Reinhard Döhl. Mail Art [Materialien]

Zu den Kunst & Kompostkarten | Ansichtskarten | mail art. ein manifest | Kunst&Kompostkarten | Fixierte Lebensaugenblicke | mail art. Kunst & Kompostkarten | Die Ausstellung im Wilhelmpalais 1996 [Chronologie | Ausstellung | Eröffnung | Das Spiel | Austellungskritik] | Reinhard Döhl: Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst. [Auszüge] | Mail Art. Döhl, Auer, Kieninger | Ausstellung Wildbad 2000 [Katalog | Eröffnung | Kritik] | Ausstellungskalender

Es gibt Menschen, die glauben den Schlüssel ihrer Lebensschicksale in der Heredität, andere im Horoskop, wieder andere in ihrer Erziehung zu finden. Ich selber glaube, daß ich manche Aufklärung über mein späteres Leben in meiner Ansichtspostkartensammlung fände, wenn ich sie heute noch einmal durchblättern könnte. Die große Strifterin dieser Sammlung war meine Großmutter mütterlicherseits, eine entschieden unternehmende Frau, von der ich zweierlei glaube geerbt zu haben: meine Luist am Schenken und meine Reiselust.
Walter Benjamin: Berliner Chronik
Zu den Kunst & Kompostkarten
1958 bekam R.D. zu seinem Geburtstag von seinem Studienfreund Hans-Heinrich Lieb Franz Marcs Botschaften an den Prinzen Jussuf geschenkt, möglicherweise als Respons auf die sentimentalen Botschaften an die Prinzessin Sabais (1955). Sein damaliger Wunsch, solche Kunstpostkarten zu sammeln, die ihre erste Silbe wirklich verdienen, ließ sich nicht erfüllen. Was er im Kunsthandel eher gelegentlich fand, konnte der Göttinger Student nicht bezahlen, und Künstlerfreunde hatte er keine.
Nach dem Documenta-Schock (1959) entstehen im Rahmen des Spiegel-Fragment-Bilder-Buchs auch postkartengroße Collagen, oft auf Karteikarten. Die neuen Stuttgarter Freunde Klaus Burkhardt, der damals typographisch anspruchsvolle eigene Künstlerkarten druckte, und Günther C. Kirchberger, der damals u.a. postkartengroße Gouachen malte, steigerten das Interesse und animierten zu einer intensiveren eigenen Kunstkartenproduktion im Spannungsfeld zwischen Typographie und Collage (vgl. die Tapoems and Typieces von 1964-1966; ferner die Folge Apfel/Birne/Blatt von 1965). Wichtig war aber auch, daß bis dahin die Studentenbuden kaum Raum für größere Formate geboten hatten, auf den meist mit Büchern überfüllten Schreibtischen sich aber immer etwas Platz für die Herstellung von Postkarten finden ließ. Der 1963 entstandene, 1965 in Prosa zum Beispiel veröffentlichte Text Postkarten spricht denn auch, obwohl verklausuliert, in eigener Sache.
Wann erste Karten auf den Postweg gegeben wurden, läßt sich mit Sicherheit nicht mehr sagen. Trotz der gemeinsamen Arbeit an den Text-Grafik-Integrationen gab es mit Kirchberger kaum Korrespondenz dieser Art. Mit Burkhardt sind wohl Karten getauscht worden. Aus der Korrespondenz mit Werner Schreib, in der erstmal auch von "komp/ostkarten" bzw. "kom/postkarten" die Rede ist, haben sich nur Karten Schreibs aus den Jahren 1962 und 1963 erhalten. Die älteste nachweisbar echt gelaufene Karte Döhls ist am 18.10.1966 in München abgestempelt und an die Tochter adressiert.
Döhls Kunstpostkarten waren zunächst Einzelstücke, selten kleinere Folgen. Mitte der 60er Jahre treten sie jedoch zunehmend auch zu Ensembles zusammen oder lassen sich zu Postkartenbildern (vgl. auch die späteren Bild/Postkarten) anordnen. Gezeigt wurden sie vor allem in Ausstellungen konkret-visueller Poesie (durch Foto nachweisbar z.B. in der Amsterdamer Ausstellung klankteksten / ? konkrete poezie / visuele teksten, 1970/71).
Nach seinem Rückzug aus dem Kunstbetrieb, der black-box-Phase der 70er Jahre, werden für Döhl die Postkarten, postkartengroße Formate zu einem Spielfeld für Notate, Bildideen, Skizzen, aber in gleichem Maße auch für (kultur)politische Auseinandersetzung in Fortsetzung der Use Papers [vgl. zu ihnen die Korrespondenz mit Siegfried Cremer, z.T. gedruckt in Dencker: Textbilder, 1972, und im Katalog Europäische Avantgarde 1950-1970, 1973].
In den 80er Jahren kommt es dann zu größeren Projekten (z.B. den Kunst&Kompostkarten in der Korrespondenz mit Wolfgang Ehehalt (erstmals ausgestellt 1989 in der Galerie Folkmar von Kolczynski), entstehen Geschichten in Bildern (z.B. Gillray was here; auch gedruckt 1987), treten Kartenfolgen an die Stelle der wegwerfhefte aus den 60er Jahren. Neben dem offenen Projekt der Kunst&Kompostkarten enthält die Korrespondenz mit Ulrike Gauss ein zweites umfangreiches, hier einschlägiges Konvolut "Atelier & und Konzeptkarten". Aber auch international hält Döhl auf diese Weise Kontakt mit Künstlern u.a. in Japan, Frankreich, der Tschechischen Republik. Gezeigt wurden seine Kunst&Kompostkarten auf mail-art-Ausstellungen (z.B. Siegen, 1987, Berlin 1988), aber auch im Rahmen normaler Ausstellungen (z.B. SportBilder, 1989; der Wendlinger Retrospektive von Werkgruppen der 60er und 80er Jahre, 1990, der Gruppenausstellung Das schwarze Loch, 1992, dem Stuttgartprospekt, 1993, den Pariser Skizzenbüchern, 1994 und der ELS-Ausstellung Der blaue Reiter ist gefallen / Der blaue Reiter ist angelangt, 1995).
Abbildungen von Kunst&Kompostkarten finden sich auf Einladungskarten, in Katalogen und dem BilderBuch. Innerhalb seiner bildkünstlerischen Werkes (mit gelegentlicher Grenzüberschreitung zur Literatur, z.B. in der Gruppe der botnanger annagramme) bilden die Kunst&Kompostkarten Döhls eine zentrale Konstante als der Ort für erste Notizen, Bildideen, Skizzen, Entwürfe, Mitteilungen, die sich aus Zeitgründen als größeres Werk (dann) oft nicht ausführen lassen. Sie sind aber auch ein Ort für Auseinandersetzungen mit (kultur)politischen Fragen. Bei Reisen und längeren Auslandaufenthalten (u.a. Japan 1987, Paris 1990, Rom 1992) haben sie zusätzlich die Funktion von Reisebericht und -tagebuch, geben sie Auskunft über die Befindlichkeit ihres Produzenten, spiegeln sie Eindrücke und empfangene Anregungen, berichten sie von Plänen und sind oft zugleich deren (einzige) Realisation. So gesehen bilden sie das bildkünstlerische Pendant zu den botnanger sudelheften.
[März 1993/ergänzt 1995]


Ansichtskarten Man schickt von einer Reise Ansichtskarten, um den Daheimgebliebenen zu sagen, daß man sie nicht vergessen hat. Man unterläßt es, einem Freund, der in bescheidenen Verhältnissen lebt innerhalb eines Sommers Karten aus Ragusa, Capri und Nizza zu schicken. Auch wäre es taktlos, einem Bürokollegen eine Karte zu schicken und einen anderen zu übersehen. Dem Chef und hochgestellten Persönlichkeiten schickt man nur dann Ansichtskarten, wenn man mit ihnen privat befreundet ist Man läßt auch nicht zufällige Urlaubsbekanntschaften ihre Namen auf Karten kritzeln, da diese Leute für die zu Hause Gebliebenen keinerlei Bedeutung haben. [Gutes Benehmen Dein Erfolg] 1
Es gibt Ansichtskarten und Ansichtskarten. Immer wieder fallen den Leuten Ansichtskarten ein in meinen Briefkasten mit jeder Postwurfsendung. Immer wieder muß ich viele Ansichten auseinander halten. Ich habe mir einen Karteikasten gekauft und eine Systematik gemacht. Ich sammle Ansichten die mir mein Briefträger zuträgt. In meinem Karteikasten sammeln sich die Ansichten einer ganzen Welt die sie beschreiben.
2
Ansichtskarten sind Ansichtssache und leicht überschaubar. Man schätzt ihren Umgang. Sie sind genügsam. Man kann sie sich an den Hut und hinter den Spiegel stecken. Man kann sie unbesehen zerreißen verbrennen verlegen. Man kann sie jederzeit vorholen und oberflächlich betrachten. Man kann sie ganz genau betrachten. An ihren Ansichtskarten kann man sie erkennen. Ansichtskarten sind nicht jedermanns Sache.
3
Es gibt schwarzweiße Ansichtskarten, die von den Schwarzweißsehern verschickt werden. Immer noch verteilen die Schwarzweißseher ihre gebildete Ansicht. Die schwarzweißen Bilder der Welt sind billig zu haben. An allen Kiosken der Welt wird eine um die andere Ansicht für bare Münze gehalten Sie ist wiederholbar für jeden erschwinglich. Täglich sichten die Schwarzweißseher den Bestand der verteilbaren Welt und lassen ihn umgehen.
4
Ansichtskarten sind keine kleinen Mädchen die bunt angemalt sind. Die buntangemalten Ansichtskarten ändern ihre Meinung nicht von heute auf morgen. Sie hängen ihr Mäntelchen nicht nach dem Wind Man kann sie erinnern. Ein Kreuz mit Tinte bezeichnet die Stelle der Wohnungnahme. Viele Leute machen ein Kreuz und möchten sich hinter verstecken. Ansichtskarten sind keine Regenbögen die bunt angestrichen sind.
5
Von allen bekannten Blumen sind Ansichtskarten die schönsten Sie blühen nicht im Verborgenen Sie sprechen von sich aus. Sie sagen nicht: laßt Blumen sprechen. Und sprechen nicht durch die Blume oder in Rätseln. Sie sprechen in Bildern. Sie haben sich eine Ansicht gebildet. Sie haben sich eine genaue Ansicht gebildet. Sie besagen nichts weiter.
6
Meine Ansichtskarten zeigen eine Ansicht die sonst niemandes Ansicht ist. Man kann sie keinem Menschen vorlesen. Man kann sie in keine Sprache übersetzen. Man kann sie nicht vom Blatt singen. Sie bezeichnen eine Welt die es sonst auf der Welt nicht gibt. Die es nirgendwo auf der Welt mehr gibt. Und die gezeigte Welt ist jedesmal eine andere.
7
Die Ansichtskarten sind jetzt alle verteilt, Man hat sich seine Ansicht gebildet hiervon und davon. Man weiß was auf den Ansichtskarten drauf ist. Man hat säuberlich die Häuser von den Bäumen und den Himmel von der Erde geschieden. Man spricht darüber und läßt es Tag und Nacht werden. Man spricht immer noch darüber. So ward aus Abend und Morgen ein anderer Tag.
[1963]

