renshi auch eher als eine "poetische Korrespondenz" in der Tradition der Rengai-Dichtung denn als Rengai im strengen Sinne verstanden wissen möchten.
[Reinhard Döhl / Syun Suzuki: Das
weiße Schiff]
4. Auf der nämlichen Erde.
Eine poetische Korrespondenz zwischen
Reinhard Döhl, Ilse und Pierre Garnier, Bohumila Grögerová,
Josef Hirsal, Hiroo Kamimura, Yüksel Pazarkaya und Syun Suzuki.
Im Vorfeld des "Japan Festivals" stand auch zur Debatte, ob und in welcher Form japanische Poesie in das Programm eingebunden werden könne. Ihr Angebot in übersetzungen ist ja, wie ein Blick in hier gut sortierte Buchhandlungen belegt, nicht unbedeutend. Dennoch beschränkt sich die Allgemeinkenntnis vor allem auf das Haiku. Und dies zumeist oberflächlich in einem Bemühen, die vorgeschriebene Silbenfolge von 5 / 7 / 5 zu erfüllen und das Jahreszeitenwort Kigo nicht zu vergessen.
Das ist in Japan durchaus anders, schon deshalb, weil das Haiku und das im Laufe der Jahrhunderte eine Tradition entwickelt haben, die sich nicht einfach in eine fremde Sprache und damit Kultur übertragen läßt. Ein Aspekt dieser Tradition ist im heutigen Zusammenhang von besonderem Interesse, nämlich die recht frühe Entdeckung, daß das 5zeilige Tanka von zwei Dichtern geschrieben werden konnte, deren erster dann die die ersten drei, deren zweiter die abschließenden zwei Zeilen verfassen mußte. Ein solches gemeinsam geschriebenes Tanka wird Tanrenga (= Kurzkettengedicht), häufiger noch Waka (= Antwortgedicht) genannt.
Da die Japaner Geselligkeit schätzen, entwickelte sich daraus alsbald eine Art Spiel. Ein Teilnehmer einer Gesellschaft improvisierte die ersten drei Zeilen, ein anderer nahm sie auf und schloß mit zwei Zeilen das Waka. Darauf improvisierte ein dritter Teilnehmer erneut drei Zeilen, die von einem vierten Teilnehmer aufgenommen wurden undsoweiter, wobei darauf zu achten war, daß die Wakas sinnvoll aneinander anschlossen. Kettengedichte dieser Art hießen Haikai-Renga bzw. Scherz-Kettengedicht".
Ich kann mir hier den Hinweis nicht verkneifen, daß unter anderen auch die deutsche Literaturgeschichte etwas Vergleichbares durchaus kennt, wenn dies auch unserem kulturellen Kurzzeitgedächtnis längst entfallen ist. Und ich verweise den hier Interessierten zum Beispiel auf den "Wörterzuwurf", dessen Spielregeln der Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer in seinen "Frauenzimmer-Gesprech-spiele[n]" festgehalten hat.
Solche Scherz-Kettengedichte waren in der Heian-Periode vom 8. bis ins 12. Jahrhundert beliebt, als gesellschaftlich-poetisches Spiel.
Erst im 14. Jahrhundert entwickelt sich dann auch eine ernsthafte Variante, die als Dichtungsform anerkannt wird und deren Regeln im "Renga shinshiki" (1372) festgeschrieben wurden. Wobei zunächst die hundertgliedrige Kette dominiert, der sich später die 36gliedrige Kette des Kasen zugesellt.
"Grundlegend" sei, faßt der Japanologe Eduard Klopfenstein die Bedingungen zusammen, "daß wichtige Motive wie Mond, Kirschblüten oder Liebe in bestimmten Abständen wiederkehren sollten und daß Anspielungen an die Jahreszeiten eingefügt werden mußten. Auch sollte ein ständiges Weiterschreiten stattfinden, indem man nur auf das letzte und nicht auf weiter zurückliegende Glieder Bezug nehmen durfte. Gleiche oder ähnliche Motive konnten also nur nach einer beträchtlichen Zahl von Zwischenstufen wieder vorkommen.
Solche Regeln dienten offenbar dazu, dem ganzen langen Gebilde eine gewisse Ordnung und Struktur, ein inneres Gleichgewicht zu geben, also die Gefahr einer willkürlichen Aneinanderreihung zu vermeiden und eine allzu aufdringliche thematische Eintönigkeit, eine Häufung von verwandten Bildern und Assoziationen, wie sie die damalige Tanka-Tradition bereit hielt, auszuschließen."
Ich erspare ihnen und mir eine Skizze der Höhen und Tiefen, der manieristischen und der klassischen Phasen in der Geschichte des Rengai bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Da nämlich disqualifizierte Shiki Masaoka (1867-1902) bei seinen Versuchen, das Tanka und Haiku zu erneuern, das Rengai so nachdrücklich, daß es für lange Zeit keinerlei Rolle mehr spielte.
