Prof. Dr. Reinhard Döhl lebt als Literatur- und Medienwissenschaftler und Künstler in Botnang. Er wird der Stuttgarter Gruppe zugerechnet und ist sicher jedem bekannt durch sein ‘Apfelgedicht’ als Beispiel der konkreten Poesie. Döhl veröffentlichte vor allem zur Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts und zur Mediengeschichte (Rundfunk) und jüngst auch zur Netzliteratur, daneben literarische Veröffentlichungen und Ausstellungen. Seit 1996 arbeitet er an Netzprojekten zusammen mit Johannes Auer (u.a. H.H.H. – Hommage à Helmut Heißenbüttel, Poemchess und Pietistentango) und Martina Kieninger (TanGo-Projekt). Eigene Projekte: das buch gertrud, der tod eines fauns, beides 1996; vorhang für ernst jandl. ein feature, 2000.

Johannes Auer lebt und arbeitet als Künstler in Stuttgart. Als Frieder Rusmann war er Kopf der Stuttgarter Künstlergruppe Das deutsche Handwerk. Verschiedene Off- und Online Projekte, u.a. Fabrikverkauf [art-wear / walking exhibition] (Internet-Ausstellung, 1999), Für den natürlichen Tod des Kunstwerks (2001); mit Reinhard Döhl Als Stuttgart Schule machte, mit Martina Kieninger TanGo (dort Kill the Poem und worm applepie for doehl). Außerdem Das Pferd am Handy (2000) sowie Texte zur Netzliteratur (u.a. Der Leser als DJ oder was Internetliteratur mit HipHop verbindet).

Im update Verlag Zürich erschien 2000 von Reinhard Döhl und Johannes Auer die CD-Rom "Kill the Poem" (www.dichtung-digital.de/buchtip/angaben/poem.htm). Roberto Simanowski sprach mit beiden über ihre Projekte vor und in dem Netz, über den "binären Idealismus" der Textsourcefetischisten, über Zufallsdichtung, Begriffsroulett, kooperative Autorschaft, den Anteil des Programmierers am Ruhm des Ideengebers und die Ängste das Publikums vor den Experimenten der Künstler.

Interview von Roberto Simanowski, dichtung-digital, mit Reinhard Döhl und Johannes Auer

dd: Herr Döhl, Sie haben als Mitglied der Stuttgarter Gruppe in den 60er Jahren an poetischen Experimenten teilgenommen, die auf eine Verbindung von Literatur und Maschine zielten. Heute beteiligen Sie sich an Projekten, die auf die Verbindung von Literatur und Internet zielen. Lassen Sie uns mit den Experimenten der 60er Jahre beginnen, als man in Stuttgart Guilleaume Apollinaires Forderung nach einer "unpersönlichen Dichtung" folgte und in Zusammenarbeit mit Mathematikern gar eine ‚künstliche Poesie’ projizierte. Worum ging es damals?

RD: Die Stuttgarter Gruppe war eine im soziologischen Sinne offene (offen gehaltene) Gruppe. Ich kann also nicht als Gruppensprecher, wohl aber aus meinem Verständnis antworten. Nach unserer einzigen manifesten Äußerung verstand sich die Stuttgarter Gruppe in einer Tradition seit der Kunstrevolution, bemüht, die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstarten offen zu halten und das Produzieren von Kunst mit dem Reden über Kunst zu verbinden. Dabei ging es uns (oder wenigstens mir) zunächst um eine Verbindung von Tendenz und Experiment im Antagonismus dessen, was Max Bense dann als "natürliche" und "künstliche Poesie" unterschied, (in Umkehrung übrigens von Vorstellungen des Novalis aus dem "Allgemeinen Brouillon"), was sich durch die Apollinairesche Unterscheidung von "persönlicher" und "unpersönlicher Poesie" ergänzte. Daß es dann seit 1959 in Stuttgart und bald auch anderswo möglich wurde, mit Hilfe von Rechenmaschinen Texte auszugeben, war uns neben unseren anderen Textexperimenten und nicht nur bei der Diskussion des Autorbegriffs willkommen. Ich möchte das mit zwei Zitaten belegen: "schließlich bin ich so etwas wie eine geschichte von etwas" versus "ich bin eine maschine, die schreibt".

dd: Wenn die Experimente zur "künstlichen Poesie" auf die literarische Produktion einer Maschine zielen, stellt sich freilich die Frage, inwiefern auch die Rezeption an eine Maschine gebunden ist. Quenaus berühmter Text Cent Mille Milliards de poèmes (1961) ist Beispiel dafür, dass ein von einer virtuellen Maschine produzierter Text nur noch von einer Maschine erschöpfend wahrgenommen werden kann, denn kein Leser, auch nicht der Autor, kann all die Texte dieser Sonettsammlung rezipieren. Der Sachverhalt verschärft sich, wenn der Text völlig aus der Maschine stammt. Worin liegt der Reiz stochastischer und aleatorischer Texte? Was macht man mit Texten, aus denen der Autor und mit ihm der indiviudelle und gesellschaftliche Hintergrund ausgetrieben wurde?