[Variante: Im "Prosa zum Beispiel" (1965) beginnt die 6. Ansichtskarte: Die Ansichtskarten Günther C Kirchbergers haben eine Ansicht...]



mail art. ein manifest
die kunst ist auf den hund gekommen [rasse gleichgültig] was nicht heißen soll daß in der gültigkeit der hund begraben liegt [fliegende hunde eingeschlossen] was nicht ausschließt daß die kunst fliegt [air mail] was aber auch sea mail [sieh mal] land art etcetera heißen könnte [hundsposttage] also nicht sagen will daß alle land luft und wasserwege [von wegen wasser] künstliche also von kunst wegen sein könnten [potentialis] auch wenn sie nicht können wollten [irrealis] also nur sein würden [ehrwürden] falls sie sein könnten [duplizität der fälle] und mit der kunst schlitten führen [schlittenhunde] und wechselseitig [fahrbahnwechsel] mit presse gülle und kunst dünger [vorsicht seitensprünge] den künstlichen jünger [kunst kommt von können] überführen oder wie immer dem sei [wäre] hat die kunst [könnte von kommen] will sagen kann die kunst von [wie auch immer] hatten wir schon vor und zurück [hundeschlitten] zuvor und rückzu [epiphanie ausgeschlossen] kann die kunst [sozusagen] immer nur auf dem land wasser oder luftweg zur kunst gelangen also: mail art!
[1985]


Wolfgang Ehehalt, Reinhard Döhl,Kunst&Kompostkarten
[Galerie Forkmar von Kolczynski, 15.4.-13.5.1989]

Zwischen Mülldeponie und Kompostprinzip läßt sich im spätkapitalistischen Kulturbetrieb allerdings nur schwer noch differenzieren. Der Kehrichthaufen der Geschichte, von dem Trotzki einst verächtlich sprach, erweist sich als der Humus des affirmativen Kunstbetriebs. (Detlev Claussen).

Also, lieber Wolfgang,
wenn du mich fragst, so zwischen Neckar und Nesenbach...
Dein Reinhard
Lieber Reinhard,
ich frage Dich aber nicht, auch zwischen Wald und Reben...
Dein Wolfgang

Fixierte Lebensaugenblicke
Seit 30 Jahren tauscht Reinhard Döhl Gedichte mit japanischem Lyriker aus
Abseits offizieller Kulturprogramme leben manchmal im Verborgenen internationale Kontakte. So pflegen Stuttgarter Künstler einen intensiven Austausch mit Anhängern der konkreten Poesie in Japan. "Wie führen seit nunmehr über 30 Jahren einen Dialog", erzählt Reinhard Döhl, Literaturwissenschaftler an der Uni Stuttgart.
Das aktuelle Projekt ist ein Kettengedicht. Seit 1992 senden sich Döhl und der Japaner Syun Suzuki alle zehn bis vierzehn Tagen einen weiteren fünfzeiligen Vers, japanisch Tanka genannt, zu diesem Renshi auf Postkarten zu. 25 Verse sind bereits entstanden. "Jedes Tanka soll einen momentanen Erlebnisaugenblick objektivieren und als Lebensaugenblick in seiner Zeitgebundenheit fixieren", sagt Döhl. Dabei begann dieses Kettengedicht eher zufällig. Als "mail art" (Postkunst) schrieb Döhl seinem langjährigen Freund folgenden Fünfzeiler zu: "Törichte Träume, / wenn der Mond sich bald rundet. / Ich falte ein Schiff / aus Papier und schicke es / mit dem Westwind in Wolken". Vierzehn Tage später kam die Antwort: "Das Schiff hat / am schönen Traum geankert / ruhig leuchtend im / Schein des Mondes als ob es / ein japanisches wäre". Die beiden Künstler wollen aber nicht an der alten Tradition des Kettengedichts rütteln, wie es Ende der 60er Jahre Octavio Paz, Jaques Roubaud, Eduardo Sanguietti und Charles Tomlinson im Paris versucht hatten. Ein Ende ist schon in Sicht. "Wie machen das Gedicht bis Herbst 1994 weiter", so Döhl.
Noch vor 21 Jahren wurde die konkrete Poesie in Stuttgart in namhaften Institutionen vorgestellt: 1972 die Ausstellung "klankteksten, konkrete poesie, visuelle teksten" im Württembergischen Kunstverein und die Schau "Grenzgebiete der bildenden Kunst" in der Staatsgalerie.
Denn die konkrete Poesie, eine hierachische Grenzen zwischen Literatur und Bildender Kunst überschreitende Richtung, erlebte in den 60er und 70er Jahren ihre Hochblüte. Inzwischen geriet die Stuttgarter Schule um Max Bense weitgehend in Vergessenheit. 1964 war die "heimliche Kulturachse " zwischen Japan und Stuttgart mit der Ausstellung "poema concreto / konkrete poesie" entstanden, an der neben japanischen und brasilianischen Künstlern auch Pierre Garnier und aus Stuttgart neben Bense und Döhl noch Elisabeth Walther und Helmut Heißenbüttel beteiligt gewesen waren.
Wie sehr die Bedeutung der Stuttgarter Schule noch heute in Japan geschätzt wird, eröffnete sich Reinhard Döhl 1987 bei der Durchsicht des Nachlasses von Seiichii Niikuni, einem Mitgleid der sogenannten ASA-Gruppe, in der Bibliothek der Kunstakademie Tokio. "Ich fand Arbeiten der Ulmer Hochschule für Gestaltung, der Stuttgarter Schule und Gruppe in einer Vollständigkeit vor, in der wir sie hier wahrscheinlich nicht mehr zusammenbrächten", erinnert sich Döhl.
Franz-Norbert Piontek in Esslinger Zeitung, 2.7.1993

mail art. Kunst & Kompostkarten [1995]
1. Postkartengroße Formate (zunächst einzeln, dann auch in Serien und als Komposition; BilderGeschichten; Partituren; Fortsetzung der Wegwerfhefte) seit 1959/1960.
2. Postkarten als Gebrauchskunst (z.T. echt gelaufen) seit 1959/1960.
[Älteste erhaltene Karte 1966 an Tochter].
3. Große Konvolute und Partner:
- Wolfgang Ehehalt [das Kunst&Kompostkarten-Projekt, seit 1985]
- Ulrike Gauss [Atelier & und Konzeptkarten, 1989-1992 täglich]
4. Weitere Adressaten und Korrespondenzpartner
- Johannes Auer
- Chong Li Bai
- Li [LiLi] Wen Bai
- Xiang Wen Bai
- Roussico Bandzeladze und George Mgaloblichvili
- Elisabeth Borchers
- Erdmut Bramke
- Hans Brög
- Buch Julius
- Klaus Burkhardt
- Siegfried Cremer
- Isa Dahl und Daniel Wagenblast
- Irmgard Dieringer
- Barbara Döhl
- Dörte Döhl
- Esther Döhl
- Julia und Friedhelm Döhl
- Susanne und Will Frenken
- Ilse und Pierre Garnier
- Dieter Göltenboth
- Bohumila Grögerová und Josef Hiršal
- Hannelore Jouly
- Hiroo Kamimura
- Günther C. Kirchberger
- Dieter Kölmel
- Jirí Kolár
- Gertie und Folkmar von Kolczynski
- Rolf H. Krauss
- Joachim Kuolt
- Miroslava Lancová [Valová]
- Xing Can Liu
- Helga Menges [†]
- Franz Mon
- Ulrike Müller-Herancourt
- Stefan Nobbe
- Ladislav Novák [†]
- Eduard Ovcácek
- Mikko Paakkola
- Susanne Raible
- Diter Rot [†]
- Malgorzata [Gosia] Sawicka
- Monika Schmidt
- Werner Schreib [†]
- Klaus Schöning
- Bettina Sorge
- Veronika [Vroni] Steinbach
- Kei Suzuki
- Syun Suzuki
- Ewa Szenfeld
- André Thomkins [†]
- Karel Trinkewitz
- Barbara Wichelhaus
- Johannes Zagrosek
- Ulrich Zeh u.a.
5. Das ELS-Projekt
(zus. mit H. Brög, F. Döhl, W. Ehehalt, S. und W. Frenken, I. und P. Garnier, B. Grögerová, C. Hagmeyer, J. Hiršal, H. Jouly, F. Mon, S. Suzuki, J. Zagrosek u.a.).
6. Die BilderGeschichten
- Gillray was here
- Der nicht mehr einsame Turner (nach Baumeister)
- Der Woge (nach Ernst)
- Rekonstruktion einer Heiligen (nach Ernst)
- Wolferl oder von der Erfindung der Mozartkugel
- Die belämmerten Ziegen (nach Doré) etc.
7. Die Botnanger Annagramme
8. Tempi passati
9. Der Stuttgart-Fries
10. RomSiebenSachen
11. Partituren
- zeit böse telefonisch es anna
- Stuttgarter Partitur
- Komposition für ein Ziegelsteinfragment aus den Caracalla-Thermen
- Chamber Music (in memoriam John Cage)
- Californian Sonate (Concord)
- Californian Dream Sweet/Suite
- Für ELiSe
- Die Grazer Wetterkantate
12. Die WasserFarbenKarten
13. Etcetera etcetera
[Stand Juli 1995/ ergänzt Juli 1996]