Auf welchem Wege auch immer sie von Tradition und Struktur des Rengai erfuhren, - jedenfalls waren es vier westliche Dichter, die sich im April 1969 in Paris um eine Adaption des altehrwürdigen Kettengedichts bemühten: Jacques Roubaud aus Frankreich, von dem auch das Programm stammte, Edoardo Sanguineti aus Italien, Charles Tomlinson aus England und Octavio Paz aus Mexiko, der zugleich Initiator des Unternehmens war. Dieses Experiment, dessen Ergebnisse 1971 selbständig bei Gallimard in Paris, und, in der übersetzung durch Eugen Helmlé, 1983 in den "Akzenten" veröffentlicht wurden, ist schon deshalb ein Kuriosum, weil die vier Beteiligten die 5zeilige Tanka- durch die 14zeilige europäische Sonettform ersetzten, die sie nach einem vorgegebenen Permutationssystem füllten. Dabei mußte bereits diese europäische Gedichtform wegen der ihr eigenen Bedingungen den ursprünglichen Plan Octavio Paz', "eine alte, fernöstliche literarische Form nach Europa zu verpflanzen, sie neu zu beleben" (zit. Helmlé), unterlaufen. Hinzu kam, daß schon "während der Verpflanzung [...] die literarischen und mythologischen Phantome des Abendlandes [auf]tauchten" (zit. Helmlé). Dennoch ist dieses "Unterfangen, ein Renga zu schreiben, ohne den Gewinn von Jahrhunderten buddhistischer Selbstverleugnung hinter sich haben", dieses Experiment, das Tomlinson bereits "auf den ersten Blick" als "ein anfechtbares Abenteuer" erschien, von historischer Bedeutung, denn es markiert den Beginn weiterer Versuche einer Rengaierneuerung.
Etwa gleichzeitig werden in Japan erste Versuche unternommen, das Rengai in seiner klassischen Form wiederzubeleben. Von diesen formkonservativen Versuchen unterscheidet sich der Dichter- und Freundes-Kreis um die Literaturzeitschrift "Kai", der, von Makato Ooka angeregt, zwischen 1971 und 1977 mit unterschiedlichem Erfolg versucht, Rengas auf der Basis moderner Lyrik zu schreiben. Die "Kai"-Gruppe ist es auch, die die traditionelle Bezeichnung Rengai durch den neugeprägten Begriff Renshi ersetzt, wobei shi die formal ungebundene Lyrik im westlichen Stil bezeichnet.
Makato Ooka scheint mir überhaupt der Motor der Erneuerung der Rengaidichtung zu sein, mit deutlich internationalem Interesse, denn bei allen mir bekannten Versuchen der Folgezeit bin ich auch auf seinen Namen gestoßen.
1982 schreibt und veröffentlicht er zusammen mit dem Amerikaner Thomas Fitzsimmons das Kettengedicht "Rocking Mirror Daybreak"
Im Juni 1985 schreiben Ooka und der ebenfalls der "Kai"-Gruppe zuzurechnende Hiroshi Kawasaki zusammen mit Karin Kiwus und Guntram Vesper im Rahmen des "3. [Berliner] Festivals der Weltkulturen" ein Renshi das 1986 u.d.T. "Poetische Perlen" in Buchform erscheint.
Ferner hat Ooka beim Dichtertreffen "Poetry International '85" in Rotterdam mitgewirkt an einem Renshi, das Dichter aus Europa, Südamerika und Japan zusammenführte.
Heraushebenswert bei diesen Versuchen scheint mir, zunächst beim westlichen Ansatz, der Versuch, nicht einfach eine Form zu adaptieren, sondern ein "kollektives Schaffensprinzip" (Klopfenstein) zu übertragen.
Das aber verweist zurück, macht wieder aufmerksam auf vergleichbare Ansätze der Surrealisten, wie allgemein in der Literaturrevolution zu Beginn des Jahrhunderts. So zielt denn auch Ooka für seinen weitergreifenden ostwestlichen Ansatz" genau auf diese Ismen mit der Begründung, daß "diese Denkrichtungen und Bewegungen [...]je von ihren Standpunkten, Ansprüchen und methodischen Ansätzen her" bestätigt hätten, "daß der seit dem frühen 19. Jahrhundert herrschende Ich-Kult am Rande des Bankrotts angelangt war". Daß sie sich abgemüht hätten "auf der Suche nach etwas, das an seine Stelle treten konnte. Das brennede Interesse am Traum und am kollektiven Unbewußten, die Entdeckung neuer künstlerischer Techniken wie die des 'papier collés', der Collage oder der Objektkunst, das unsichere Tasten nach einer kollektivistischen Kunsttheorie innerhalb einer Klassengesellschaft, die Darstellung der existentialistischen Ich-Demontage, das auflebende Interesse an Mythologie und Kulturanthropologie, - all dies", ist Ooko überzeugt, sei unzweifelhaft der Ausdruck einer solchen Suche."
