Reinhard Döhl | Schriftstellerwissenschaftler Da saß er täglich zwischen Büchern, die gescheitere Kopfe, als er einer war, geschrieben hatten, und sprach mehrmals in der Woche mit gescheiteren Köpfen, als er einer war, über die gescheiten Köpfe, über die sie urteilten wie über ihresgleichen, und fragte sich schließlich, wer ist hier eigentlich der Dumme?

Das Dumme an dieser kleinen Geschichte ist, das sie nicht erzählt, wer denn nun dieser ER ist, wer die GESCHEITEREN KÖPFE sind. Angenommen, es handelt sich um einen Schriftsteller/Wissenschaftler, und der Einfachheit halber ferner angenommen, es handelt sich um einen Literaturwissenschaftler, also keinen Naturwissenschaftler, obwohl es die Annahme spannender machen würde -

Angenommen, es handelt sich um einen Schriftsteller/Literaturwissenschaftler, der in seiner Fachbibliothek sitzt, die mit Erkenntnissen seiner Fachkollegen bestückt ist, etwas angestaubt zum Teil, zum Teil gelesen, zum Teil nicht einmal als Vorwort bekannt -

Angenommen, der Schriftsteller/Wissenschaftler sitzt hier, oder wäre der Konjunktiv angebracht und er säße dort, erschlagen von der Fülle der Erkenntnisse von Gestern, Heute und Morgen, gewonnen durch Ausbeutung und Verwertung von Büchern der Kollegen mehr als der Dichter, von Büchern, die zu diesem Zweck gelesen oder auch nicht gelesen wurden, - dann säße er dort, erschlagen von der Selbstsicherheit und den Ansprüchen, mit denen ihm Zusammenhänge aufgedeckt, die zentralen Gedanken in den Diskurs und der Diskurs in den Konkurs gesetzt werden; - dann säße er dort, die ex cathedra oder Computer verkündeten, in kühnem Überflug erhaschten Lehrmeinungen gegeneinander abwägend, während er selber, überzeugt vom langsamen Verfertigen der Gedanken beim Schreiben und Lesen, schreibend und lesend immer noch bemüht ist, sich ein eigenes Bild, einen eigenen Reim darauf zu machen.

Ist es, fragt er sich, nicht genug, was ich lesen muß, ohne auch noch, und vor allem ohne vorher darüber zu lesen? Und so liest er in "Pfisters Mühle" zum Beispiel: "Mit dem besten Willen, es geht nicht länger, Vater Pfister; das bringt kein Doppelmops, kein Kardinal, kein Pariser Numero zwei, keine Havanna und kein Varinas oder Sonstig Kraut in keiner Nase und Pfeife mehr herunter (...)"

Angenommen, er liest in einer Zeit radikalen Medienumsprungs nicht in mönchischer Weltabgeschiedenheit, sondern er liest diesen ersten Roman einer Umweltverschmutzung, um darüber in einem Seminar Auskünfte zu fordern und zu geben, dann wird er sich zu diesem Zwecke vielleicht einer preiswerten, gelb kartonierten Ausgabe bedienen. Und er wird auch die Anmerkungen und das Nachwort nicht übersehen, wohl wissend, wie sehr beide die Weichen studentischer Lektüre stellen können. Dort aber wird er angemerkt finden, daß es sich bei Doppelmops, Kardinal und Pariser Numero zwei um "alkoholische Getränke" handele, wo er doch als kulturgeschichtlich interessierter Schnupfer besser weiß, daß es in Wirklichkeit populäre Schnupftabak-Sorten waren.

Das ist noch kein Argument, wird er sich sagen, und weiterlesen, zum Beispiel den "Horacker". Und da er diesmal die textritische Ausgabe aus dem Regal gezogen hat, wird er auch den Apparat dankbar benutzen: "Literarische Einflüsse sind bisher nicht mit Sicherheit festgestellt. Weder Fehse [...] noch Bass [...] haben über den Einfluß von Immermanns 'Münchhausen' und von Fieldings 'Joseph Andrews' auf einzelne Stellen des 'Horacker' mehr als nur unsichere Vermutungen vorbringen können."