Reinhard Döhl und Freunde:Mail Art
Stuttgart: Wilhelmpalais [4.9.-26.10.1996]
a) Chronologie
- Erste Postkarten und postkartengroße Formate 1959/60.
- Erste erhaltene Postkarten von Werner Schreib an R.D. 1962/1963.
- 1963 entsteht der Text "Ansichtskarten" [Druck in "Prosa zum Beispiel", 1965].
- 1964 ff. werden die Collagen von vor allem Karten Klaus Burkhardts erstmals zu unterschiedlichen PostkartenBildern zusammengestellt. [z.B "zeit / böse / telefonisch / es anna", 1964/66].
- Älteste erhaltene mail art R.D.'s an Tochter 1966.
- Die Korrespondenz mit/auf Postkarten wird in der Black-Box-Phase der 70er Jahre weitgehend eingestellt.
- Zu Beginn der 80er Jahre sind Postkarten häufig der Ort für Ideennotate, Konzepte.
- 1985 "mail art! ein manifest".
- 1986 ff. das "Kunst & Kompostkarten"-Projekt, zusammen mit Wolfgang Ehehalt, mit inzwischen fast 2000 Karten.
- 1989 Beginn der Korrespondenz mit Ulrike Gauss ["Atelier & und Konzeptkarten"], bis 1992 täglich.
b) Ausstellung
Wände
A) Reinhard Döhl / Wolfgang Ehehalt: Die Kunst & Kompostkarten.
B) Reinhard Döhl / Ulrike Gauss: Aus den Atelier & Konzeptkarten.
C) PostkartenBilder.
- Catacomba 1 (aus: RomSiebensachen).
- Catacomba 2 (aus: RomSiebensachen).
- Fragment für ein Ziegelsteinfragment aus den Caracalla- Thermen (aus: RomSiebensachen).
- Manifesto (aus: RomSiebensachen).
- Die anderen Titel wie angegeben! [Titel auf den diversen Umschlägen.]
Vitrinen
1. Dialoge I / Anfänge / Diverses.
Korrespondenten: Ermut Bramke, Hans Brög, Siegfried Cremer, Wil Frenken, Dieter Göltenboth, Jiri Kolar, G.C. Kirchberger, Franz Mon, Diter Rot, Werner Schreib, Karel Trinkewitz.
2. Dialoge II / Das Else-Lasker-Schüler-Projekt.
Korrespondenten: Susanne Frenken, Ilse Garnier, Bohumila Grögerová, Wolfgang Ehehalt, Wil Frenken, Johannes Zagrosek u.a.
3) Dialoge III / Japan und China.
Korrespondenten: Chong Li Bai, Li Wen Bai, Hiroo Kamimura, Kei und Syun Suzuki.
4) Dialoge IV / Polen / Tschechische Republik / Ungarn.
Korrespondenten: Bohumila Grögerová, Ewa Szenfeld, Josef Hiršal.
5) Dialoge V / Frankreich.
Korrespondenten: Ilse und Pierre Garnier.
6) Dialoge VI / Diverses.
Korrespondenten: Isa Dahl, Barbara Wichelhaus, Hans Brög.
7) Dialoge VII / Mail Music.
Korrespondent: Johannes Zagrosek.
8) Fortführungen.
Korrespondenten: Dörte Döhl, Susanne Frenken, Ulrike Müller-Herancourt, Hans Brög u.a.
c) Eröffnung
Hannelore Jouly: Mail Art. Reinhard Döhl und Freunde
Wie bitte, stellt man 2500 Postkarten aus? Die Frage bewegt uns seit einem Jahr. 2500 Postkarten, jede ist 104 mm breit und 162 mm lang, hat eine Vorderseite und eine Rückseite.
Wir dachten daran, die Karten zu Wegen durchs Palais zu legen, Lebensspuren gleich, sie - bedeutungsschwer - zu Bergen zu stapeln, oder aus ihnen Wurfsendungen zu machen, Vergänglichkeit zelebrierend.
Sicher wußten wir nur eins: Wir wollen diese Postkarten, Mailart von Reinhard Döhl seit den 60er Jahren, zeigen. Von Döhl, der Wissenschaftler ist, Künstler, Schriftsteller, der in Stuttgart lebt und in der ganzen Welt, der Teil der Stuttgarter Schule ist und sich als Botnanger immer wieder an den Grenzen der Stadt stößt.
Heute können Sie sich umschauen, wie aus 2500 Postkarten in dieser Ausstellung Bildfriese entstanden, Zeitfriese, Ideenfriese, witzig und wütend, poetisch und frech, geschrieben und gemalt, collagiert und immer wieder collagiert.
Im Foyer hängt die Kollektion der Grafischen Sammlung [korr. aus: Staatsgalerie]. 1989 bis 1992 schrieb Döhl an Ulrike Gauss Tag um Tag eine Postkarte. Die Kette der Botschaften, Notizen, Gedanken, Impressionen können Sie in der Chronologie des Entstehungsprozesses verfolgen.
Im Treppenhaus sehen Sie Korrespondenzreihen, an Wolfgang Ehehalt gerichtet, in Kunststoff geschweißt. Vorsichtig werden diese Karten im Luftzug bewegt, vorsichtig, denn hier zeigen sich die Karten auch von ihrer möglicherweise intimen Seite. Man kann sie lesen und tut es auch - so wie man verschämt fremde Post liest.
Bei der Präsentation im 1. Obergeschoß wurden die Karten bewußt aus der Chronologie genommen und zu Bildern gelegt, Ein neuer Blick auf eine neue Variante des riesengroßen dialogischen Kartenspiels.
Dialog, das ist eine zentrale Idee im Schaffen von Reinhard Döhl. Döhl sucht den Dialog heftig und unermüdlich, er sucht ihn auf der ganzen Welt, auf allen Ebenen, in allen Medien, von der Postkarte zum Internet. Er stiftet zu Gemeinschaftsproduktionen an, wo es möglich ist und auch wo es nicht möglich ist.
Lassen Sie sich einfädeln in Kettengedichte oder schreiben Sie mit an Döhls und unseren Internetskulpturen zu Gertrude Stein und Helmut Heißenbüttel.
Zunächst aber mögen Sie bestimmt durch die Ausstellung spazieren, die komponiert wurde von unserer Ausstellungsleiterin Gabriele Ott-Osterwold mit ihrem Team und natürlich Reinhard Döhl.
Sie werden künstlerische Dialoge entdecken und dialogische Kunst. Wird das ästhetische Spiel gewinnen? Die Frage stellt sich. Sie sind eingeladen, eine Antwort zu finden. Schicken Sie uns Ihre Postkarte oder eine e.mail. Erste Post ist schon da...
Zur weiteren Inspiration hören Sie nun "Dialoge oder das Stuttgarter kleine Kartenspiel" von und mit Reinhard Döhl. Ich wünsche Ihnen dialogische Vergnügen.
[Wilhelmspalais Stuttgart, 4. September 1996]