RD: Zunächst zu Raymond Queneaus Cent Mille Milliards de poèmes, die uns bei Erscheinen in dem von Max Bense geleiteten Arbeitskreis "Geistiges Frankreich" der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart heftig beschäftigt haben, ebenso wie ein Jahr später Marc Saportas beliebig kombinierbarer Lose-Zettel-Roman "Composition no. 1". Im Falle Queneaus handelt es sich um 10 reimidentische Sonette, die übereinandergelegt und nach jeder Zeile geschnitten in den möglichen Kombinationen eine in der Tat individuell nicht mehr mögliche Leseleistung verlangen. Das war einmal ein bei Queneau nicht verwunderlicher mathematischer Spaß, verwies zum anderen (wenn Sie an das Nachwort von F. Le Lionnais denken) auf eine "Littérature Combinatoire", die Ars Combinatoria des Barock (hier mit ausdrücklicher Namensnennung von Harsdörffer). Es gibt also eine Tradition stochastischer und aleatorischer Dichtung und Kunst, sogar Wissenschaft (wenn Sie z.B. an die, allerdings wissenschaftssatirisch gedachte, Maschine der Akademie von Lagedo in Gullivers Reisen denken).

Und wie im Barock diese aleatorischen Spiele einen weltanschaulichen (religiösen) Hintergrund hatten, kann ich die stochastische und aleatorische Dichtung und Kunst seit den 60er Jahren durchaus als Spiegel eines Weltverständnisses lesen bzw. sehen, das menschliches Denken und Wissen auf 0 und 1 zurückzuführen versucht (das Gödelsche Unentscheidbarkeitstheorem einmal außen vor gelassen). Wobei die Maschine ja im doppelten Sinne nicht nur zur Hervorbringung von Text und Grafik genutzt wurde, sondern auch zur Analyse eingesetzt werden kann, spielerisch und überzeugend z.B. in Georg Perecs "La Machine", einem von Eugen Helmlé für den Funk über- und umgesetzten Hörspiel, in dem ein Computer "Wanderers Nachtlied" untersucht bis zu dem Befehl, es zu verbessern, den auszuführen der Computer verweigert. Notabene: Georg Perec war Computerfachmann. Natürlich hat "La Machine" noch einen Autor, der die Maschine vorführt. Und bei Theo Lutz' "Stochastischen Texten" von 1959, den unwesentlich späteren "Autopoemen" Gerhard Stickels gäbe es sogar - wenn man so will - zwei Autoren, nämlich denjenigen, der jeweils das Wörterbuch bereit stellt (Kafka, Matthias Claudius etc.) und denjenigen, der die Syntax und Grammatik programmiert und den erzeugten Text selektiert: den Mathematiker und Programmierer.

dd: Die philosophische Dimension der Ars Combinatoria des Barock drückt sich vielleicht am prägnantesten im Apendix zu Quirinus Kuhlmanns Gedicht "Wechsel menschlicher Sachen" von 1671: "Alles wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen: Wer nur disem nach wird denken / muß di Menschen Weißheit fassen". Die Botschaft entsprach dem Lebensgefühl des kopernikanisch belehrten Barock, das mit dem Mittelpunktstatus im Sternensystem auch die Verbindlichkeit des Kanonischen verlor und so die unmissverständliche Bestimmtheit der klassischen Renaissanceform durch Ambivalenz, Dynamik und Spiel ersetzte. Die kombinatorische Dichtung war ein logischer Bestandteil dieser Ästhetik. Im digitalen 0-1-Paradigma verkürpert sich hingegen die Idee der absoluten Bestimmbarkeit, die den unbenennbaren Rest des analogen Wahrnehmungs- und Beschreibungsmodells endgültig tilgt. Wäre insofern die aleatorische Dichtung des Computerzeitalters eher die Reaktion auf einen Erfolg als auf die Erfahrung eines Verlusts, ein Spiel also, dem der ernste Hintergrund fehlt? Oder versteckt sich in den Spielen des Digitalen die Sehnsucht nach dem Analogen als dem verdrängten Alter Ego?

RD: Man kann, muß hier (im Übergang von der Renaissance zum Barock) nicht nur an Quirinus Kuhlmann denken. Aber da gäbe es im Grunde wohl keine Verständigungsschwierigkeiten. Mir lag lediglich am Hinweis, daß man selbst bei extremen künstlerischen Hervorbringungen in den "Quelltext" schauen sollte. Aktuell gerade auch bei den digitalen Hervorbringungen, um die es in diesem Gespräch wohl vor allem geht. Hier gibt es sicherlich auch keinen Dissenz darüber, daß sich im "digitalen 0-1-Paradigma [...] die Idee der absoluten Bestimmbarkeit" verkörpere. Und: daß sie nicht ausreiche. Vielleicht habe ich mich hier unklar ausgedrückt. Alles was in der mathematischen Logik seit Frege, Russel, seit Wittgenstein und anderen diskutiert wurde, und was uns in den 60er Jahren sehr beschäftigte, interessierte uns vor allem an den Grenzen, dort nämlich, wo mit Kurt Gödels "Über formal unentscheidbare Sätze [...]" so etwas wie eine Meta-Matematik ins Spiel kam, wo - ich glaube es war in Princeton - eine Maschine diskutiuert wurde, die sich selbst bauen konnte, aber wegen der einprogrammierten Random-Elemente schon in der zweiten Generation nicht mehr vorstellbar war. Ich würde deshalb gerne das wahr-falsch-unentscheidbar unserer damaligen Dikussionen für die Computer- und Netzkunst mit einem 0-1-x ersetzen und wäre an einer Diskussion über dieses x mehr interessiert als an der in meinen Augen unfruchtbaren Diskussion über Sinn und/oder Uninn einer Hyperliteratur.

dd: Der WDR sendete 1970 Ihren Radio-Essay "Sprache und Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen und rezipieren". Was waren Ihre Hauptthesen? Welche neueren technische Möglichkeiten sehen Sie heute, im Zeitalter von Heimcomputer und Internet?