Nun gut, wird er sich sagen, daß Bücher aus Büchern entstehen, weiß ich und bin oft genug selbst in diesem weltliterarischen Gestrüpp hängen geblieben. Aber daß diese Einflüsse spekulativ selbst dort zur Disposition stehen, wo der Fall auf der Hand, vielmehr in den Niederungen der Literatur liegt, irritiert mich denn doch. Denn eine, wenn nicht die zentrale Anregung zu seinem "Horacker" verdankt Raabe dem sogenannten Salonbänkelsang, konkret dem "Butterräuber von Halberstadt". Und mag es für das Verständnis eines Werkes auch gleichgültig sein, ob Doppelmops, Kardinal und Pariser Numero zwei alkoholische Getränke oder Schnupftabak sind, von einigem interpretatorischen Gewicht ist dagegen die Frage, ob sich der "Horacker" spekulativ von "Münchhausen" oder "Joseph Andrews" oder konkret von einer Moritat herschreibt.

Mit zunehmender Selbstsicherheit liest sich also unser Schriftsteller/Wissenschaftler durch Text und Kommentar der Braunschweiger Raabe-Ausgabe hindurch, ja er beschließt sogar, auf der nächsten Mitarbeiterbesprechung Raabe als Gegenstand für das kommende Semester anzukündigen. Nicht ohne Widerspruch, denn dem einen ist dieses Thema nicht "bred and butter" genug vulgo: literatursoziologisch nicht griffig und im Hinblick auf spätere Berufsperspektiven nicht relevant, während einem anderen in Raabes Romanen zu sehr ein deutsches Bieder- und Spießerherz schlägt, als daß es sich um ernstzunehmende, der Auseinandersetzung würdige Literatur handeln könne.

Die leise vorgebrachten Einwände. daß sich bei Raabe ein Werk aus dem anderen hervorspinne derart, daß seine Erzählprosa einschließlich des letzten Fragments in einem strikten Sinne work in progress sei, wurden höflich überhört. Und als er schließlich auf eine sich andeutende Collage-Technik hinwies, wurde er beschieden, dies sei eine Technik der bildenden Kunst und damit keine für eine Literaturtheorie relevante Frage. Worauf er sich fragte, wie denn, wenn nicht mit einem Gemälde Kaulbachs, das Raabe aus Berlin kannte, die Rabenschlacht des "Odfelds" zu deuten sei. Und wie es denn möglich sei, Kellers "Grünen Heinrich" oder Stifter zu lesen, ohne deren gewichtiges bi1dnerisches Werk in Anschlag zu bringen, zu fragen, warum sie es zugunsten der literarischen Produktion aufgaben oder hintan stellten. Oder umgekehrt: warum sich seinerzeit Füssli zugunsten der bildenden Kunst der Literatur entschlug. Von Schwitters ganz zu schweigen.

Ich möchte mein eher spielerisch gedachtes Modell abkürzen. Besagter Schriftsteller/Wissenschafler könnte an diesem Punkt der Geschichte seine Bibliothek gänzlich umkrempeln, die Sekundärliteratur in die zweite Reihe rücken, und die Schriftsteller dorthin stellen, wohin sie gehören: nach vorne. Er könnte an die Stelle Raabes Jean Paul oder Wieland stellen, er könnte auf Raabes "Alterhausen" Joyce's "Finnigans Wake" folgen lassen und sich - ganz bescheiden - am Schluß selbst einreihen, nachdem er zuvor dem literarischen Werk Schwitters' die Monographie Elderfields an die Seite gegeben, die Sämtlichen Werke Kellers und Stifters durch die einschlägigen Künstlermonographien erst sämtlich gemacht hat.

Ich befürchte allerdings, mein spielerisch gedachtes Modell ist nicht sonderlich erhellend, es sei denn, man nimmt es als gescheiterten Versuch, zu erklären, inwiefern sich Schriftsteller und Wissenschaftler im Wege stehen können. Was besagten ER an den KLÜGEREN KÖPFEN irritiert, resultiert aus seiner Doppeltätigkeit. Sie macht ihn einerseits für vieles, was Literatur und über ihre Grenzen hinaus die bildende Kunst betrifft, sensibel und bescheiden zugleich, auch was seine eigenen Versuche im Kontext der Großmeister angeht.

Auf der anderen Seite befähigt und zwingt ihn seine Ausbildung, über Literatur und bildende Kunst, speziell in ihren Wechselbeziehungen und -wirkungen zu reden in einer Art und Weise, in der die Theorie allzu oft mit der praktischen Erfahrung kollidiert, ihr widerspricht. Was mich an dem Fach, das ich forschend und lehrend vertrete, ständig irritiert, sind die Ansprüche, die seine Vertreter an die Literatur und bildende Kunst stellen, statt sich von ihnen erst einmal in Anspruch nehmen zu lassen. Was mich an Literaten und bildenden Künstlern irritiert, ist, daß sie nur zu oft glauben, auf das verzichten zu können, was jenseits ihres handwerklichen Horizonts liegt: eine die künstlerische Praxis begleitende geistige Anstrengung.