d) Das Spiel
Reinhard Döhl: Dialoge oder Das Stuttgarter Kleine Kartenspiel
Während auf den Fildern ein Mann, der aussieht wie Deyle, mit Eyle alles auf eine Karte setzt, kommt Bleyle in der Korrespondenz eines Mannes, der aussieht wie Wolfgang Ehehalt, nurmehr als Unterwäsche vor.
Du hast vergessen, den Veyle anzusetzen,
sagt er zu einem Mann, der aussieht wie Reinhard Döhl.
Du meinst, die Feile anzusetzen,
verbessert der Mann, der aussieht wie Reinhard Döhl, während seine Gedanken ein wenig ins Filderkraut schießen.
Aber der Mann, der aussieht wie Wolfgang Ehehalt besteht auf dem Veyle.
Was hat das mit Kunst zu tun?
fragt der Mann, dessen Gedanken jetzt stärker ins Filderkraut schießen.
Kompost,
sagt der Mann, der auf dem Veyle besteht,
Kunst & Kompost.
Aber, lieber Wolfgang,
sagt der Mann, der aussieht wie Reinhard Döhl,
wenn du mich fragst, so zwischen Neckar und Nesenbach...
Lieber Reinhard,
unterbricht der Mann, der aussieht wie Wolfgang Ehehalt,
ich frage dich aber nicht, auch zwischen Wald und Reben...
Zwischen Mülldeponie und Kompostprinzip,
wirft ein Mann ein, der aussieht wie Detlev Claussen, und bringt den Kehrichthaufen der Geschichte in Anschlag.
Doch da ist der Mann, der aussieht wie Wolfgang Ehehalt, bereits dem Wildhüter in der Bergeinsamkeit des Monte Scherbelino begegnet, sind dem Mann, der aussieht wie Reinhard Döhl, die Gedanken vollends in Filderkraut geschossen, sind in einem Stadtteil, der aussieht wie Möhringen, die Karten längst auf den Tisch gelegt.
Man muß die Kartenhäuser feiern wie sie fallen,
sagt ein Mann, der aussieht wie der sprichwörtliche Ballhorn ausgesehen haben soll.
Und während in der Weltstadt des Musicalhowls die großen und die kleinen Kartenhäuser einstürzen,
Einstürzende Neubauten,
meldet sich die Stimme von Südfunk Drei aus dem Off zu Wort, während in der Weltstadt der Musicalhalls die großen und die kleinen Kartenhäuser einstürzen, zeigt der Mann, der aussieht, wie der sprichwörtliche Ballhorn ausgesehen haben soll, den Kartenabreißern der heimlichen Weltstadt des Sports die gelbe und die rote Karte.
Das muß man sich ausmalen,
sagt ein Mann, der von ferne an den Erfinder des Dächles erinnert,
gelbrot und die anderen Grundfarben,
sagt er.
Aber auf diesem Auge waren Nesenbachmayer und der Vorstopper der hiesigen Finanzen immer schon farbenblind.
Das ist ein zu weites Feld, und überhaupt,
sagen sie,
Daimlerstadion hin, Dinkelacker her und überhaupt,
sagen sie,
sticht diese Karte nicht.
Man sollte niemals alles auf eine Karte setzen,
wiederholt der Mann, der aussieht, wie der sprichwörtliche Ballhorn ausgesehen haben soll, und beginnt aufzuzählen
das Kartenbild
des Kartenblatts
dem Kartenblock
den Kartenbrief
die Kartengitter
der Kartengrüße
den Kartenkünstlern
die Kartenhäuser
der Kartenleger
des Kartenlesers
dem Kartenlocher
das Kartennetz
die Kartenposten
der Kartenräume
den Kartenschlägern
die Kartenskizzen
das Kartenspiel
des Kartenständers
dem Kartentisch
das Kartenwerk
die Kartenzimmer
der Kartenzimmer
den Kartenzimmern
die Kartenzimmer.
Da capo al fine,
verlangt ein Mann, der aussieht wie Johannes Zagrosek, und entlockt seinem Cello einen unreinen Ton.
Darmseite ist Darmseite,
entschuldigt er sich und verlangt endlich eine Partitur nach der neuen Rechtschreibung.
Karte ist Karte,
bietet ein Dienstleistungsunternehmen an, dessen Dienstleistungen und Preise so aussehen, daß sie der Deutschen Post ähnlich sehen, und läßt Karte für Karte durch die Frankiermaschinen schlüpfen.
Miss Saigon,
drucken die Frankiermaschinen links neben die Briefmarke und über die Adresse.
Aber so sehe ich doch gar nicht aus,
entsetzt sich eine Frau, die aussieht, wie Bohumila Grögerová ausgesehen hat, als sie den Josef Hiršal kennen lernte.
Überhaupt war das früher ganz anders,
fügt der Mann hinzu, der aussieht wie der Mann, den die Frau, die aussieht wie Bohumila Grögerová, als Josef Hiršal kennen lernte.
Da saß zum Beispiel,
sagt der Mann der aussieht wie der Mann, der undsoweiter,
da saß zum Beispiel neben einem Kartenleger ein Kartenschläger in einem Kartenzimmer an einem Kartentisch und schlug einen Kartenstempel  auf die Kartenpost.
Auf die Postkarten,
verbessert die Frau, die aussieht wie die Frau, die undsoweiter.
Hagaki o gomai kudasai,
verlangt ein Mann, der aussieht wie Hiroo Kamimura,
Tomodachi ni hagakio dashimashita.
Ich habe keine Wohnung, bloß ein Postfach,
antwortet der Freund, der aussah, wie Günter Eich ausgesehen hat,
Besuch mich da.
Kono hen de wa, ichi-nichi ni nikai yûbin ga haitatsu saremasu,
schreibt der Mann der aussieht wie Hiroo Kamimura.
Hornissen sind selten,
antwortet der Freund, der aussah, wie Günter Eich ausgesehen hat,
aber in meinem Postfach nisten sie. Sie sind pflaumengroß und gutmütig und rascheln in alten Briefen.
Alles ist relativ,
erklärt ein Mann, der aussieht wie Hans Brög, wobei er das Mittelalter in Mitte und Alter halbiert.
Einstein niest nie,
schüttelt sich ein Mann, der aussieht wie Pierre Garnier, während eine Frau, die aussieht wie Ilse Garnier, dazu Stuttgarter Zwiebeln reicht, die wie Erdbeeren aussehen.
Pomme, pompier, Pompidou,
spielt sie
aux petits oignons
einen Zwischenfall vor dem Beaubourg an.
Damals muß auch der große Stuttgarter Apfel- und Birnenkrieg begonnen haben,
vermutet ein Mann, der aussieht wie Johannes Auer, und verschwindet wieder im Internet.
Birne ragt gen Ozean,
schlägt der Mann vor, der aussieht wie Reinhard Döhl.
Birnen sind eine Sache des Aberglaubens,
entgegnet eine Frau, die aussieht wie Barbara Wichelhaus,
während Äpfel mehr im Mythos vorkommen.
Ein Apfel kommt selten allein,
widerspricht der Mann, der aussieht wie Reinhard Döhl.
Aber du bist im Alphabet nur bis Wurm gekommen,
rechnet ein Löffelholz nach, das aussieht wie Franz Mon, oder ist es umgekehrt.
A loose cannon cannot cant a can of worms,
souffliert ein Mann, der aussah wie der berühmte Tim Finnigan aus der Walker Street,
No way coming out.
Ätsch Ätsch,
entlacht sich ein Chlebnikist -
Ora smetis,
korrigiert lächelnd die Frau, die immer noch aussieht wie Bohumila Grögerová, aber der Chlebnikist, der aussieht wie Wil Frenken, besteht auf seinem großen HaHa,
Was im Japanischen bekanntlich meine Mutter heißt,
merkt der Mann an, der immer noch aussieht wie Hiroo Kamimura.
Da capo,
ruft der Mann, der immer noch aussieht wie Johannes Zagrosek, und läßt seinem Cello einen unreinen Ton entfahren.
Deine Partitur,
fügt er für den Mann, der noch immer aussieht wie Reinhard Döhl, hinzu:
Deine Partitur...
Doch der Mann, der noch immer aussieht wie Reinhard Döhl, ist längst nach Prag geflüchtet.
sníst,
teilt er einer Freundin, die aussieht wie Ewa Szenfeld, mit,
sníst
snít
sníst
snít
sníst
snít
snídat s ní
s ní si dát.
Das verstehe ich zwar nicht,
erklärt die Freundin, die wie Ewa Szenfeld aussieht,
aber ich habe schon immer gesagt, daß ich mit Dir erst ausreiße, wenn Du viel Geld hast.
Ich brauche dringend ein Atelier,
kartet eine ehemalige Studentin, die aussieht wie Isa Dahl, aus Florenz nach, was die Hunde eines ehemaligen Studenten, der aussieht wie Daniel Wagenblast, verdreifacht, worauf eine Frau, die aussieht wie Ulrike Müller-Herancourt, in großer Sorge um ihre belämmerten Ziegen, nach einem Ziegenpeter ruft und der Fernsehturm von einem Mann, der aussieht wie Diter Rot, mit roter Tarnfarbe angestrichen wird.
Es gibt nur rote Geheimnisse in der Welt,
zitiert ein Mann der aussah wie der große Max.
Gott raucht nicht
er braucht Pudding,
versichert ein Mann, der aussah wie Werner Schreib, obwohl er seine Karten auch mit Adolph Strauch, Adolf von Menzel oder Errnes Wichbar unterschrieb.
Man sollte,
meldet sich noch einmal der Mann, der aussieht, wie der große Ballhorn ausgesehen haben soll, zu Wort,
man sollte wirklich nicht alles auf Deyles Karten setzen.
Warum läßt Du Dir nicht in die Karten schauen,
fragt ein Freund, der aussieht wie Siegfried Cremer auf dem Jakobsweg. Und er meint nicht den Mann, der aussieht, wie der große Ballhorn ausgesehen haben soll.
Er hat seine Karten doch alle auf den Tisch gelegt,
sagt ein Frau, die aussieht wie Ulrike Rickele Gauss. Und auch sie spricht nicht von dem Mann, der aussieht, wie der große Ballhorn ausgesehen haben soll.
Er hat doch,
wiederholt sie,
das ganze Kartenspiel mit seinen Freunden aufgedeckt.
Der Ursprung der Spielkarten,
schreibt das deutsche Wörterbuch des Aberglaubens,
ist gänzlich unbekannt und bedarf noch sehr der Aufhellung. Angeblich stammen sie aus China.
So ist es,
sagt ein Mann, der aussieht wie Chong Li Bai,
schließlich haben wir auch den Siebdruck erfunden.
Wobei ihm eine Frau, die aussieht wie LiLi und eigentlich Li Wen Bai heißt, freundlich zunickt.
Wann kommst Du endlich,
schreibt sie dem Mann, der auch jetzt noch aussieht wie Reinhard Döhl,
wann kommst Du endlich als Postkarte nach Beijing. Wir werden bestimmt großen Spaß miteinander, wir werden auch eine kleine Ausstellung zusammen haben.
Und während auf den Fildern alles auf eine Karte gesetzt wird, während zwischen Wald und Reben die alten Kartenhäuser des Partners der Welt in sich zusammenfallen, werden im Wilhelmspalais aus Landkarten Postkarten, wird aus Postkarten ein Kartenspiel, werden Bücherwürmer und Internetsurfer zu Kartenlesern, wird eine Frau, die aussieht wie Frau Ott-Osterwold, zur Kartenschlägerin und eine Madame, die aussieht wie Madame Jouly, zur Kartenlegerin, wird aus dem Wilhelmspalais ein futuristischer Leses@lon und ein neues Kartenhaus.
e) Ausstellungskritik
Irene Ferchl: Alles auf eine Karte gesetzt
Zwei Ausstellungen mit Mail Art in Stuttgart und Weil der Stadt
Mail Art kann man definieren als eine Kunst die es in Kauf nimmt, daß die Post sie bei der Beförderung verändert, zumindest einen Stempel aufdrückt, wenn nicht sogar stärkere Transportspuren hinterläßt. Fast immer ist auch das Format A6 vorgegeben und damit auch Zweiseitigkeit: die Ansichtsseite vorne und die für schriftliche Mitteilungen. für Anschrift, Absender, Briefmarke reservierte Rückseite. Wenn in diesen Tagen gleich zwei Mail-Art-Ausstellungen eröffnet wurden (und eine dritte mit dem Aspekt politischer Opposition als versandfähiger Subversivität in Schwerin, siehe StZ vom 28. August), dann ist das Zufall. Man wußte in Stuttgart und Weil der Stadt nicht voneinander. Umso aufschlußreicher ist der Vergleich: Nach Betrachtung der weit mehr als dreitausend Kunststücke weiß man zumindest, wie unglaublich vielfältig auf dem Poskartenformat gearbeitet werden kann.
Reinhard Döhl, der Stuttgarter Literaturprofessor, Autor und Künstler, beschäftigt sich seit Ende der fünfziger Jahre mit Karten. Er bewunderte zunächst Künstlerpostkarten (wie sie zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler hin- und hergingen) und klebte selbst Collagen in diesem, für Studentenbudenschreibtische äußerst praktischen Format. Von 1962 datiert sein Text über Ansichtskarten. in dem es heißt: "In meinem Karteikasten sammeln sich die Ansichten der ganzen Welt die sie beschreiben" oder "Sie bezeichnen eine Welt, die es sonst auf der Welt nicht gibt. Die es nirgendwo auf der Welt mehr gibt. Und die gezeigte Welt ist jedesmal eine andere." Es ist die Zeit, in der Mail Art ihren Einzug in internationale Kunstwelt hält.
In Döhls umfangreichem Kartenwerk, aus dem die Stadtbücherei im Wilhelmspalais jetzt rund zweitausendfünfhundert Exemplare vorstellt, entstehen zuerst Einzelstücke als Skizzen und Bildideen zur (kultur)politischen Auseinandersetzung, später ganze Serien, Ensembles und sogar komponierte Postkartenbilder aus Vorlagen von Oskar Schlemmer und Max Ernst. Karten dienen als Reiseerinnerung (wie die "Romsiebensachen") sowie als Medium zur Diskussion ästhetischer Fragen, um Projekte in die Wege zu leiten. Der dialogische Aspekt wird immer offensichtlicher, ist unübersehbar in der Korrespondenz mit Ulrike Gauss, der Döhl zwischen 1989 und 1992 täglich Karten sendet, mit Wolfgang Ehehalt ("Kunst & Kompostkarten Projekt") und den Künstlerfreunden in Japan, Frankreich und der Tschechischen Republik. In den achtziger und neunziger Jahren sind diese Arbeiten gelegentlich ausgestellt worden (zuletzt bei Buch Julius zu Else Lasker-Schüler), aber noch nie in dieser schier unübersehbaren Menge und in allen erdenklichen Variationen.
Wie präsentiert man Postkarten in einer solchen Anzahl? Sie im Stapel, im Karteikasten zum Durchblättern oder als Wurfsendung. zu zeigen, verbietet sich bei Kunst von selbst. Die einfachste Lösung, sie in Rahmen oder Vitrinen zu stecken, bedeutet, nur die Schauseite zeigen zu können. Betrachterfreundlicher ist es, die Karten eingeschweißt in Klarsichtfolie, wie Vorhänge ins Treppenhaus zu hängen, wo sie leise, ihrer Postkartenhaftigkeit entkleidet, schwingen und Döhls feine schräge Schrift, akkurat und immer ein bißchen nach unten kippend, gut lesbar werden lassen. - In ihrer Einführung betonte Hannelore Jouly, die Leiterin der Stadtbücherei, das Dialogische der Döhlschen Kunst. Ob mit der Mail Art, ob mit seinen Hörspielen. ob mit der poetischen Korrespondenz zum Japan-Festival oder seit neuem im Internet - Döhl stifte zur Kommunikation an. Um dies zu untermauern, trug er zur Eröffnung einen Text vor, der so witzig, sprachverspielt und hintergründig wie seine Postkarten Stadt und Leute aufs Korn nimmt. Sein Titel: "Das Stuttgarter kleine Kartenspiel".[...]
"Dialoge. Mail Art. Reinhard Döhl und Freunde" bis zum 26. Oktober in der Stuttgarter Stadtbücherei, Montag bis Freitag 11 bis 19 Uhr, Samstag 10 bis 16 Uhr. Am Mittwoch, 9. Oktober, spricht Reinhard Döhl um 19 Uhr über "Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst".
[Stuttgarter Zeitung 11.9.1996]