In der heutigen Welt der Hochtechnologie einerseits, die "versessen" sei "auf das Vermessen der Wirklichkeit und die Vorausberechnung der Zukunft", der "unerwarteten kriegerischen Zusammenstöße[...)",und "plötzliche[r] Katastrophen" andererseits, müsse man "mit anderen Mitteln erneut menschliche Begegnungen herbeizuführen suchen", müsse man "Wege zu einer wechselseitigen Verständigung ausfindig machen, die an die Stelle der Ichbezogenheit treten" können. Das sei "auch der Grund, warum heute die literarische Gemeinschaftsproduktion als eine Gelegenheit des nichtquantifizierbaren, freien, kreativen Austauschs neuen Sinn" erhalte "und neu bewertet werden sollte. Es" gehe "hier, wenn man so" wolle, "auch um eine Wiederentdeckung der Welt des 'Homo ludens', der ja kreative Impulse und spielerischen Geist untrennbar in sich" vereinige.
Innerhalb solcher überlegungen findet auch das folgende, aus Anlaß des Stuttgarter "Japan Festivals" entstandene Renshi seinen Sinn, ist ihm nicht ohne Grund ein Tanka Onoe Saishus als Motto vorangestellt worden:
Anders als die Tradition es vorschreibt, ist das folgende Renshi allerdings "nicht an einem Ort" entstanden, sondern "in Korrespondenz". Anfang April schickte die VHS Stuttgart an die acht Beteiligten einen Brief, in dem 8 Ketten festgelegt waren. Diese Ketten waren so festgelegt, daß jeder der Beteiligten im Laufe der Zeit eine Kette beginnen und schließen, und daß im Durchgang der Ketten jeder auf jeden Korrespondenten einmal reagieren mußte. Für eine 9. Kette wurden dann 5 weitere Tankas in eine 3zeilige Oberstrophe und eine 2zeilige Unterstrophe getrennt und zur Ergänzung an andere Teilnehmer weitergegeben.
Gattungsgeschichtlich gesprochen besteht also das folgende Renshi aus 8 Tanka-Ketten und einer Waka-Kette. Bei dem Versuch, jede Sprache mit jeder korrespondieren zu lassen, bedeutet dies musikalisch gesprochen, daß, nach der 'Durchführung' der ersten 8 Ketten, die abschließende 9. Kette dann die 'Engführung' ist.
Im Gegensatz zu den anderen genannten Kettengedicht-Versuchen haben wir dabei weder eine abendländische Gedichtform noch die freie Form gewählt, sondern unser Renshi mit einer vorgeschriebenen 5zeiligkeit bewußt in die Tradition des Rengai gestellt, bei allerdings freigestellter Silbenzahl. Auch war jeder der Teilnehmer verpflichtet, sich auf den vorstehenden Text und seinen Verfasser einzustellen, wobei ihm die Art des Anschlusses frei gelassen war.
Da das Renshi mehrsprachig, japanisch, tschechisch, französisch, türkisch und deutsch geschrieben ist, werden wir es wie folgt vorstellen.
Zunächst lesen wir die einzelnen Ketten und übersetzen sie Glied für Glied. In einem zweiten Durchgang werden wir (ebenfalls mit übersetzung) die 8 "Tankas" jedes einzelnen Teilnehmers vorstellen, in einem dritten Durchgang dann die Lieblingskette jedes Einzelnen, die er sich aus den 8 Ketten frei kombinieren konnte. In einem vierten Durchgang lesen wir schließlich - ohne Übersetzung - das Renshi in seiner originalen Gestalt.
Mit einer solchen Präsentation möchten wir zugleich andeuten, daß sich ein Renshi nicht nur linear entwickelt - die 8 Ketten waren ja gleichzeitig unterwegs - sondern daß durch das gemeinsame Arbeiten am Text und das damit verbundene Aufeinandereingehen sich auch Querverbindungen herstellen, so daß im Idealfall durchaus ein "räumlicher Eindruck" Ooka) entstehen kann, das Renshi insgesamt sich einem Gedicht-Mobile nähert, in dem jeder Beitrag mit jedem anderen in Verbindung treten könnte.
Leider war es aus gesundheitlichen und aus Kostengründen nicht möglich, alle Beteiligten zu einer gemeinsamen Lesung hier zu versammeln. Wir müssen also ein wenig improvisieren. Syun Suzuki wird neben seinem auch den Part Hiroo Kamimuras übernehmen, Pierre Garnier seine Frau Ilse mit vertreten. Für Yüksel Pazarkaya spricht der Sohn Utku, und Frau Gertrude Englert leiht Bohumila Grögerová und Josef Hiršal die Stimme. Das akustische Ambiente des letzten Lesedurchgangs stammt von dem berühmten Shakuhachi-Interpreten Katsuya Yokoyama und schlägt zugleich den Bogen zurück zu einem Shakuhachi-Konzert im LindenMuseum, mit dem im März das Japan-Festival intoniert wurde.
[Auf der nämlichen Erde]