RD: In diesem später von Helmut Heißenbüttel für SDR übernommenen Radio-Essay ging es mir vor allem um die These, daß jedes neue Medium Literatur verändert, wenn sich ihre Hersteller auf die Bedingungen des Mediums einlassen. Und ich habe dies u.a. an ausgewählten Hörspielen, Stuttgarter Tonband-Experimenten und stochastischen (computergenerierten) Textbeispielen zu zeigen versucht.

Der Personal Computer hat heute den Weg vom Autor zum Leser (Autor-Lektor-Drucker-Buch-Handel) wesentlich vereinfacht und verkürzt, das Internet den User/Leser, wenn der Autor dies zuläßt, zur nachträglichen Mittäterschaft eingeladen. Ein Roman entstand zum Beispiel am Schreibtisch und im Context des in der Regel belesenen Autors (Bücher entstehen aus Büchern), aber er entstand (mit anderem Context) im Kopf des Lesers neu und anders. Das Internet bietet dem User/Leser jetzt die Möglichkeit, seinen Roman zur weiteren Lektüre ebenfalls bereitzustellen, der im Kopf des nächsten User/Lesers ... undsoweiter, was den Text offen hält. Mit der Konsequenz, daß Internet-Texte oft nicht abgeschlossen sondern lediglich Textzustände sind.

dd: Das Phänomene der kollaborativen Autorschaft ist sicher das Ereignis des Internet für die Literatur. Ein anderes, an die digitalen Medien allgemein gebundenes Phänomen ist die Möglichkeit, nun Texte durch Programmierung zeitlich zu inszenieren, was ja auf dem Papier nicht geht. Aber bevor wir auf diese Aspekte näher eingehen, eine Frage an Johannes Auer, der ebenfalls vor und außerhalb des Internet künstlerisch tätig war. Welcherart waren deine Projekte und wie kamst du dann zum Netz?

JA: Ich war seit Anfang der 90er mit Thomas Raschke und Sebastian Rogler unter dem Label "DAS DEUTSCHE HANDWERK" aktiv. Gemäß Punkt 9 unseres Manifests "DAS DEUTSCHE HANDWERK reflektiert als Ausstellungsmacher die Situation der Ausstellungsmachenden und wird so selbst Opfer" erarbeiteten wir aufwändige Installationen. Innerhalb derer, genauer als Teil dieser, stellten wir unserer Produkte aus: Raschke=Plastik, Rogler=Malerei, Rusmann=Malerei&Text. So entstanden gewaltige Handwerksschauen wie beispielsweise "Kalter Krieg" in der Stuttgarter Galerie Rainer Wehr, definiert als "Regression zur Klarheit" und "Krieg gegen den Betrachter", oder "3 Farben – beige, zitron, hellblau" auf der Wilhelmshöhe in Ettlingen, bei der Raum und Objekte in 3 aufeinanderfolgenden Ausstellungen je neu farblich komplett umgearbeitet wurden. Oder 1998 die Installation "DAS DEUTSCHE HANDWERK zeigt Männer, Mädchen und Maschinen" im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, mit erklärtem Ziel, endlich die Frage zu beantworten, warum männliche Tauben gurren.

Mit dem DEUTSCHEN HANDWERK begann auch mein künstlerischer Einstieg ins Internet. Anfang 1996 erarbeitete ich unsere erste Homepage mit dem einzigen Ziel, dass wir nach einem halben Jahr sagen konnten: "DAS DEUTSCHE HANDWERK verläßt zum 6.6.96 das Internet". Wir machten das mit schön gedrucktem Ankündigungskärtchen und sicherlich als erste Künstlergruppe – zumindest in Stuttgart.

Ungefähr zur gleichen Zeit, ab Frühjahr 1996, begann meine Zusammenarbeit mit Reinhard Döhl. Wir hatten uns 1994 auf einem Symposium zu Max Bense kennengelernt und waren seither in Kontakt. Reinhard interessierte sich wie ich für das Medium Internet und da mit meinen Handwerkskumpeln außer der "Hinaus"-Aktion wenig mehr möglich schien, schlug ich Reinhard vor "mal was gemeinsam zu machen". Und daraus ist eine bis heute sehr produktive und fruchtbare Zusammenarbeit entstanden.

dd: Eins deiner Projekte, das off- und online arbeitet, ist Fabrikverkauf. Hier verbindest du E-Commerce mit Net-Community, um im ganz realen Raum Kunst daraus zu machen. Hier ist der Kauf nicht End-, sonder Anfangspunkt des Kunstwerks, und als Bezugspersonen wären Duchamp, Benjamin, Beuys aufzählen. Kannst du uns die Namen und das Projekt kurz erklären?

JA: Im E-Shop von Fabrikverkauf kann man per Internet T-Shirts bestellen, die mit von mir entworfenen Kunstmotiven bedruckt sind. Die T-Shirts werden in kleiner, limitierter Serie produziert. Bei der zu klärenden namentlichen Bezugsgruppe beziehst du dich wohl auf meinen "Familienbanden"-Beitrag für das letztjährige Symposium "Ästhetik Digitaler Literatur" in Kassel. Um gegenüber dem dortigen geballten universitären Sachverstand nicht unbegründet im bloßen Hemd (resp. T-Shirt) dazustehen, habe ich tiefgehend genealogisch geschürft. Insofern ist der Verkauf von seriell gefertigten Produkten als Kunstwerk natürlich auf immer mit Andy Warhols Namen verbunden und Fabrikverkauf eine namentliche Verbeugung vor Andys Factory. Aber auch ein Andy arbeitet nicht voraussetzungslos und wieder einmal überragt alles der übermächtige Schlagschatten vom Ready-maker Marcel.

