Kunstraum / Sprachraum
Das Wort und das Bild sind eins. Maler und Dichter gehören zusammen.
Hugo Ball: Flucht aus der Zeit, 13.VI.1916

 Wenn eine Ausstellung Kunstraum / Sprachraum überschrieben wird, rückt dies nicht nur Kunst und Sprache, Schrift und Bild im Tertium des Ausstellungsraumes zusammen, es verweist gleichermaßen auf ein ästhetisches Phänomen des 20. Jahrhunderts, das Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre mit der in Amsterdam zusammengestellten, von der Kunsthalle Baden-Baden übernommenen Ausstellung "Schrift und Bild" erstmals öffentlich wurde.

Dietrich Mahlow, der damalige Leiter der Baden-Badener Kunsthalle blieb von der Aktualität dieser Grenzverwischung sogar so überzeugt, daß er 1987 in Mainz im Gutemberg-Museum und anderen Orts unter dem Titel "- auf ein Wort!" eine zweite Bestandaufnahme versuchte, in der ersten Ausstellung Übersehenes nachtrug und die Entwicklung aufzeigte, die sich aus der wechselseitigen Begegnung von bildender Kunst und Literatur, zum Beispiel im Umfeld von Concept art und Rauminstallation, inzwischen ergeben hatte. Was im Idealfall den Kunstraum / Sprachraum noch zum Klangraum erweitern würde.

Natürlich kam dieses plötzlich virulente Interesse an den Wechselbeziehungen von Schrift und Bild nicht aus heiterem Himmel, war vielmehr in der Entwicklung der Künste seit der gelegentlich so genannten Kunstrevolution zu Beginn des Jahrhunderts vorbereitet. Mit Kurt Schwitters muß hier z.B. ein Künstler genannt werden, der, nachdem die Kubisten erstmals Schrift(zeichen) in ihre Bilder und Collagen integriert hatten, mit seinen Gedichten, Collagen und Assemblagen zentral ins Vorfeld auch der heutigen Ausstellung gehört. Ein kleiner Exkurs soll dies verdeutlichen.

Für Schwitters (wie auch für andere Dadaisten) hatten sich die bürgerlichen Kunst- und Moralvorstellungen durch die Brutalität des 1. Weltkriegs selbst korrumpiert, hatten die spätbürgerlichen Wert- und Sinnvorstellungen - kaum noch den nackten Materialismus verschleiernd - durch Indienstnahme für nationale Propaganda und Kriegsmoral ihre moralische und ästhetische Integrität verloren. Für seinen ausgestopften Schiller, beklagte dies z.B. Hans Arp, sei der Bürger bereit, jederzeit ein Blutbad zu veranstalten.

Einen derartigen gesellschaftlichen Mißbrauch der Kunst wollte Schwitters nach dem Ersten Weltkrieg ausschließen durch eine Verkürzung des Weges von der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes. In einem schon 1919 geschriebenen Aufsatz "Merz" erklärte Schwitters deshalb Kunst als einen Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos.

Eine solche Kunst, erhaben und banal, undefinierbar und zwecklos, läßt aber für den, der sie herstellen will, die Beschränkung auf nur eine Kunstart nicht mehr zu. Die Beschäftigung, fährt Schwitters denn auch fort, mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dies geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.

Damit hatte Schwitters entschieden die Weichen gestellt für Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg erneut versuchten, Dichtung und bildende Kunst zu verbinden, für Franz Mon z. B., der neben seinem literarischen und Collagenwerk auch einen wichtigen Beitrag zur akustischen Poesie geleistet hat. Oder in dieser Ausstellung für Jírí Kolár, der Ende der 50er Jahre als bereits renommierter Dichter das Medium wechselte und heute fast ausschließlich als Collagist bekannt ist.

Für beide Künstler gilt wie schon für Schwitters, Hans Arp, Wassily Kandinsky, Arnold Schönberg und andere Maler, Musiker oder Dichter zu Beginn des Jahrhunderts, daß sie Doppelbegabungen sind bzw. waren und damit einer Tradition zugerechnet werden müssen, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts herschreibt und dort zum Beispiel mit den Namen Johann Wolfgang Goethe, der lange Zeit nicht wußte, ob er bildender Künstler oder Dichter sein wollte, und Johann Heinrich Füssli besetzen läßt, der, ursprünglich Dichter, seine literarischen Ambitionen nach einem Medienwechsel in der Historienmalerei befriedigte. Füsslis Entscheidung für die Malerei, Goethes dann entschiedenes Dichtertum müssen auch gesehen werden vor dem Hintergrund von Überlegungen Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings.