Reinhard Döhl: Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst.
[...] Weniger offensichtlich und meist nur einseitig stellt sich ein dritter komplexer Künstlerdialog der damaligen Jahre dar: die Korrespondenz zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler. Dieser Dialog beginnt im August 1912 mit einem Holzschnitt Franz Marcs zu Else Lasker-Schülers Gedicht "Versöhnung". Im Dezember präsentiert dann der blaue Reiter in einem ersten Brief an die Dichterin ihrer Hoheit sein blaues Pferd . Das war zugleich die erste der bis heute fast ausschließlich bekannten "Botschaften an den Prinzen Jussuf", die auf Seiten Else Lasker-Schülers eine intensive Reaktion auslösten, sowohl in Form zahlreicher illustrierter Briefe als auch Zeichnungen und Postkarten, wobei Zeichnung und Text ikonographisch von beiden Partnern so sehr aufeinander bezogen werden, daß sich ihr halb realer, halb fiktiver Dialog erst dann ganz erschließt, wenn man seine Sequenzen alles in allem nimmt.
Auf einer Postkarte Marcs vom 21. Mai 1913, einem "Bild aus Jussufs Friedenszeiten", interessiert mich dabei vor allem das in den Baum eingeschnittene Herz, ein mehr als triviales ikonographisches Element, dem man erst dann hinter den Sinn kommt, wenn man weiß, daß Else Lasker-Schüler den Gesichtern ihrer gezeichneten Figuren gerne einen Stern oder eine Rose oder auch ein Herz applizierte. Und zweitens, daß Marc Else Lasker-Schüler kennen lernte, als ihre Ehe mit Herwarth Walden auseinanderging, was in zahlreichen fiktiven Briefen, Postkarten und Telegrammen Else Lasker-Schülers an Herwarth Walden und seinen Freund Kurt Neimann ihren Niederschlag fand, die zum Teil im "Sturm" als "Briefe nach Norwegen", dann in Buchform unter dem Titel "Mein Herz. Ein Roman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen" veröffentlicht wurden. Dieser Titel wiederum verweist mehrdeutig nicht nur auf die psychische Verletzung, sondern zugleich auf eine längerwierige physische Herzschwäche Else Lasker Schülers, die damals von Alfred Döblin unter anderem mit Opiaten behandelt werden mußte. Das alles war Marc natürlich geläufig, als er dem Baum seiner Postkarte ein Herz einschrieb.
Daß Else Lasker-Schüler diese Einschrift durchaus verstanden hatte, zeigt eine nicht genau datierbare Zeichnung wahrscheinlich aus dem Jahre 1915, deren Zuschrift lautet: Jussuf erhängte sich, jedoch die Thebaner glaubten, Ossman habe ihn - auf sein Geheiß - erschlagen.
Konkret nimmt diese Zuschrift den Schluß der "Kaisergeschichte" "Der Malik" vorweg, an deren Ende sich der schon seit langer Zeit schwermütige Jussuf erhängt. Else Lasker-Schüler hat aber auch den Kriegstod Franz Marcs in diese "Kaisergeschichte" verwoben, indem die Stadt [...] von den heimkehrenden kaiserlichen Knaben erfährt, daß auch Ruben tot sei, gefallen des Maliks teurer Halbbruder, der blaue Reiter von Kana. Und sie hat ihr Buch Meinem unvergeßlichen Franz Marc / DEM BLAUEN REITER / in Ewigkeit gewidmet.
Gegen Ende des Romans, in dem sich Jussuf allerdings, anders als auf der Zeichnung, im Palast (!) erhängt, steigt Jussuf auf den Birkenhügel, der traurigste Mensch in Theben. In ihren Zweigen schlummerte die Seele der Königin mit den goldenen Flügeln, darum er den holden Baum nicht fällen wollte. [...] In den Stamm des Baumes schnitt er ein blaues Herz und unter ihm seine geliebte Stadt Tiba.
Das blaue Herz, Blau war die Lieblingsfarbe Else Lasker-Schülers, in ihrer mit schwarzer und farbiger Kreide überarbeiteten Federzeichnung von 1915 identifiziert gleichsam das von Marc anspielungsreich zitierte Herz als Mein Herz. Das über ihm eingezeichnete Theben, das sich als Hintergrund der Zeichnung ein weiteres Mal andeutet, zitiert die Stadt, in der sich der blaue Reiter und Prinz Jussuf begegnet sind, den fiktiven Ort, vor/in dem ihr wechselseitiger Dialog stattfand.
[1955 haben haben wir anläßlich ihres 50. Todestages mit Bezug auf diesen Dialog eine internationale mail art-Aktion und -Ausstellung, "Der blaue Reiter ist gefallen, der blaue Reiter ist angelangt", veranstaltet, zu der auch gemeinsame und individuelle literarische Beiträge, u.a. "mein herz ist eine traurige zeit, die tonlos tickt" und im weiteren Sinne das Konversationsstück "morgen war gestern" (s.u.) gehörten.]
[...]Für die folgenden Beispiele, mit denen zugleich der Bogen zur Gegenwart geschlagen werden soll, darf ich wiederholen, daß sich aus der Anlage des Stuttgarter Gruppenunternehmens internationale Kontakte ergaben, die bis heute Bestand haben. Diese Kontakte erhielten sich unter anderem durch eine in den 60er Jahren einsetzende, seit den 80er Jahren immer intensivere mail art, eine Korrespondenz mit individuell gestalteten Postkarten, auf denen und mit Hilfe derer ästhetische Konzepte, Ideen, Programme diskutiert oder auch nur Grüße ausgetauscht wurden und werden mit Partnern vor allem in Japan, Frankreich, der tschechischen Republik, aber auch der Volksrepublik China, Finnland, Polen und natürlich Deutschland.
Die Vielfalt dessen, was sich auf diesem Wege austauschen läßt, haben 1989 eine Ausstellung der Kunst&Kompostkarten von Wolfgang Ehehalt und mir in der Galerie Folkmar von Kolczynski, 1995 die "Postkarten zu Else Lasker Schüler" in der Galerie Buch Julius angedeutet. Wobei ich ergänze, daß die Galerie Buch Julius auch sonst mit Ausstellungen von Arbeiten Max Benses, Carlfriedrich Claus', Wil und Susanne Frenkens, Ilse und Pierre Garniers, mit je einer Ausstellung japanischer und tschechischer Künstler nicht nur das Umfeld, sondern auch die internationale Eingebundenheit der Stuttgarter Gruppe/Schule wiederholt in Erinnerung gebracht hat. In welchem Umfang dieser meist von Stuttgart ausgehende Dialog in Wirklichkeit geführt wurde und immer noch wird, demonstrierte Ausstellung "mail art - Reinhard Döhl und Freunde" 1996 im Wilhelmspalais mit mehr als 2500 Exponaten aus über 30 Jahren.
Aus diesem dialogischen Netzwerk der mail art und seiner vielfältigen Möglichkeiten möchte ich lediglich ein Beispiel herausgreifen: die Genese einer gemeinsamen Komposition, der "californian sonata", zunächst auf dem Postweg.
1994 schickte ich an den Cellisten Johannes Zagrosek, der seit Jahren schon grafische, oft nur postkartengroße Partituren von mir realisiert, das Konzept einer Sonate, wobei die Bildseiten den ungefähren Verlauf skizzierten, die Textseiten zum Teil recht genaue Angaben zu den Tönen, den musikalischen Zitaten, zum Teil aber auch freundschaftlichen Unsinn enthielten. Der Titel erklärt sich aus der Tatsache, daß Kalifornien sowohl in der Biographie Gertrude Steins wie John Cages, der sehr früh bereits Texte Gertrude Steins 'vertont' hatte, eine gewichtige Rolle spielt. Ich zitiere die Textseiten:
Lieber Johannes, außer der chamber music hab ich mir und dir noch eine "Californian Sonata" ("concord", vgl. Ch. Ives) konzipiert. Dies wäre schon einmal der Baßschlüssel. Den Rest gibt's in Fortsetzungen. [...] / [...] eigentlich hatte ich gedacht, Du würdest vor Neugier platzen. - Wohlan denn: Satz 1, 1. Thema: h a e es a g es e. Eigentlich ganz harmonisch! [...] / [...] das 2. Thema geht dann so: e h a d d e h. Nicht ganz so harmonisch aber auch nicht schlecht. Jedenfalls auf dem Spinett. [...] / [...] jetzt müssen natürlich beide Themen nach bester 12Tonmanier durchgearbeitet werden. Die Umkehrung und der Krebs sind wichtig. Wenn das nicht Händel gibt! [...] / [...] der zweite Satz beginnt damit, daß Franz Elise eine alte Krampfhenne nennt und eine Winterreise antritt, Ludwig van ihm die schöne Müllerin ausspannt. Naja [...] / [...] hab' ich Dir eigentlich die beiden Themen des ersten Satzes, den ich übrigens 6:2 gegen Steffi Graf gewonnen habe, schon mitgeteilt? Clara war unpäßlich und Brahms ziemlich verbittert. Achja [...]
[...] also Deine Feuerwerksmusik kam bei uns nurmehr als Krach an. Die Spülung betätigend haben wir mit einer Wassermusik geantwortet, nur Lindpaintner war nicht einverstanden, Ende des 2. Satzes! [...] / [..] die freundliche Einladung ist Grund, Dir einen weiteren Satz der Sonate zu schicken. Übrigens ein paar Töne oder Laut dürftest Du schon einmal wegen dieser welterschüt- [...] / [...] ff. ternden Komposition (von Dir) geben. In ihrem dritten Satz (hasta la vista) geht es zwar nicht über Stock und Stein, auch solltest Du ihn nicht vierhändig mit Stockhausen auf einem Steinway - aber [...] / [...] Du solltest Dich nicht nur oberhalb sondern auch unterhalb des Steges aufhalten; & gelegentlich auch Zumsteeg (1760-1802 eben u. auch ein Johann) just on the road, stone-way eben [...] / [...] der 17. ist genauso geeignet wie der 13., mit dem 4. Satz: scherzo fundamentale: zu beginnen. Er besteht hauptsächlich aus Klopfzeichen auf dem ff. [...] / [...] ff. Celloboden (das Instrument ist also verso zu traktieren (mit einigen Zwischengriffen recto) was mich auf rektal und die Frage bringt, warum der Mastdarm beim Cello ff. [...] / [...] ff. vorn ist? Oder ist vorne beim Cello hinten: Wie auch immer, im vierten Satz hast Du vor allem Klopfzeichen zu geben und wenig zu streichen, was sagen soll, daß der 4. Satz nicht gestrichen wird. Alternatives pizz[icato] und Zupfgeigenhansl ad lib. [...] / [...] jetzt sollten wir uns so langsam an den letzten Satz machen, der natürlich auf dem Grundton de basiert und zunächst mit de dis de des de dis de des das Auf und Ab unserer Wer- [...] / [...] ff. keltagswelt so recht zu Gehör und vor die Ohren bringt und stellt. Danach hast Du die Wahl, ob Du zu des ce ha / ce des ce ha absteigen oder Dich schon zu dis e ef e dis usw. aufschwingen willst. Um jedes Mißverständ- [...] / [...] ff. nis auszuschließen: ich gehe immer noch davon aus, daß Du meine Dir gewidmete oder doch zugedachte Komposition auch aufführst mit Pfeil u. Bogen, Stumpf und Stil (!) minor et major [...] / [...] ich sehe gerade, daß ich Dir den letzten Satz noch nicht auf die Post gegeben habe. So füge ich rasch die Coda noch bei und Du kannst Dir das Ganze jetzt hinter den Spiegel stecken oder einrahmen. Herzliche Grüße auch an Betty, Dein Reinhard.
Nach einer ersten Aufführung 1994 im Max-Bense-Saal des Wilhelmspalais' haben Johannes Zagrosek und ich die Realisation diskutiert, was zu einer zweiten Version führte, die 1996 im Rahmen des Gertrude-Stein-Abschlußprogramms in der neuen Musikhochschule aufgeführt und dem Fernsehbericht darüber als Musik unterlegt wurde.
Mein vorletztes Beispiel ist eine "Poetische Korrespondenz" in der Tradition des japanischen, Renga bzw. Renshi genannten Kettengedichts, an dem mehrere Personen beteiligt sind; im konkreten Fall Bohumila Grögerová und Josef Hiršal aus Prag, Ilse und Pierre Garnier aus Paris bzw. Amiens, Yüksel Pazarkaya aus Istanbul bzw. Bergisch Gladbach, Hiroo Kamimura und Syun Suzuki aus Japan und ich.
Anfang April 1995 wurden von der Volkshochschule Stuttgart an die genannten Autoren Briefe geschickt, in denen 8 Ketten so festgelegt waren, daß jeder der Beteiligten eine der Ketten beginnen, eine zweite schließen und daß, im Umlauf der Ketten, jeder auf jeden Korrespondenten einmal reagieren mußte. Am 31. Mai 1995 war die letzte der 8 Ketten geschlossen. Für eine abschließende 9. Kette wurden dann 5 weitere Kurzgedichte in Ober- und Unterstophe getrennt und zur Vervollständigung so verteilt, daß jeder der beteiligten Sprachen mit jeder anderen in einem Kurzgedicht zusammenklingen mußte. Musikalisch gesprochen besteht also die "Poetische Korrespondenz" aus 8 (thematischen) Durchführungen und einer Engführung.
Ausgangspunkt für jede Kette war ein auch für das Ganze als Motto vorgegebenes, programmatisch gedachtes Tanka Onoe Saishûs: Auf der nämlichen Erde / stehen die nämlichen Bäume zusammen. / Und auch am heutigen Tag / schlagen die nämlichen Blätter / raschelnd zusammen.
Auf dieses war also zunächst zu reagieren, wobei das erste Gedicht einer Kette in der Regel das Thema der Kette anschlug. Um möglichst viel Eigenes in die Beiträge einfließen zu lassen, waren die Korrespondenten angehalten, in ihrer eigenen Sprache zu schreiben und ihre Texte allenfalls mit einer Rohübersetzung zu versehen. Diese Bedingung war uns wichtig, weil es so möglich wurde, die unterschiedlichen Sprachstrukturen des Japanischen, Türkischen, Tschechischen, Französischen und Deutschen mit- und gegeneinander zum Klingen zu bringen.
Ich verweise zunächst auf den einzelnen Ketten zugehörigen, sie thematisch bündelnden Kanji eines weiteren japanischen Freundes, des Sho-Meisters Kei Suzuki, mit dem ich seit 1987 wiederholt zusammen experimentiert, gearbeitet und auch ausgestellt habe. Diese Kanjis bedeuten in der gezeigten Reihenfolge Ulme, Schweigen, Blatt, Vogel, Leben und Sterben, Spiegel, Sein. Das letzte Zeichen lautet henkô und bedeutet Änderung, Veränderung. Es ist Kei Suzukis Zusammenfassung der 8. Kette, die ich als Beispiel in deutscher Übersetzung zitieren darf:
Am gleichen Himmel / gepunzt das gleiche Gesicht. / Gestern wie heute / zwinkert das gleiche Gesicht / im Mondlicht, bei Sonnenschein. / (Yüksel)
Schaut man nach oben / werden am gleichen Himmel / die gleichen Sterne / untereinander sprechen / im Osten wie im Westen. / (Hiroo)
Weit und breit unter / dem Himmel von West nach / Ost unter den ewig / nämlichen Sternen findest / du keinen festen Punkt. / (Josef)
Über den Himmel / eine lange strahlende / Spur ziehend, fiel ein / heller Stern hinter den Berg. / Heute wollen wir leben! / (Syun)
Seit ich Chlebnikov / unter dem Hundsstern getroffen / habe, spreche ich / die Sternensprache, zas für / uzas, mache ich Fortschritte. / (Reinhard)
Wie Chlebnikov sich / der Poesie verschreibend? / Wagst du, meine Freundin, / mit einem Sack von Versen / als Kopfkissen durch die Welt zu wandern? / (Bohumila)
Wenn du mit leichtem Gepäck / - einen Tropfen Tau, eine Sternschnuppe im Haar - / zu poetischen Horizonten wanderst, / vergiß nicht den Strauch, / der am Wegrand dorrt. / (Ilse)
So aber ist dieser / Augenblick, der endlich kommt: / das Leben ist erfüllt, / man scheidet aus der Geschichte / um in die Geographie einzutreten. / (Pierre).
Diese "Poetische", auch im Druck zugängliche "Korrespondenz" aus dem Jahre 1995 ist, wie ich ergänzen muß, nicht das erste und auch kein Einzelunternehmen dieser Art. Seit Anfang/Mitte der 80er Jahre hat es immer wieder einmal Versuche gegeben, die altehrwürdige japanische Form des gemeinsamen Kettengedichts zu erneuern [...]
[1996]