Der künstlerische Hauptteil am Projekt ist die [walking exhibition], bei der die T-Shirt Käufer auf der Website von Fabrikverkauf mitteilen können, wann und wo sie das T-Shirt, die [art wear] tragen. Damit entsteht einerseits eine individuell-kollektive Ausstellung und andererseits eine soziale Plastik im Beuys’schen Sinne. Ganz beiläufig wird so auch das Auraverlustproblem des reproduzierten Kunstwerks, das Benjamin erkannt hat, gelöst, indem sich das T-Shirt Kunstwerk einfach die Aura des T-Shirt Trägers borgt, der ja ganz im Sinne von Andys "15 Minuten" in der [walking exhibition] zum Star mutiert. Nicht zuletzt wird so Marshall McLuhan Erkenntnis "the medium is the massage" durch die angenehme Reibung des T-Shirts auf der Haut sinnlich erfahrbar.

Kommerziell war und ist Fabrikverkauf übrigens nach Internetmaßstäben ein großartiger Erfolg und während allenthalben und andauernd die Börsenwerte von Internetfirmen am Boden liegen und "start up" mittlerweile als "and quickly come down" buchstabiert wird, schrieb Fabrikverkauf im Geschäftsjahr 1999 und 2000 eine dicke schwarze 0,0001 nach dem Komma. Man könnte sich fragen, ob Fabrikverkauf nicht als erstes Kunstprojekt im Internet der New Economy die Hand zur Versöhnung reichen, ins Consulting-Geschäft einsteigen und E-Commerce Firmen beraten sollte beim Farbwechsel von rot zu schwarz - schon immer ein künstlerisches Kerngeschäft... .

dd: Also ist der Börsengang schon geplant? Aber zurück von der Wirtschaft zu Kunst und Literatur. Während "Fabrikverkauf" eine medienübergreifende Performance ist, basieren deine anderen Netzprojekte ganz auf dem digitalen Medium. Ich denke an "Das Pferd am Handy" oder "worm applepie for doehl". Ersteres erzählt als tiefsinnige Parodie auf den Hypertext eine Geschichte und kann leicht zur digitalen Literatur gezählt werden, letzteres ist eher eine Installation, die Reinhard Döhls berühmtes Beispiel der konkreten Poesie um die Möglichkeiten des digitalen Mediums erweitert, wo der Wurm den Apfel schließlich auffrisst, und zwar gleich mehrmals hintereinander. So wie manche Bibliothekare die konkrete Poesie gern unter Kunst statt unter Literatur einordnen, kann man sich bei diesem Beispiel einer kinetischen konkreten Poesie fragen, ob es zu digitalen Literatur oder zu digitalen Kunst gehört. Ich stelle die Frage auch im Hinblick auf die Gesamtentwicklung der digitalen Literatur, die bei zunehmender Multimedialisierung immer weniger mit dem Wort arbeitet und so vielleicht bald nicht mehr klar von der digitalen Kunst abzugrenzen ist.

JA: Ich bevorzuge, wie du es gerade dargelegt hast, die Grenzüberschreitung, bin also als Grenzer kaum geeignet. Dennoch denke auch ich, dass die bildlichen Elemente, bewegt oder statisch, bei der digitalen Literatur zunehmen, zunehmen müssen, allein weil sich das Medium entwickelt. Allerdings waren und sind die gelungenen Beispiele im Netz schon immer "bildlich" gewesen. Bildlich als gestaltet oder inszeniert verstanden. Ich meine beispielsweise Olia Lialinas "My boyfriend came back from the war" oder Susanne Berkenhegers "Hilfe!". Beide erzählen ihre Geschichte und inszenieren sie optisch mit den Mitteln der Browsersoftware. Im übrigen finde ich diese Arbeiten interessanter als beispielsweise das jüngste Jodi-Projekt "%WRONG Browser" [http://www.wrongbrowser.com/], bei dem es einmal mehr um Dekonstruktion und zum wiederholten Mal um das Bewußtmachen davon geht, dass hinter dem Computerbild, das man zu sehen bekommt, überraschenderweise etwas ganz anderes steht, nämlich die Programmierung, der Code.

Und hier, ich will es mal vorläufig als "binären Idealismus" labeln, sehe ich aktuell die brisantere Diskussion. Es gibt eine starke Fraktion bei der digitalen Kunst ebenso wie bei der digitalen Literatur, die versucht, das optische Ergebnis auf dem Bildschirm als nur sekundär abzutun. Ich nenne stellvertretend dafür Tilmann Baumgärtel, der kittlert, dass die Hacker die eigentlichen Künstler seien, und ich nenne Florian Cramer, der rundweg verlangt, dass Netzliteraten mit der Programmiersprache selbst dichten sollen. Nicht dass ich das uninteressant oder gar falsch fände, was mich ein wenig stört ist der fast messianische Rigorismus, mit dem hier das "Eigentliche", der Programmcode, gegen das angeblich bloße Surrogat und Abfallprodukt, das Bildschirmereignis, in Frontstellung gebracht wird. Ich habe da ein ganz visuelles und kräftiges Déjà-vu. Holen wir mal den guten, alten Plato aus dem analogen Buchregal und schlagen im "Staat" das 10. Buch (zehn = eins/null !) auf. Da lesen wir am Beispiel des Bettes, dass die Künstler nur ein Abbild von einem Abbild produzieren. Während die Tischler immerhin noch eine nutzbare Bettlade als Kopie der reinen Schlafstätten-Idee erschaffen, malen die Künstler die vom Tischler verfertigte Reproduktion ab, produzieren also nur die nutzlose Kopie einer Kopie, pinseln eine Wirklichkeit 3. Grades.