Nach Lessings in "Laokoon oder Über die Gränzen der Mahlerey und Poesie" getroffener, berühmter und folgenreicher Unterscheidung sind die Zeichen der bildenden Künste Farben und Formen im Raum, ist ihr Bereich daher das Nebeneinander von Körpern. Die Poesie dagegen benutze artikulierte Töne in der Zeit, die ein Nacheinander von Handlungen fordern. Zwar gebe es Grenzüberschreitungen, doch seien sie bei jeder der beiden Kunstarten durch ihre Mittel nur andeutungsweise möglich.

Hatte Lessing damit die altehrwürdige Formel des Horaz, ut pictura poesis erit [= wie das Bild sei die Poesie], außer Kraft gesetzt, setzte Schwitters mit seinen lesbaren Bildern und anschaubaren Texten, setzen die ihm folgenden Collagisten mit ihren Grenzüberschreitungen jetzt Lessings Außerkraftsetzung außer Kraft, restituieren sie erneut - wenn auch unter anderen Konditionen - ein ut pictura poesis. Und das nicht nur im Prinzip Collage.

Wenn Ilse und Pierre Garnier, der Begründer des "Spatialismus", in den letzten Jahren ihre Texte durch ein einfaches, dennoch komplexes Zeichensystem ergänzen, gar ersetzen, wäre dies, vor allem bei Pierre Garnier, ein weiterer Beleg für den in den modernen Künsten aktuellen (großen und kleinen) Grenzverkehr, in seinem Fall in eine der Arte povera verwandte ikonographische Textur, die sich auf traditionelle Weise nicht mehr lesen läßt.

Mit den Doppelbegabungen Ilse und Pierre Garnier rückt aber noch ein anderer Aspekt dieser Ausstellung ins Blickfeld. Was sich in der engen Zusammenarbeit zwischen George Braque und Pablo Picasso, in der Korrespondenz zwischen Wassily Kandinsky und Arnold Schönberg, im Dialog zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler oder den Gemeinschaftsdichtungen der Dadaisten und Surrealisten anbahnt, erfährt als Tendenz zum Dialogischen in den Künsten seit den 50er Jahren eine erneute Verstärkung. Nicht nur in der Internationalität der konkret-visuellen Poesie oder des Prinzips Collage, sondern in einer zunehmenden Neigung zu gemeinsamer künstlerischer Produktion.

Hier verfaßte Pierre Garnier mit dem japanischen Dichter Seiichi Niikuni in den 60er Jahren nicht nur ein spatialistisches Manifest sondern schrieb mit ihm auch eine größere Menge französisch-japanischer Gedichte, die in ihrer Mischung lateinischer Buchstaben und Kanji-Zeichen als exemplarische Beispiele für die Vielsprachigkeit visueller Poesie gelesen werden können.

Diese Tendenz zum Dialogischen hat in den letzten Jahrzehnten die unterschiedlichsten Formen künstlerischer Interaktion ausgebildet, poetische Korrespondenzen in Tradition des japanischen Kettengedichts, in denen international Künstler in ihren jeweiligen Nationalsprachen gemeinsam dichten, oder eine Mail art, in der Künstler sich auf gestalteten Postkarten über Konzepte, aber auch zu gemeinsamen Themen austauschen.

Eine weitere Spielart, im Internet visuell und akustisch, literarisch, grafisch und musikalisch miteinander in den Dialog zu treten, deutet sich seit 1996 an in zwei international angelegten Projekten: einer Heißenbüttel-Fastschrift mit Epilog und einem Gertrude-Stein-Epitaph, das gleichzeitig mit einer Ausstellung, einem Gertrude-Stein-Memorial in der Galerie Buch Julius vernetzt war.

An diesen Interaktionen waren außer den schon genannten Künstlern, wenigstens zu Teilen, auch Paris X., Iris Caren Metzger, Kei Suzuki und Wil Frenken beteiligt, was mich zur Pforzheimer Ausstellung zurückbringt.

Zu den künstlerischen Aktivitäten Wil Frenkens gehören in letzter Zeit 1. ein offen angelegtes Chlebnikov-Projekt (das zugleich eine weitere Traditionslinie, nämlich zum russischen Futurismus andeutet), 2. das Drucken (das, in Folge des holländischen, von den Nationalsozialisten ermordeten Druckers Hendrik Nikolaas Werkman, in Stuttgart durch Klaus Burkhardt, Hansjörg Mayer und eben Wil Frenken eine vielfältige Ausformung erfahren hat) und 3. eine sich in zahlreichen Objekten abzeichnende Idee des Buches, in der sich Mallarmés Livre-Konzeption und Apollinaires Prospekt des sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft bündeln.