Käme beides zusammen, möchte ich einmal träumen, die praktische Erfahrung zum theoretischen Überflug und die gedankliche Anstrengung zur praktischen Arbeit, und zwar in einem gleichen Maße, wie Textphilologie zu Texttheorie gehört, dann könnte das mehr ergeben als die Summe von Teilen. Aber die Beispiele warnen. Die Brüder Schlegel waren schlechte Dichter, die Frankfurter Poetik-Vorlesungen sind nicht unbedingt ein Gewinn für die Literaturwissenschaft.

Gilt, muß man fragen, für den Schriftsteller/Wissenschaftler wie umgekehrt den Wissenschaftler/Schriftsteller nicht ebenfalls, was Goethe und Schiller über den Dilettanten diskutierten, was Goethe, auf die künstlerische Doppelbegabung bezogen, in seinem Dilettantismus-Projekt vortrug? Oder müssen wir, dem Diktum Schwitters' entsprechend, daß wir den "Begriff" der Kunst erst loswerden müssen, um zur "Kunst" zu gelangen, eine traditionelle Literaturwissenschaft erst dispensieren. um zu einer fruchtbaren Verbindung von Literatur und Wissenschaft zu kommen? Ich weiß es nicht. schlage aber, als Vertreter des einen wie des anderen, das gemischte Doppel vor, was den Grenzüberschreitungen unseres Jahrhunderts durchaus entsprechen und einseitigem, einäugigem Spezialistentum entgegenwirken könnte als ein dem Ganzen und im Ganzen nützlicher Versuch. Dann sitzt er vielleicht nicht länger täglich zwischen Büchern, die gescheitere Köpfe, als er einer ist, geschrieben haben, und spricht mehrmals in der Woche mit gescheiteren Köpfen, als er einer ist, über die gescheiten Köpfe, über die sie urteilen wie über ihresgleichen, und fragt sich schließlich, wer ist hier eigentlich der Dumme?

Wissenschaftler versus Schriftsteller

Wie schon in meinem ersten Statement gilt auch in diesem Fall mehr die Irritation als eine wechselweise Be- oder Verhinderung, es sei denn, ich verkürze die Frage auf die Zeit, die der Wissenschaftler dem Schriftsteller stiehlt, wobei ich im Interesse des Faches wiederum annehme, daß der Schriftsteller den Wissenschaftler Zeit kostet. Ich schließe also den Wissenschaftler aus, für den der Schriftsteller allenfalls notwendiges Übel, um nicht zu sagen Vorwand für theoretische Höhen- und kollegial inszenierte Sturzflüge ist.

Der Wissenschaftler, von dem ich rede, kommt zwar dem Schriftsteller immer wieder einmal in die Quere in einem Wechselspiel, das zugleich die Umkehrung der Konstellation kennt, aber beide sind sich im Grunde genommen nicht gram und profitieren durchaus voneinander. Ich möchte dies mit zwei konkreten Erfahrungen belegen.

Die erste:

Ende 1969 oder Anfang 1970 saß ich mit einem Dramaturgen des Westdeutschen Rundfunks zusammen, um ein Hörspielprojekt zu besprechen. Einerseits hatte ich damals bereits einige Hörspiele geschrieben, war jetzt aber an einer Radikalisierung meines Ansatzes interessiert, an der mir andererseits wegen eines theoretisch gescheiterten Hörspielarbeitskreises im Studium Generale der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart besonders lag. In diesem Gespräch kam die Rede auch darauf, daß und warum es bis dato keine diskutable Hörspielgeschichtsschreibung gab. Mit dem Ergebnis, daß ich etwa zu der Zeit, als sich das sogenannte Neue Hörspiel zu etablieren begann, im Westdeutschen Rundfunk zu den Bedingungen des Mediums eine Sendefolge startete, die erst 1985 abgeschlossen wurde und sich "Versuch einer Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen" nannte.

Die erste Erfahrung. die ich machte, war, daß es mir plötzlich nicht mehr möglich war, das geplante Hörspielprojekt zu realisieren. Erst als die Sendefolge abgeschlossen und in Buchform überführt wurde, konnte ich an meine damaligen Versuche wieder anknüpfen und wenigstens noch zwei Hörspiele realisieren, die in den 60er Jahren innerhalb des Projekts "wie man so sagt / wie man so liest / wie man so hört" konzipiert waren. Inzwischen hatte mir die intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Gattung neue Perspektiven eröffnet, entdeckte ich zum Beispiel, daß eine Reihe bildkünstlerischer Versuche, die ich metaphorisch Partituren oder Tapieces bzw. Tapoems (also Bandstücke bzw. Bandgedichte) genannt hatte, wirkliche Partituren akustischer Literatur waren. Diese Partituren und Tapieces werde ich Anfang des nächsten Jahres in einer Retrospektive von "Werkgruppen der 60er und 8Oer Jahre ausstellen, was mich zugleich zur zweiten konkreten Erfahrung führt.