Ähnlich die Argumentation der "binären Idealisten" beim Computer: gegeben ist die reine Idee, die 0 und die 1, der binäre Code. Mit diesem Absoluten des Maschinencodes treten die (Kunst)Handwerker des Computerzeitalters, die Programmierer in Kontakt. Alles weitere, nämlich das, was wir auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, ist nur die Visualisierung der Programmierung vom ausgeführten Maschinencode und daher, als Abklatsch eines Abbildes, minderwertig und überflüssig wie das ideenlose und verschlafene Kunstwerk in Platons idealem Staat.

dd: Eine interessante Analogie, die schon aus pragmatischen Gründen meine Sympathie hat. Dem Dekonstruktivismus der von dir angesprochenen Browserkunst mangelt das Eigenleben. Er geht so in seiner Aufgabe auf, dass er in die Ästhetik der Agitationskunst zurückfällt oder, mit Hegelscher Begrifflichkeit, in die der Allegorie. Hat man die Message verstanden, hat sich das Werk auch schon erschöpft. Der Allegorie mangelt das Eigenleben, das über die Enttarnung hinaus von Interesse wäre, sie ist, wie Hegel formuliert, "frostig und kahl". Nichts gegen die Botschaft und nichts gegen den Blick unter die Oberfläche des Bildschirms, aber auch nichts dagegen, dass die Botschaft einen narrativen Körper hat.

Du sprichst vom Bildlichen als Inszenierung, wie es Susanne Berkenheger mit den JavaScripts in "Hilfe!" vorführt. Ein Vorläufer der Inszenierung des Bildlichen ohne Bildeinsatz ist ja die konkrete Poesie (in Absetzung eben von der visuellen Poesie) und ein populäres Beipsiel dafür ist Reinhard Döhls ‘Apfelgedicht’. Du hast in worm applepie for doehl den Text, den Döhl in einer bestimmten Weise im Raum anordnet, in einer bestimmten Weise in der Zeit angeordent und dem Wurm gewissermaßen Leben eingehaucht. Welche Perspektiven siehst du gerade in dieser spezifischen Dimension der Zeitlichkeit in den digitalen Medien?

JA: Eine schwierige Frage, bei deren Beantwortung ich mir in vielem noch im Unklaren bin. Vielleicht soviel: die Zeitlichkeit bei digitaler Kunst ist nicht auf die Animation beschränkt. Auch beispielsweise die Bewegungen, die ich bei der Erkundung einer Website mit der Mouse ausführen muss, können eine zeitlich strukturierende Bedeutung haben.

Bei der reinen Animation dagegen ist die Abgrenzung zum Film problematisch. Das gilt schon für meinen "worm applepie", aber noch vielmehr für Flash-"Filme" wie beispielsweise "The Struggle Continues" von Young-Hae Chang, nebenbei eine Arbeit die mir gut gefällt. Chang gelingt es u.a. durch den Bewegungsrhytmus mit dem er die Wörter und Sätze, der Musik folgend, auf dem Bildschirm anzeigen läßt, eine Emotionalisierung, d.h. die Wortanimation ist nicht beliebig sondern entscheidend für das Textverständnis (ganz anders wie bei den schlimmen Webseiten, wo zur Belebung ein paar Wörter oder Kreise über den Screen gejagt werden). Dennoch fehlt Changs Arbeit eine wichtige Dimension digitaler Kunst, nämlich die Interaktion.

Insgesamt, glaube ich, wird Animation in der digitale Kunst eine immer wichtigere Ausdrucksmöglichkeit werden. Und damit wird sich das Problem der optischen Überinstrumentierung verschärfen. Wenn ein Bild das andere jagt, bleibt leicht der Sinn auf der Strecke. Ich denke in Zukunft sollte sich der Künstler am Computer immer öfter fragen, warum dieses Bild, warum diese Sequenz. Denn eine wichtige Erkenntnis haben wir dem schon einmal genannten Marcel Duchamp zu verdanken. Duchamp hat immer das, wie er es nannte, "rein retinale", also das einzig dem visuellen verpflichtete Kunstwerk abgelehnt und verlangt, dass das Bild auf ein Konzept, eine Idee verweisen muss. Ich glaube diese Forderung ist bei der digitalen Kunst aktueller denn je.

dd: Noch einmal zur Vorgeschichte und zur 1972er Wanderaustellung der Staatsgalerie Stuttgart über "Grenzgebiete der bildenden Kunst", in der es um poetische Mischformen ging wie "Konkrete Poesie", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik". Herr Döhl, wie sind diese Mischformen konkret zu verstehen und wie werden sie im multimedialen Internet weitergeführt bzw. um neue Mischformen ergänzt?

