Im Mai und Juni 1997 wurde im Deutsch-Japanischen Zentrum und Literaturhaus in Hamburg rund einen Monat lang eine Ausstellung "Visuelle Poesie aus Japan" veranstaltet. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden über 130 Originalwerke von 28 repräsentativen japanischen Dichtern, Musikern, Malern, Designern und Kalligraphiemeistern auf diesem Gebiet gezeigt. Die Ausstellung war ursprünglich als eine Veranstaltung im Rahmen des Bürgermeistertreffens der Partnerstädte Hamburgs konzipiert (26.-29.Mai 1997 in Hamburg). Der leitende Regierungsdirektor der Kulturbehörde Hamburg, Prof. Dr. Klaus Peter Dencker, unter anderem auch als Künstler und Theoretiker bekannt, übernahm die Schirmherrschaft dieses Projektes. Ich selbst, als Organisator, Dichter und Vertreter der japanischen Seite wurde zur Eröffnungszeremonie am 25.Mai 1997 eingeladen. Dieser Beitrag ist ein Bericht über die Ausstellung, der nach der Heimkehr in der literarischen Zeitschrift "Fune" erschien. Der Grund, warum er nach zwei Jahren wieder im Katalog abgedruckt wurde, liegt darin, daß das neue Projekt "Deutsche und Japanische Visuelle Poesie" gerade aus der Hamburger Ausstellung wurde.
Anhand eines Gesamtkonzeptes von Klaus Peter Dencker sollten in der Ausstellung drei Werkkomplexe zur Darstellung kommen. Im ersten Komplexbereich wurden diejenigen Arbeiten ausgestellt, die stark von der konkreten Sprachbehandlung ausgehen, d.h. die auch heute noch teilweise unter dem Einfluß der japanischen konkreten Poesie stehen. In einem zweiten Komplex wurden die Arbeiten berücksichtigt, die ganz den bildkünstlerischen Entwicklungen (Fotografie, Collage, Zeichnung, Rollbild u.a.} verpflichtet sind. Im dritten Komplex schließlich wurden Objektbücher und Sprachobjekte thematisiert.
An dieser Stelle sollen zunächst einige Anmerkungen zur konkreten Poesie vorausgeschickt werden: Als "konkrete Poesie" werden die Produkte einer Dichtung verstanden, die einer avantgardistischen poetischen Bewegung entspringen. Diese Bewegung entstand zu Beginn der 50er Jahre nahezu gleichzeitig in der Schweiz und in Brasilien, um sich innerhalb kurzer Zeit über die westlichen Industrieländer zu verbreiten. Bevor die Welle [nach] Japan übergriff, hatte sich bereits ein Dichter namens Seiichi Niikuni - er wohnte damals noch in Sendai - auf seine Weise an Arbeiten auf ähnlichem Terrain versucht. Er bezeichnete das eine als "Gestalttexte", anderes als "Lauttexte", die er nach seinem Umzug in die japanische Hauptstadt in Tokyo unter dem Titel "Zero-on" (Null-laut) veröffentlichte. Mit einem Mal erregten seine Veröffentlichungen große Aufmerksamkeit unter den Avantgardisten im Ausland. Die Eigentümlichkeit seiner Arbeiten liegt darin, daß er die spracheigene Schönheit als Objekt ideographisch aufzeigte und sie im Gesamtbezug der Struktur und Funktion der Sprache suchte. Ferner unterschied er seine konkrete Poesie folgerichtig streng von der hybriden Kunst. Das erste Komplexfeld der Ausstellung setzt sich aus Arbeiten zusammen, die hauptsächlich aufgrund der Grundmodelle Niikunis nach seinem Tode entstanden.
Wenn von visueller Poesie in Japan die Rede sein soll, darf jedoch ein avantgardistischer Vorgänger, Katue Kitasono, nicht vergessen werden. Dieser Autor, der bereits Mitte der 50er Jahre Zweifel an den Möglichkeiten des Sprachmediums hegte, hatte in Tokyo eine Bild-Ausstellung der VOU-Gruppe veranstaltet und nach einer von der Sprache unabhängigen Poesie mit neuen Perspektiven gesucht - dies bevor eine internationale Strömung des Konkretismus die japanischen Inseln erreichte. Darüber hinaus definierte und erklärte er ziemlich früh die Grenzen konkreter Poesie und behauptete nachdrücklich, die Sprache solle durch die Kamera als ein neues Medium ersetzt werden. Die neue Poesie, die durch einen Sucher in Szene gesetzt und inszeniert wird, nannte Kitasone "plastic poem". Und seither wurde diese Form der Auslegung von avantgardistischen Autoren im Ausland als japanische visuelle Poesie betrachtet. Der zweite Ausstellungskomplex war mit solchen Arbeiten besetzt, die nach dem Tod Kitasonos entstanden.
Die visuelle Poesie in Japan hat sich auf der Basis dieser zwei voreinander unterschiedlichen Tendenzen mit sprachlichen und außersprachlichen Mitteln weiter entwickelt. Meiner Ansicht nach handelt es sich bei diesem Streitpunkt weder um die Frage nach einem Entweder-Oder eines Verfahrens, noch um die Einschränkung des Problems auf eine Medienauswahl. Anders gesagt, geht es hierbei nicht etwa um Poesie oder Kunst, sondern lediglich darum, ob ein Poesie und Kunst integrierendes neues Genre in Makrosicht aufzustellen möglich wird. Als Antwort mag vor allem die Tatsache dienen, daß sich Seh-Texte der konkreten Poesie seit Anfang der 70er Jahre in raschem Tempo selbständig gemacht und in mannigfaltiger Weise konsequent in Richtung visueller Poesie im heutigen Sinne entwickelt haben In diesem Sinne bietet, so scheint mir, diese Ausstellung eine willkommene Gelegenheit, zu betrachten, was das mannigfaltige und breite Spektrum der visuellen Poesie verursacht hat, einer Poesie, die durch die Teilnahme von Shozo Shimamoto, Leiter der AU-Gruppe, Mieko Shiomi, Fluxus-Mitglied der ersten Stunde und Künstler der mail-art auf treffliche Weise repräsentiert wurde. Die "vielseitige" Mannigfaltigkeit wird in einem Zitat Denckers deutlich: "Sie (Visuelle Poesie) besitzt keine einheitliche Erscheinungsform und läßt sich nicht auf bestimmte normale oder inhaltliche Programmatiken festlegen", kurz, "ihre Vielseitigkeit ist Programm." Anknüpfend an diesen Ausspruch Denckers hatte ich damals auch in meiner Eröffnungsrede betont, man möge sich die gezeigten Arbeiten bitte möglichst vorurteilsfrei anschauen Man möge ihnen gegenüberstehn, einen Dialog mit ihnen führen und die Begegnung mit der Werken genießen.
[Aus Katalog: Texte sehen. Deutsche und Japanische Visuelle Poesie. Kitakami 1999, S. 28-29; zuerst in "Fune", H. 89.1997, S.54-55.]