Mail Art. Döhl, Auer, Kieninger. Collages entre Stuttgart y Montevideo 1998.
Una exposición de postales. Montevideo, Instituto Goethe 14.-22. Diciembre.
[Eröffnungsausstellung im Rahmen des Tango-Projekts Montevideo-Stuttgart von Martina Kieninger]

Reinhard Döhl und Freunde:Mail Art (2)
Stadtbücherei Wildbad [31.3.-5.5.; verlängert bis 13.6.2000]
a) Zu den Kunst & Kompostkarten [Ankündigung]
Postkartengroße Formate im Spannungsfeld zwischen Typographie (vgl. die Folge Apfel/Birne/Blatt von 1965) und Collage spielen im künstlerischen Werk Reinhard Döhls seit 1959 eine größere Rolle. Zunächst Einzelstücke, selten kleinere Folgen, treten Döhls Kunstpostkarten Mitte der 60er Jahre zunehmend auch zu Ensembles zusammen. Zunächst fast ausschließlich mit Wolfgang Ehehalt, dann mit Ulrike Gauss hält Döhl auf dem Wege der mail art bald auch international Kontakt mit Künstlerfreunden in Japan, Frankreich, der Tschechischen Republik u.v.a.m.. Innerhalb seines bildkünstlerischen Werkes bilden die Kunst&Kompostkarten eine zentrale Konstante als Ort für erste Notizen, Bildideen, Skizzen, Entwürfe, aber auch (kultur)politische Auseinandersetzungen. Bei Reisen und längeren Auslandaufenthalten (vor allem Japan 1987 und 1996, Frankreich 1990, Italien 1992, Israel 1998/9) übernehmen sie zusätzlich die Funktion von Reisebericht und -tagebuch, spiegeln sie Eindrücke und berichten von Plänen, deren oft einzige Realisation sie sind.
[1999]
b) Katalog
Texte:
Joachim Kuolt: Anmerkungen zu Ausstellung und Katalog.
Aus: Ansichtskarten 2, 3, 6
Die Korrespondenzpartner
mail art. ein manifest
Abbildungen:
S. 1 Titelseite
Reinhard Döhl und Freunde / Mail Art
S. 2 oben
Reinhard Döhl, 1959 / Korrespondenzpartner
S. 2 unten
Aus: Ansichtskarten
S. 3
Text Joachim Kuolt
S. 4 oben
mail art. ein manifest
S. 4 unten
Reinhard Döhl, Anfang 60er Jahre
S. 5
Reinhard Döhl, 1972
S. 6 oben
Reinhard Döhl, 1975
S. 6 unten
Reinhard Döhl  Wolfgang Ehehalt, 1999
S. 7
Wolfgang Ehehalt Reinhard Döhl, 1998
S. 8 oben
Reinhard Döhl (San Francisco) Hiroo Kamimura (Mito), 1993
S. 8 Mitte
Hans Brög Reinhard Döhl, 1995
S. 8 unten
Reinhard Döhl Wolfgang Ehehalt, 1999
S. 9 oben
Reinhard Döhl (London) Luise Döhl, 1991
S. 9 unten links
Reinhard Döhl (Prag) Wolfgang Ehehalt, 1997
S. 9 unten rechts
Reinhard Döhl/Franz Mon (Wien) Wolfgang Ehehalt, 1998
S. 10 oben links
Reinhard Döhl Isa Dahl (Firenze), 1996
S. 10 oben rechts
Isa Dahl (Firenze) Reinhard Döhl , 1995
S. 10 unten
Wolfgang Ehehalt Reinhard Döhl (Senriyama), 1996
S. 11 oben
Wolfgang Ehehalt Reinhard Döhl (Senriyama) 1996
S. 11 unten links u. rechts
Reinhard Döhl (Senriyama) Wolfgang Ehehalt, 1996
S. 12 oben
Kei Suzuki (Tokyo) Reinhard Döhl, 1993
S. 12 unten links
Chong Li Bai (Peking) Reinhard Döhl, 1995
S. 12 unten rechts
Reinhard Döhl Hiroo Kamimura (Mito), 1995
S. 13 oben
Xiang Wen Bai (Toronto) Reinhard Döhl, 1995
S .13 Mitte
Reinhard Döhl Suyn Suzuki (Chiba), 1997
S. 13 unten
Li [LiLi] Wen Bai (Peking) Reinhard Döhl, 1996
S. 14 oben links
Hiroo Kamimura (Mito) Reinhard Döhl, 1993
S. 14 oben rechts
Ilse Garnier (Amiens) Reinhard Döhl, 1995
S. 14 unten
Heinz Hirscher Reinhard Döhl, 1997
S. 15 oben links
Barbara Wichelhaus Reinhard Döhl, 1995
S. 15 oben rechts
Reinhard Döhl, 1996
S. 15 unten
Johannes Auer Reinhard Döhl, 1999
S. 16 oben links
Barbara Wichelhaus Reinhard Döhl, 1996
S. 16 oben rechts
Pierre Garnier (Amiens) Reinhard Döhl, 1994
S. 16 unten
Susanne Frenken Reinhard Döhl, 1995
S. 17 oben rechts u. links
Wolfgang Ehehalt Reinhard Döhl, 1996
S. 17 unten rechts u. links
Wolfgang Ehehalt Reinhard Döhl 1997
S. 18 oben rechts u. links
Wolfgang Ehehalt Reinhard Döhl, 1991 Wolfgang Ehehalt, 1996
S. 18 unten rechts u. links
Reinhard Döhl Wolfgang Ehehalt, 1999
S. 19 oben
Reinhard Döhl (Paris) Ulrike Müller-Herancourt, 1996 oder 1997?
S. 19 unten links
Reinhard Döhl Wolfgang Ehehalt, 1997
S. 19 unten rechts
Reinhard Döhl Wolfgang Ehehalt, 1998
S. 20
Reinhard Döhl, Aus den Botnanger Annagrammen, 1995 ff.
S. 21 oben links
Reinhard Döhl Will Frenken, 1995
S. 21 oben rechts
Reinhard Döhl Buch Julius, 1994
S. 21 unten links u. rechts
Reinhard Döhl (Jerusalem) Wolfgang Ehehalt, 1999
S. 22 oben
Franz Mon Reinhard Döhl, 1995
S. 22 unten
Erdmut Bramke (Provence) Reinhard Döhl, 1989
S. 23 oben
Joachim Kuolt Reinhard Döhl, 1997
S. 23 unten links u. rechts
Reinhard Döhl Wolfgang Ehehalt, 1997
S. 24
Rückseite / Impressum
c) Einführende Anmerkungen zu Ausstellung und Katalog: Reinhard Döhl und Freunde: mail / art
Von Anfang an spielen Arbeiten im klassischen Postkartenformat eine bedeutende Rolle im bildkünstlerischen Werk von Reinhard Reinhard Döhl. Sein - zunächst überwiegend rezeptives - Interesse wurde geweckt, als der damalige Göttinger Germanistik-, Philosophie- und Geschichtsstudent im September 1958 von seinem Kommilitonen Hans-Heinrich Lieb eine Ausgabe von Franz Marcs Botschaften an den Prinzen Jussuf zum Geburtstag geschenkt bekam. Der hieraus entstehende Wunsch, solche Kunstpostkarten zu sammeln, die ihre erste Silbe auch tatsächlich verdienen, ließ sich erst einmal nicht erfüllen: was Döhl ab und an im Kunsthandel aufstöberte, konnte er sich nicht leisten, und Künstlerfreunde hatte er zu der Zeit noch keine.
Dies änderte sich mit dem Umzug nach Stuttgart, zu dem Döhl 1959/60 in der Folge des Skandals nach Veröffentlichung seiner "missa profana" und dem damit verbundenen Verweis von der Göttinger Universität gezwungen war. Die neuen Stuttgarter Freunde Klaus Burkhardt, der zu jener Zeit typographisch anspruchsvolle eigene Postkarten druckte, und Günther C. Kirchberger, der u.a. Gouachen im Postkartenformat malte, stimulierten Döhls Interesse erneut und regten ihn zu einer nun intensiver werdenden eigenen Produktion von Kunstpostkarten im Spannungsfeld zwischen Typographie und Collage an. Waren die dabei entstehenden Arbeiten zunächst Einzelstücke oder - seltener - auch kleinere Sequenzen, treten sie ab Mitte der 60er Jahre mehr und mehr zu Ensembles zusammen; hierzu gehören etwa die "Tapoems and Typieces" von 1964-66 (z.T. publiziert in RD., BilderBuch, hg. von Ulrike Gauss, Stuttgart 1990, S. 7-10) oder die Folge "Apfel/Birne/Blatt von 1965.
Es läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, wann Döhl'sche Karten erstmals tatsächlich auf den Postweg gegeben wurden. Wahrscheinlich hat Döhl postalisch mit Klaus Burkhardt Karten getauscht; aus der Korrespondenz mit Werner Schreib sind nur Karten Schreib's von 1962 und 1963 erhalten, was auch in den Fällen Diter Rot und Jiri Kolar gilt). Die nachweislich älteste auf dem Postweg gelaufene Karte Döhls trägt einen Münchner Poststempel vom 18.1O.1966 und ist an seine Tochter adressiert.
Nach dem Rückzug aus dem allgemeinen Kunstbetrieb im Verlauf der 70er Jahre - seiner "blackbox"-Phase - behalten Postkarten und nicht fürs Verschicken gedachte Arbeiten im Postkartenformat für Reinhard Döhl dennoch ihre Wichtigkeit: zunehmend werden sie zum Spiel- und Experimentierfeld für Skizzen, Bildideen, Notate und dergleichen, aber auch zu einem Ort für politische und kulturpolitische Auseinandersetzung.
In den 80er Jahren dann entstehen größere "mail art"-Projekte, von denen insbesondere die bis heute unter dem Titel "Kunst & Kompostkarten" fortgeführte, weit über tausend Karten umfassende Korrespondenz mit Wolfgang Ehehalt sowie die über einen Zeitraum von drei Jahren täglich mit Ulrike Gauss geführte Korrespondenz der "Atelier und Konzeptkarten" zu erwähnen sind. Daneben hält Döhl mittels eigener Postkarten international Kontakt mit Künstlern u.a. in Japan, China, Frankreich und der Tschechischen Republik sowie auch mit Freunden und Kollegen zuhause in Deutschland, und dies bis zum heutigen Tag. Bei Reisen und länger dauernden Auslandsaufenthalten (Japan 1987 und 1996, Paris 1990, Rom 1992, Jerusalem 1998/99) kommt den Karten noch die Funktion von Tagebuch und Reisebericht zu, sie geben Eindrücke und Anregungen wieder und lassen etwas von der Befindlichkeit ihres Produzenten erkennen.