RD: Diese Ausstellung muß im Zusammenhang mit zwei anderen, ebenfalls unter Stuttgarter Assistenz aufgebauten Ausstellungen gesehen werden, der Zürcher Ausstellung "Text Buchstabe Bild" (1970) und der Amsterdamer Wanderausstellung "Akustische Texte / ? Konkrete Poesie / Visuelle Texte" (1970/1971), die einerseits das Etikett "Konkrete Poesie" bereits deutlich mit einem Fragezeichen versahen oder gar vermieden, andererseits ihre Exponate schrittweise erweiterten von der Präsentation ausschließlich visueller Erscheinungsformen des Textes über die Präsentation visueller und akustischer Poesie zur Präsentation von "Bild Text Text Bildern" (so der von mir verantwortete Ausstellungsteil) neben einer "Computerkunst" (verantwortlich: Herbert W. Franke) und Exponaten, die den "heutigen Zustand der Notenschrift" dokumentierten (verantwortlich: Erhard Karkoschka).

Ging es im ersten Teil um die fließenden Grenzen zwischen Literatur und bildender Kunst, konkret um Buchstabe-Bild, Schrift-Bild, im dritten Teil um die fließenden Grenzen zwischen bildender Kunst und Musik, konkret zwischen Partitur und Grafik, ging es beim Teil "Computerkunst" / computergenerierte Grafik um die doppelte Nutzungsmöglichkeit vom programmgesteuerten Zeichenautomaten (sogenannten Plottern) als technische Zeichengeräte und als Apparate zum spielerisch-experimentellen Hervorbringen grafischer Gebilde, das "keinerlei manuelles Geschick erfordert und es daher erlaubt, sich voll auf die formalen Inhalte zu konzentieren" (Franke). Womit jetzt auch für das Zeichengerät geltend gemacht wurde, was bereits für die Rechenmaschine galt: die Möglichkeit des Autor/Künstlers nämlich, sich zwischen ihrer reproduktiven oder produktiven Nutzung zu entscheiden, ein Alternative. die die Geschichte nicht erst der elektronischen Medien begleitet. Dass sich das meiste der in diesen Ausstellungen Gezeigte im Internet fortschreiben und -zeichnen ließe, ist nicht nur einer der Ansatzpunkte unserer gemeinsamen Arbeit, sondern inzwischen in Johannes Auers und meinen Internetexperimenten hinreichend belegt.

dd: Die Frage einer "Literatur im Internet" beantworten Sie mit der Unterscheidung in "Netztexte", "für das Netz geeignete Texte" und "Texte im Netz". Was heisst das konkret?

RD: Am sympathischsten wäre mir wegen des sowohl dem Netztext wie der Netzgrafik zugundeliegenden alphanumerischen Codes, ein beides bündelnder Begriff wie Netzkunst. Für die Frage Netz und Text habe ich unterschieden zwischen

Wenn ich für jedes ein Beispiel geben darf: als ich mich entschieden hatte, mein bisheriges veröffentlichtes und unveröffentlichtes literarisches Werk nicht mehr einem Verleger anzuvertrauen sondern auf einem Rechner auf Abruf für jeden Interessierten bereit zu halten, habe ich begonnen, Texte ins Netz zu stellen, wobei mir jetzt plötzlich eine Aufgabe zufiel, die bisher Verleger und Verlagstypograf für mich gelöst hatten: die Präsentation. Wenn ich bei der Permutation "der tod eines fauns" nachträglich Computer und Netz nutze, geschieht dies, weil mir beide zusammen eine Präsentation erlauben, die so in Buchform nicht möglich wäre, weshalb ich hier von einem "für das Netz geeigneten Text" sprechen würde. Im Falle des mit Johannes Auer realisierten "Pietistentango" gibt es zwar so etwas wie eine der Realisation vorausgehende Partitur in Form von mail art, aber das Ergebnis ist in Buchform überhaupt nicht mehr denkbar. Hier würde ich von einem "Netztext" sprechen, für den die Spielregeln von Computer und Netz produktiv gemacht wurden und konstitutiv waren. Daß dieser Text jetzt zusammen mit anderen auf einer CD-ROM erschienen ist, spricht in meinem Verständnis genau so wenig dagegen, das es sich hier um einen "Netztext", um "Netzkunst" handelt, wie ein auf Bildträgern aufgezeichneter Film, ein auf Tonträgern aufgezeichnetes Hörspiel.

dd: Gerade diese Analogien veranlassen mich allerdings zu einem Widerspruch. Gewiss, ein Hörspiel bleibt Hörspiel, egal ob es per Radio oder Tonträger vermittelt wird. Aber die Spezifizierung im Bestimmungswort ist ja auch Hören und nicht Radio oder Kassette. Bei Netzkunst wird auf das Netz als Spezifikum dieser Kunst verwiesen, obwohl doch das Netz in vielen Fällen, wie ja auch beim "Pietistentango", nur das Distributionsmedium ist und, wenn der Begriff ästhetische Besonderheiten anzeigen soll, eigentlich nur Projekte Netzkunst heißen dürften, die eben produktions- oder rezeptionsästhetisch auf Vernetzung bzw. Mensch-zu-Mensch-Interaktivität aufbauen. Was den Dachbegriff Kunst für Text wie Grafik betrifft: Fürchten Sie nicht, dass der Begriff im Allgemeinverständnis eher an die bildende Kunst denken lässt und Texte ausschließt?

RD: erstens heißt das Hörspiel (zu dem sich neuerdings noch das Hörbuch gesellt) nur bei uns Hörspiel, im angelsächsischen Sprachbereich findet sich stattdessen radiodrama, neuerdings auch ear play. Auch der Begriff Radiokunst wäre mir vertraut. Historisch fände sich, jetzt wieder im deutschen Sprachbereich bis mindestens 1930 das Sendespiel, gab es bei Brecht und Benjamin und dann in den endsechziger/siebziger Jahren erneut die Vorstellung der Höreraktivierung, die Forderung, den Hörer produktiv werden zu lassen einschließlich der zugehörigen Experimente. Das ist alles recht komplex und im Rahmen eines Gesprächs kaum auszufalten.