Die zweite:

Während meiner Arbeit an der Finsterlin-Monographie und Werk-Edition, bei der Sichtung und Aufbereitung eines Gesamtkunstwerk-Nachlasses in der Staatsgalerie Stuttgart erfuhr ich eher zufällig davon, daß demnächst eine Jury für mehrere Kunststipendien zusammentreten und in der Staatsgalerie die eingereichten Arbeiten bewerten würde.

Irritiert von der Schublade des konkreten Autors der Stuttgarter Gruppe/Schule, der - so eine Lexikonauskunft - seinen "spielerisch-schöpferischen Experimenten mit dem sinn- und synaxfreien, z T. graphisch aufgefaßten Sprachmaterial linguistische und ästhetische Texttheorien" unterlege - irritiert von dieser Schublade, reichte ich spaßeshalber einige Collagen älteren und neueren Datums ein und wurde, nicht als Schriftsteller, sondern als bildender Künstler, Stipendiat der City des Arts und Ehrengast der Villa Massimo. Und ich bekam in diesem Jahr - wie ich vermute, infolge dessen - das Angebot einer umfassenden Werkretrospektive.

So weit die beiden konkreten Erfahrungen. Gefragt ist in diesem Durchgang nach dem Verhältnis des Wissenschaftlers zum Schriftsteller oder, wie ich für meinen Fall erweitern muß: zum Künstler/Schriftsteller und ihren wechselseitigen Behinderungen. Im ersten Fall ist diese Frage für mich relativ leicht zu beantworten. Als der Hörspielautor, der bisher über seine Gattung allenfalls oberflächlich nachgedacht lätle, sich auf seinen Gegenstand wissenschaftlich, wenn auch zu den Bedingungen des Mediums. einließ, blieb der Autor zunächst außen vor, blieben eine Reihe von Projekten unrealisiert, weil der notwendig kritische Abstand zur Sache die eigenen Versuche plötzlich in einer neuen Sicht, leichtfertig und oberflächlich erscheinen ließ. Erst nach jahrelanger wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Gegenstand versachlichte die Einschätzung der eigenen Arbeiten, bekamen sie in der inzwischen erarbeiteten Geschichte und Typologie ihren eigenen Stellenwer, ja wurde sogar ein provisorischer Abschluß des ursprünglichen Projekts möglich. Andererseits erwies sich das damalige schriftstellerische Unternehmen als historisch, nicht mehr fortsetzbar.

Anders bei den grafischen Partituren und vergleichsweisen Arbeiten der 60er und frühen 70er Jahre, die sich aus der wissenschaftlichen Erfahrung jetzt als Ansätze einer akustischen Literatur, eines - im Sinne Apollinaires - akustischen Buches lasen, für das wahrscheinlich das Massenmedium Rundfunk als Verleger gänzlich ausscheidet, das also anderen Orts zu realisieren ist. Früher hätte dies den Hörspielautor irritiert, nach dem wissenschaftlichen Versuch über Geschichte und Typologie der Gattung und den Einsichten in die Möglichkeiten und Zwänge des Mediums geschah dies nicht mehr. Mit anderen Worten: Wissenschaft and literarische Produktion können sich zeitweilig ausschließen, sich behindern, aber auch fördern. Für den Fall des Hörspielautors möchte ich den wissenschaftlichen Exkurs als Gewinn buchen. Wie er seinen Abschied vom Hörspiel unter den gegenwärtigen Bedingungen des Rundfunks bewertet, ist Temperamentssache; wie er seine akustischen Partituren vielleicht dennoch und in welcher Weise er sie umsetzen kann, eine Frage der Gelegenheit. Ein Konzept jedenfalls hat er.