Der vorliegende Katalog erscheint anläßlich der gleichnamigen Ausstellung vom 31.3. - 05.05.2000 in der Stadtbücherei Bad Wildbad. Kern der Ausstellung sind dabei ein den aktuellen Stand dieser Korrespondenz repräsentierendes Konvolut der "Kunst & Kompostkarten" von Döhl und Ehehalt, die erstmals 1989 in der Galerie Folkmar von Kolczynski in Stuttgart ausgestellt wurden und als separater Block auch 1996 in der "mail art"-Ausstellung Döhls im Stuttgarter Wilhelmspalais zu sehen waren. Hinzu kommen Beispiele weitgestreuter Korrespondenz vornehmlich aus den 9Oer Jahren. Nicht gezeigt werden können in Wildbad leider die bereits erwähnten Karten an Ulrike Gauss, die von 1989-92 täglich Auskunft über Konzepte, Pläne, angefangene, abgebrochene, abgeschlossene Projekte und ähnliches gaben.
Während also im Mittelpunkt der Ausstellung die "Kunst & Kompostkarten" stehen, dokumentiert der Katalog einerseits ein erweitertes Netz von Korrespondenten in Deutschland und aus den Ländern, mit denen Döhl beruflich zu tun hatte und an denen von seiner Seite ein grundsätzliches kulturelles Interesse besteht, namentlich Frankreich, die Tschechische Republik. China und Japan. Zum andern sollen hier thematische Konstanten erkennbar werden, die für das künstlerische Gesamtwerk Reinhard Döhls insgesamt konstitutiv sind: Porträt, Landschaft, Stadt, Strukturelles und Kalligraphisches (vgl. RD., foto/bild, hg. von Rolf H. Krauss u. Joachim Kuolt, Stuttgart 1997), aber auch Zeitkritik sowie das weite Feld des Un-Sinns, welches Döhl auch literarisch und wissenschaftlich ertragreich bearbeitet hat.
Zum Schluss sei angemerkt, dass nicht nur einerseits der Kreis der Korrespondenten international war und ist, sondern andererseits Karten von Reinhard Döhl auch in "mail art"-Ausstellungen in Siegen (1987), Berlin (1988), Tokyo (1994) und Montevideo (1991) zu sehen waren.
Joachim Kuolt
d) Was der Kritiker schrieb:
"mail-art" von Reinhard Döhl und seinen Freunden in der Stadtbibliothek Bad Wildbad
Mail-...was? Klar doch, was eine oder ein Mail ist (über die Geschlechtsdefinition dieser superschnellen Nachrichtenform herrscht in Germaniens Gauen immer noch Unklarheit), das weiß inzwischen fast jeder Grundschüler. Und um dem in Geschäftskreisen bisweilen anzutreffenden Wichtigtuer-Nimbus mit den e-mails zu entgehen, hat sich in hiesigen Chatterkreisen die amüsant eindeutschende Bezeichnung "Mehl" eingebürgert. Aber Mail-Art, – oder korrekterweise klein geschrieben – mail-art? Nun gut, Art – soviel steht fest – hat etwas mit Kunst im weiteren Sinne zu tun. Wie aber ist das zu koppeln mit dem Abschicken von e-mails? Überhaupt nicht, sofern nicht irgendwelche Bilddateien mit versendet werden, die oft als sogenannte pics das mehr oder minder attraktive Konterfei des Absenders transportieren. Wer also mit diesbezüglichen Erwartungen in die Stadtbibliothek Bad Wildbad wandert, um sich dort einer völlig neuartigen, elektronisch gestützten Kunstrichtung zu konfrontieren, der wird nolens volens Bekanntschaft machen mit der Vergänglichkeit der Zeit. Die technische Entwicklung nämlich überrollt den Menschen und seine Begriffe gleich mit. So auch "Mail", das im Wörterbuch schlicht als Post definiert wird, und das in eben diesem Sinne von Reinhard Döhl und seinen Freunden Verwendung fand. Döhl, seines Zeichens umtriebiger Kunstprofessor in Stuttgart, inzwischen auch Vorsitzender der neugegründeten Finsterlin-Gesellschaft in Schömberg, begann 1959 eine kleine Form die Kunst zu kultivieren, die zwar Vorläufer hat, doch in dieser Menge und weitgespannten Ausdrucksform neuartig ist. Nur das Format teilen die Hunderte von Mini-Kunstwerken mit einem Nachrichtenmittel, das seit über 100 Jahren sich milliardenfacher Beliebtheit erfreut: Die Ansichtspostkarte. Ansichtskarten haben eine ganze Reihe von Funktionen, vom ohnehin selbstverständlichen und manchmal auch nur widerwillig abgelieferten Gruß abgesehen. Weit verbreitet ist die Neigung, im lieben Mitmenschen ein bisschen Neid zu schüren, der ganz gewiß sich melden wird, wenn die Postkarte mit dem herrlichen Panoramablick eintrudelt. Ein aufgemaltes Kreuzchen verrät oft, wie komfortabel der Absender logiert. Womit schon der erste Schritt zur Mail-Art getan wäre. Häufig werden bereits vorhandene Postkartenmotive verändert, übermalt, mit aufgeklebten Textstreifen garniert; ganze Serien eigens geschaffener Karten mit variierten Bildmotiven, kalligraphischen Ornamenten, verfremdeten Fotos oder Kollagenmontagen im Schwitters-Stil sind so entstanden, freikünstlerisches Spiel mit Form und Farbe einerseits, doch auch nicht selten bissig-polemische Kommentierungen gesellschaftlicher Vorgänge andererseits, ähnlich wie Klaus Staecks Politplakate. Von purer Lust am zweckfreien Bildschaffen (den jeweiligen Adressaten einmal außen vor gelassen) bis zum makaber Anklägerischen (beispielsweise eine Serie mit elektrischem Stuhl) reicht das Spektrum dieser Mail-Art-Ausstellung, die zu besuchen sich allemal lohnt.
Sebastian Giebenrath
Ausstellung mail-art, Stadtbücherei Wildbad, bis zum 5.5.
Was dann wirklich in der Zeitung stand
Pforzheimer Zeitung, 3. April 2000 / Kultur
"mail-art" in Bad Wildbad
Mail-...was? Klar doch, was eine ist, weiß inzwischen fast jeder Grundschüler. Aber Mail-Art, – oder korrekterweise klein geschrieben – mail-art? Art hat etwas mit Kunst im weiteren Sinne zu tun. Wie aber ist das zu koppeln mit e-mails? Überhaupt nicht, sofern nicht irgendwelche Bilddateien mit versendet werden. Wer also mit diesbezüglichen Erwartungen in die Stadtbibliothek Bad Wildbad wandert, wird nolens volens Bekanntschaft machen mit der Vergänglichkeit der Zeit. Die technische Entwicklung nämlich überrollt den Menschen und seine Begriffe gleich mit. So auch "Mail", das im Wörterbuch schlicht als Post definiert wird, und das in eben diesem Sinne von Reinhard Döhl und seinen Freunden Verwendung fand. Döhl, umtriebiger Kunstprofessor in Stuttgart, begann 1959 eine kleine Form die Kunst zu kultivieren, die zwar Vorläufer hat, doch in dieser Menge und weitgespannten Ausdrucksform neuartig ist. Nur das Format teilen die Hunderte von Mini-Kunstwerken mit der Ansichtspostkarte. Ein aufgemaltes Kreuzchen verrät oft, wie komfortabel der Absender logiert. Womit schon der erste Schritt zur Mail-Art getan wäre. Häufig werden bereits vorhandene Postkartenmotive verändert, übermalt, mit aufgeklebten Textstreifen garniert; ganze Serien eigens geschaffener Karten mit variierten Bildmotiven, kalligraphischen Ornamenten, verfremdeten Fotos oder Kollagenmontagen im Schwitters-Stil sind so entstanden. Von purer Lust am zweckfreien Bildschaffen bis zum makaber Anklägerischen reicht das Spektrum dieser Mail-Art-Ausstellung, die zu besuchen sich allemal lohnt.
Sebastian Giebenrath
"mail-art" (bis zum 5.5.) in der Stadtbücherei Wildbad: Di + Do 10 bis 12.30 Uhr, 15.30 bis 19 Uhr; Mi 10 bis 13 Uhr; Fr 11.30 bis 15 Uhr. Der Katalog zur Ausstellung kostet DM 8.-.

Ausstellungskalender
Eigene Mailart-Austellungen
[Postkartengrosse Exponate seit Ende der 60er Jahre in Ausstellungen in Amsterdam, Heilbronn, Böblingen u.a.]
Kunst&Kompost Karten - mit Wolfgang Ehehalt. Galerie von Kolczynski Stuttgart 1989
Mail Art. Reinhard Döhl und Freunde. Wilhelmspalais Stuttgart 1996
Reinhard Döhl und Freunde / mail art. Bad Wildbad 2000
Beteiligungen am/an der
Rubens-Projekt. Kunstverein Siegen 1987
Autoren Porträt-Galerie. Literarisches Colloquium Berlin 1988
Jahresausstellung des Japan Poets Club, Tokyo 1994. Beteiligung mit Postkarten aus der "Poetischen Korrepondenz" mit Syun Suzuki
Else Lasker-Schüler-Projekt. Buch Julius, Stuttgart 1995

[Stand 12/1999]