Um bei dem von Ihnen angesprochenen Beispiel zu bleiben, so ist der "Pietistentango" in seiner Konzeption zwischen Text und Bild angelegt, hat also an beidem teil. Auch gehörte er als Beitrag oder Baustein zum umfassenden TanGo-Projekt, das zumindest bei seiner Realisation des Internets bedurfte. Drittens wäre es wahrscheinlich nicht allzu schwer, ihm Zugänge für einen aktiven Leser einzuprogrammieren, womit er sich dann auch mit anderen Schritten tanzen ließe, als Johannes Auer und ich vorgegeben haben. Wobei uns die Erfahrung - etwa bei unseren interaktiven Gedichtseiten - gelehrt hat, daß es hier schnell zu Qualitätsprüngen, in der Regel nach unten, kommt.

Ich würde dennoch gerne - bis mir was Gescheiteres eingefallen ist - bei meiner Unterscheidung von Text im Netz, netzgeeignetem Text und Netztext bleiben, und letzteren wie das Netzbild, die Netzgrafik bei den nun schon historischen Grenzverwischungen zwischen Text und Bild gerne provisorisch unter Netzkunst subsumieren oder vielleicht unter net-art. Wir haben im Deutschen leider kein den Bedeutungsvalenzen des lateinischen ars annähernd entsprechendes Wort.

dd. Johannes Auer gibt in seinen "7 Thesen zur Netzliteratur" ebenfalls eine Phänomenbeschreibung und Begriffsklärung. Wie verhalten sich Hyperlink und Vernetzung zur Netzliteratur?

JA: Der Hyperlink ist ein konstruktives Gestaltungsmittel der Hyperfiction. Sicherlich, und immerhin das ist ja mittlerweile Konsens, ist er nicht der Todesclick für den Autor. Zwar kann sich der Leser in einem Hypertext seine Lektüreabfolge selbst zusammenstellen, das macht aber nur solange Spaß, wie er den Eindruck hat, dass seine Mouseaktion nicht beliebig und damit sinnlos ist. Hyperfiction braucht also weiterhin den waidwund geclickten Autor, auch wenn sich dieser, Schutzes halber, zum Regisseur getarnt hat. Beim Streit, ob digitale Literatur, um zur Netzliteratur geadelt zu werden, nur im Computernetzwerk funktionieren dürfe oder ob es auch legitime offline Varianten gibt, holt man sich schnell eine blutige Nase. Ich habe mich einmal leichtfertig dazu geäußert und so fulminante Entgegnungen geerntet, dass ich seither kleinlaut verwirrt versuche, die Benennungen von Hyperfiction bis digitale Literatur demokratisch gerecht nebeneinander zu verwenden. Demnächst werde ich auch deine neue Begriffswahl "Interfiction" in mein Benennungsroulett aufnehmen. Sollte ich jedoch gezwungen werden, ein Parisurteil zu sprechen, würde ich am ehesten "Netzliteratur" äpfeln, in dem Sinne, wie sie Beat Suter in dem Interview mit dichtung-digital [http://www.dichtung-digital.de/Interviews/Suter-20-Maerz-01/index1.htm] definiert hat.

dd: Noch einmal zur Autorrolle. Herr Döhl, Sie betonen in einem neueren Beitrag, dass alle elektronischen Medien – Film, Funk, Fernsehen und Computer/Internet – dadurch gekennzeichnet sind, dass der Autor beim Zustandekommen eines Textes der Mitwirkung bedarf: des Regisseurs, Kameramanns, des Mannes am Mischpult, womit immer auch die ursprüngliche Autorintention verfehlt werden kann. Im Hinblick auf das Internet scheint sich diese Kollaboration durch die oft notwendige Hilfe eines Daten- und Screendesigners zu wiederholen und zu verschärfen. Mark Amerika bezeichnet die Wandlung der Autorschaft als Wandlung zu einem "kollaborativen Netzwerk-Ereignis". Ist das Netz das Aus des ‘Einzelkämpfers’?

RD: Das Problem, daß ein Regisseur die Autorintention völlig verfehlen kann, gilt auch für ein Theaterstück. Ich würde heute meine Kölner Thesen noch etwas differenzieren und sagen: die Autorintention kann erstens verfehlt werden, wenn der Autor vom Medium, für das er schreibt, keine (technische) Ahnung hat, wobei dann die Schuld eher beim Autor läge. Die Autorintention kann zweitens verfehlt werden, wenn die Realisatoren den Text, von dem sie ja ausgehen müssen, nicht verstehen. Legt der Autor bereits ein offen gehaltenes Manuskript, eine offen gehaltene Partitur vor, gesteht er den Realisatoren eine Art Co-Autorschaft zu. Schließlich kann sich der Autor aber auch bzw. sollte er sich mit den Bedingungen des Mediums, das er wählt, vertraut machen und an der Realisation beteiligt bleiben. Das ist bei einem Teil meiner Hörspielproduktionen der Fall und für Autor und Regisseur ein wechselseitiger Lernprozeß gewesen. Ich würde deshalb vom Netzautor oder -künstler verlangen, daß er die Grundlagen des Mediums, für das er tätig wird, wenigstens in Ansätzen kennt, wenn er nicht sogar die Arbeitsteilung aufhebt und zum Autor/Realisator wird, wie dies z.B. Paul Pörtner bei seinen späten Hörspielen beispielhaft vorgeführt hat. Kann er dies nicht, ist der Internetautor in der Tat auf die Hilfe eines Programmierers, eines "Daten- und Screendesigners" angewiesen – bei dennoch erstrebenswerter cooperativer Realisierung. Bei Johannes Auers und meinen gemeinsamen Netzexperimenten und -arbeiten, die zu verschiedenen Anlässen an verschiedensten Orten gemacht wurden, habe ich es stets als angenehm empfunden, daß sich unsere jeweiligen, auch unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorstellungen wechselseitig ergänzt und potenziert haben. Ich würde dies als dialogisches Arbeiten bezeichnen und habe für eine cooperative Autorschaft auch bereits mehrfach plädiert.