Vergleichbares, wenn auch mit anderen Intentionen, geschieht in den gemeinsamen Performances des russischen WissenschaftlerDichters Wjatscheslaw Kuprianow und des Dresdner Künstlers Paris .X., wenn sie ausgelegte Schieferplatten und Kupferbleche um die zerknüllten Seiten vorher gelesener Gedichte vermehren zu einer Unordnung, hinter der sich sehr wohl ein er-ahnbarer Sinn verbirgt, wenn der Betrachter erkennt, daß das scheinbar achtlos beiseite geworfene Wortmaterial eine Energie ist, die in der Welt bleibt, angereichert mit Wortkombinationen und -energien, die sich aus den von Paris X. in dieses scheinbare Chaos ausgestreuten Kupferbuchstaben ergeben könnten.

Eine andere Art von Zusammenarbeit praktizieren seit den 80er Jahren der japanische Sho-Meister Kei Suzuki und Reinhard Döhl, indem sie einmal im Sinne der Sho-Kunst miteinander schreiben und experimentieren, aber auch, indem sie versuchen, die traditionelle Pinselschrift, deren Charakteristikum die für den Betrachter stets erkennbare Linie ist, mit dem abendländischen Prinzip der Collage zu verbinden, also zwei heterogene, sich im Grunde ausschließende Verfahrensweisen zu synthetisieren suchen.

Die Einzelarbeiten Kei Suzukis, die in dieser Ausstellung vor allem gezeigt werden, schlagen zugleich den Bogen zurück zu den eingangs genannten Ausstellungen und hier konkret zu dem Stichwort Schrift. Schrift, so hatten diese Ausstellungen gezeigt, kann in ihrer Begegnung mit Bild auf vielfache Weise in Erscheinung treten, als Schriftbild, Bilderschrift, Schrift im Bild oder Schrift als Bild, um die in diesem Zusammenhang wichtigsten Möglichkeiten zu nennen. Jede Kultur hat hier ihre eigenen Traditionen ausgebildet, aber auch von anderen gelernt.

In Europa wird man, wenn man in diesem Sinne von Schrift spricht, an Johann Neudörffer und andere berühmte Schreibmeister denken, an Kalligraphie. Ihnen, in ihr ging es, vor allem nach der Erfindung des Buchdrucks, darum, eine Balance zu finden zwischen der dienenden Aufgabe der Schrift, das heißt ihrer Lesbarkeit, und einem möglichst ansprechenden Schriftbild, das zugleich Ausdruck der künstlerischen Fähigkeiten ihres Schreibers war.

Im Falle der Sho-Kunst, die hartnäckig als japanische Kalligraphie mißverstanden wird, geht es jedoch genau darum nicht. Im Gegenteil: indem der Sho-Meister sich die größte Freiheit beim Schreiben der Kanji, der Schriftzeichen nehmen kann und nimmt, um sich, seine Befindlichkeit, seinen inneren Zustand auszudrücken, entstehen oft Schriftbilder, die selbst ein Kenner kaum mehr lesen kann. Wobei hinzukommt, daß nach einem Satz des Zen-Philosophen Daisetz Suzuki Kunst erst vollkommen ist, wo sie aufhört, Kunst zu sein, das heißt, wenn sie die Vollkommenheit des Kunstlosen erreicht hat, eine Überzeugung, die sich auf merkwürdige Weise mit dem Schwitterschen Diktum berührt, daß man den Begriff Kunst erst los werden müsse, um zur Kunst zu gelangen.

Beide Traditionen aber, die der europäischen Kalligraphie und die der japanischen Sho-Kunst, treffen nach den eingangs erwähnten Ausstellungen jetzt in der Pforzheimer Ausstellung erneut zusammen in den Arbeiten Kei Suzukis und Thomas Kubischs, in Arbeiten, die in einzelnen Beispielen den ihnen traditionell zugewiesenen Rahmen deutlich sprengen. Damit laden sie - wie alle anderen Exponate - den lesenden Betrachter und betrachtenden Leser ein, die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten zu sehen und verstehen zu lernen, sich im Kunstraum, der in der heutigen Ausstellung auch ein Sprachraum ist, dem Grenzphänomen Schrift und Bild ein wenig zu nähern.

[Kunst- und Kunstgewerbeverein Pforzheim 12.1.1997]