Ein wenig anders liegen die Dinge im zweiten Fall. Der Schriftsteller war unter dem schockartigen Eindruck der 2. Documenta, auf der er zum erstenmal mit aktueller Kunst konfrontiert wurde, wie unter Zwang bemüht, diesen Schock auch praktisch abzuarbeiten. So entstanden seit 1959 zum Beispiel zahlreiche Collagen in dem Bemühen, es dem beeindruckenden Schwitters möglichst nicht gleichzutun. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Schwitters erfolgte, wie beim Hörspiel, erst verzögert. Zwei weitere Ausstellungen beeindruckten den Schriftsteller/Künstler ähnlich nachdrücklich: eine Ausstellung moderner japanischer Sho-Kunst 1962 in Darmstadt und die legendäre Ausstellung Schrift & Bild 1963 in Amsterdam.

Das sind in ungefähr die Voraussetzungen, unter denen der Künstler/Schriftsteller und Student der Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft in den Umkreis von Max Bense und der konkreten Literatur gerät, die anderes in Ausstellungen vorzeigenswert machte als das, was ihn hauptsächlich beschäftigte. Und dies auch aus Gründen seines wissenschaftlichen Fragens, das sich vorrangig für Grenzfälle zwischen Literatur, bildender Kunst und Musik interessierte, ausgehend vom Dadaismus (im Widerstand übrigens zu seinen erlauchten und erleuchteten Lehrern und Kollegen, die ihn bei ihren heutigen Arbeiten gerne unterschlagen), fortgesetzt über das Problem der sogenannten Doppelbegabung, das in dem Maße in die Kulturgeschichte rückwärts führte wie die Neuen Realisten, die Fluxus- und Happeningbewegung den Bogen in die Gegenwart schlugen.

Dabei machte der Wissenschaftler, was vielleicht singulär ist, die Erfahrung, daß ein theoretisches Darüber-Reden das eine, das praktische Erproben ein zweites ist, daß der praktische Versuch zu Einsichten in den Gegenstand führen kann, die dem theoretischen Zugriff verschlossen bleiben. Wobei ich bereit bin, das Wort Einsichten durch das Wort Erfahrungen zu ersetzen. Dem Wissenschaftler steht jedenfalls, wie ich es momentan sehe, der Künstler/Schriftsteller nicht etwa im Wege, dieser ergänzt ihn vielmehr, indem er mit seinen künstlerischen Experimenten eine Art Grundlagenforschung treibt, dafür Sorge trägt, daß seine Wissenschaft ihm nicht zu einem im Grunde unfruchtbaren Trockenkurs und vollends unerträglich wird, wenn praxisferne Theorien statt der eigentlichen Gegenstände des Faches - literarischer Text, Bild, Werk der Musik - zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden.

Daß Wissenschaft sich umgekehrt auch auf die Entwicklung ihrer Gegenstände auswirken kann, sollte jedem, der sich mit Kulturgeschichte befaßt, in zahlreichen, auch negativen Beispielen geläufig sein. Eine negative Erfahrung möchte ich abschließend nicht unterschlagen. Sie verweist zugleich auf das erste Statement zurück. Als der Künstler/Schriftsteller, der fast 30 Jahre lang auch als Hilfskraft für den Wissenschaftler gearbeitet hatte, die Möglichkeit einer Werkretrospektive bekam, gelang es ihm nicht, sein Werk sinnvoll zu gliedern. Und der Wissenschaftler versagte ihm die Hilfe, was den Künstler/Schriftsteller auf die Vermutung brachte, der Wissenschaftler habe ihn lediglich ausgenutzt und letztlich verdorben, was der Wissenschaft1er umgekehrt vom Künstler/Schriftsteller nicht behaupten kann. Inzwischen ließ sich das Problem der Ausstellungsordnung, der Auswahl der Abbildungen für den Katalog etc. mit tatkräftiger Hilfe eines Museumsmenschen lösen. Was der Wissenschaftler dazu sagen, wie der Künstler/Schriftsteller zu seiner Ausstellung stehen wird, bleibt offen, muß wohl auch, da in eigener Sache, offen bleiben.

Davon einmal abgesehen, sind trotz dreißigjähriger Ehe die Partner miteinander durchaus nicht unzufrieden, denken keinesfalls an Scheidung und sind unglücklich allenfalls jeder für sich, der Künstler/Schriftsteller mit dem Künstler/Schriftsteller und der Wissenschaftler mit dem Wissenschaftler und beide mit einem mangelnden öffentlichen Interesse und Verständnis. Aber das ist eine andere Geschichte.



[Vortrag auf dem Symposium "Schriftstellerwissenschaftler" der Universität-Gesamthochschule Siegen, November 1989. Druck in Peter Gendolla, Karl Riha [Hrsg.]: Schriftstellerwissenschaftler. Erfahrungen und Konzepte. Heidelberg: Winter 1989 (Reihe Siegen 102), S. 55-63]