dd: Du, Johannes Auer, konzipierst, schreibst, programmierst und designst deine Projekte selbst und bist so vielleicht ein Beispiel für das neue Universal- und Originalgenie. In deinen "7 Thesen zur Netzliteratur" stehst du dieser Spezies als Zukunftsmodell allerdings skeptisch gegenüber und sagst eher Kooperationen zwischen Programmierern, Schriftstellern und Künstlern voraus. Bei Arbeitsteilung stellt sich natürlich auch immer die Frage, wieviel der eine vom Spezialgebiet des anderen wissen muss und wem schließlich der Ruhm gebührt: dem Ideengeber oder dem, der die Idee in den digitalen Code überträgt. Anders und mit den Worten von vorhin gefragt: Inwieweit darf der Künstler es sich leisten, sein Material nicht zu kennen? Inwiefern ist die Programmierleistung als moderne "artes mechanicae" Bestandteil des Kunstwerks?

JA: Das altersschwache Universalgenie übergehe ich gerngehört.Bei mir ist die Programmierung zur Zeit "Mittel zum Zweck" wie die Acrylfarbe zum Malen eines Bildes oder AjaxTM zum Putzen der Fensterscheibe. Die Programmierleistung hilft mir ein Konzept umzusetzen. Aber natürlich muss ich bei der Entwicklung eines Konzeptes die Mittel und ihre Leistungsfähigkeit kennen und ins Kalkül ziehen, muss wissen, wie gut mein Glasreiniger ist. Insofern sollte der Digikünstler also zumindest die Möglichkeiten seines Materials "Programmierung" kennen. Ob er dann alles selbst codet oder mit Programmieren kooperiert, ist, denke ich, sekundär.

Ich glaube die Leistung des Programmierers ist vergleichbar der des Kameramanns beim Film oder der des Bühnenbildners beim Theater. Er nimmt unzweifelhaft gestalterischen Anteil am künstlerischen Produkt. Dennoch hat weiterhin die Idee oder das Konzept der Produktion das Primat, auch wenn die Beschäftigung mit digitalen Techniken auf die Ideenentwicklung Einfluß nehmen mag. Glasklar anders ist es, wenn die Programmierung selbst zum Kunstwerk wird, wie bei Perl-Gedichten oder wenn man wie Florian Cramer die kooperative Entwicklung von Software als kollaborative Autorenprojekte definiert.

dd: Die letzte Frage zielt auf Vergangenheit und Zukunft. Die Konzeptionen und Präsentationen der künstlichen Poesie stießen in den 60er und frühen 70er Jahren in der Öffentlichkeit auf erregte Einsprüche, in denen sich auch Ängste um die Zukunft der Literatur äußerten. Wie sehen Sie, Herr Döhl, vor diesem Hintergrund – und als Literaturwissenschaftler, Künstler und Leser in einer Person – die Zukunft der digitalen Literatur?

RD: Den bis ins Heftige gesteigerten Ausdruck solcher Ängste habe ich auf der ersten Ausstellung von Computergrafk in Stuttgart (1965) und einer Podiumsdiskussion über Computertexte in Düsseldorf (1968) selbst erlebt. Hier muß man nach meinen Beobachtungen differenzieren nach den Gründen der Ängste. Der traditionelle Autor/Künstler hat möglicherweise Angst davor, daß ihm seine Felle davon schwimmen, der traditionelle Leser hat Angst vor einem neuen Umgang mit Literatur, den er (noch) nicht beherrscht, beide können Angst haben vor einer Kunst/Literatur, deren Regeln und Entstehungsprozeß sie nicht durchschauen, überprüfen können, und schließlich artikulierte sich wiederholt auch eine Angst vor einer globalen Vernetzung und Kontrolle (der Big Brother Orwells ließ grüßen). Wobei es für mich mehr als kurios ist, daß sich derartige Ängste bei Fotografie oder (laufender) Bildberichterstattung, bei denen ja nun nachweislich häufiger manipuliert wurde bzw. werden kann, offensichtlich nicht einstellen.

Für die Zukunft wird es, denke ich, wie bisher ein Nebeneinander von literarischen und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und -formen geben, unter denen die aktuelle Netzliteratur und -kunst gerade erst bei einem Beginnen ist. Und um deren Zukunft ist mir aus meiner Kenntnis der Geschichte der Medien durchaus nicht bange, solange sich ihre Vertreter klar darüber sind, daß sich aus vielen kleinen Schritten und einem immer neuem Ansetzen (wobei ich die Rede-darüber mit einschließe) erst ein Ganzes ergeben wird, das mehr ist als die Summe seiner Ansätze.

dd: In diesem Sinne hoffe ich auf weitere Projekte und Reden und danke für das Gespräch.