Reinhard Döhl | Vorschläge für eine Revision des Klassiker-Repertoires:
Die Sechziger Jahre

[Der Umgang mit dem Hörspielrepertoire. Ein Seminar der Zentralen Fortbildung der Programm-Mitarbeiter. Gemeinschaftseinrichtung von ARD/ZDF vom 7.12.-11.12.1987 im Funkhaus Baden-Baden]

Meine Vorschläge sind etwas genereller gefaßt, als Sie viel leicht erwarten. Das zu begründen, bin ich im Anschluß gerne bereit. Für den Moment genügt mir, zu vertreten, daß Hörspielgeschichte nicht ohne Geschichte ihres Mediums betrieben werden sollte, und zwar von den Historikern ebenso wie von den Dramaturgen, den Produzenten ebenso wie den Rezipienten. So sind für mich gelegentlich auch Hörspiele wichtig, die zum erstenmal konsequent etwas erproben, auch wenn dies später eleganter geschieht. Zweitens ist Hörspielgeschichte für mich darüber hinaus Geschichte einer Gattung nach einem Mediensprung. Nicht also, was Rundfunk an traditioneller Literatur, im Verständnis traditioneller Literatur als Literatur umsetzt, interessiert mich, vielmehr: wie das neue Medium Literatur verändert bzw. anders sein läßt. Der Schritt von der Schriftlichkeit zu einer künstlichen Mündlichkeit ist für mich genauso gravierend wie seinerzeit von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit durch Erfindung des Buchdrucks. Ich bin bei meinen Hörspielforschungen also immer auch von der Überzeugung ausgegangen, daß die Erfindung der elektronischen Medien und ihrer Aufschreibsysteme die stumm gewordene Literatur nicht nur in Konsequenz visualisieren oder wieder Laut werden läßt, sondern sie formal und inhaltlich nachdrücklich verändert wird. Die Prognose dieser Literatur der Zukunft hat Guillaume Apollinaire bereits 1918, also vor Erfindung des Radios, gestellt. Sie findet sich in einem kleinen Vortrag, der auch als Testament Apollaires eingeschätzt wird, und lautet:

"Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin, das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten suchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte, und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusch- und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Schebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen."

Wenn auch der Meinung, daß ein recht verstandenes Hörspiel ein gewichtiges Kapitel dieses Buches der Zukunft ist oder sein wird, muß ich doch zugeben, daß auch dieses Buch einen Verleger braucht, den Rundfunk, einen Lektor, den Dramaturgen, und einen Leser, den Hörer - eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren also seine Genese bestimmen werden. So ist es denn auch sinnvoll, nicht mit der großen, sondern mit der kleinen Prognose zu beginnen. Und die schien eindeutig. Nachzulesen war sie in Heinz Schwitzkes "Dramaturgie und Geschichte" des Hörspiels aus dem Jahre 1963, und sie lautete - auf den hier zu betrachtenden Zeitraum gemünzt:

"Mit Schurre und Hey sind wir bei der Berliner Schule von Hörspielautoren, um deren Förderung - einzigartiger Fall unter Bühnenverlegern - sich Maria Sommer, Leiterin des 'Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs' , große Verdienste erworben hat. Wichtigste Exponenten sind: Benno Meyer-Wehlack, der 1957 für sein kleines Hörspiel 'Versuchung' den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt, und der nicht weniger preiswürdige Peter Hirche, an dem aber (...) die repräsentativste deutsche Hörspielauszeichnung bisher immer vorbeiging. Ferner gehört hierher Johannes Hendrich mit seiner erregenden psychologischen Hörspielstudie 'Das Haus voller Gäste' (1956) und dem nicht minder eindrucksvollen 'Sog' (1962). Beide Stücke stellen die Not der Vereinsamung dar, das erste am Schicksal eines Mannes, das zweite an dem einer allein gelassenen alten Frau. Was Hirche und Meyer-Wehlack betrifft, so gehören sie - neben Rys und Wellershoff - zu den wichtigsten Autoren zwischen dreißig und vierzig, die nun in die erste Reihe vorrücken werden, falls es ihnen gelingt, - was freilich notwendig wäre -, ihrem bisher nur schmalen Werk mit weiteren Arbeiten eine gewisse Abrundung zu geben. Nach Eich und Hildesheimer, nach Frisch und Dürrenmatt sind sie als nächste am Zuge" (379 f.)

Rückblickend sieht es allerdings durchaus anders aus, wobei es mir jetzt nicht darauf ankommt, die Vorgaben zu diskutieren, auf denen Schwitzke seine Prognose gegeben hatte: die Literatur der 50er Jahre, die sich Hörspiel nannte und lesen ließ, sondern darauf, daß Meyer-Wehlack - einige Jahre Fernsehdramaturg - praktisch zum Fernsehen konvertierte, wie auch Johannes Hendrich sich durch seine "realistisch-gesellschaftskritische Darstellungsweise (alsbald) Film und Fernsehen zugänglich" machte (Hörspielführer). Auch um Peter Hirche wird es nach dem Hörspielpreis der Kriegsblinden für "Miserere" (1965) still. So daß eigentlich nur Jan Rys, Dieter Wellershoff und Richard Hey dem Hörspiel als Autoren der 60er Jahre und z. T. darüber hinaus erhalten blieben.

Am Ende dieser 60er Jahre ist bereits das Neue Hörspiel etabliert, hat die Entwicklung also eindeutig eine so andere als die prognostizierte Richtung genommen, daß es weniger sinnvoll scheint, vom guten, alten literarischen Hörspiel der 50er Jahre auszugehen oder das inzwischen nun auch schon gute alte Neue Hörspiel einer wiederholten Befragung zu unterziehen und die inzwischen bereits stereotypen Positionen des Pro und Contra zu beziehen, als vielmehr diese 60er Jahre einmal genauer zu inspizieren. Und: da die Genese des Hörspiels nun einmal auch und nicht unwesentlich von nichtliterarischen Bedingungen abhängig ist, auch diese mitzubedenken.

Die 60er Jahre scheinen - nach den 50ern - in letzter Zeit wieder stärker in Erinnerung zu kommen. Sowohl Köln wie Stuttgart haben in größeren Ausstellungen die Kunstszene dieser Zeit bedacht. Der Petticoat wurde durch den Minirock abgelöst. Heinz Oestergard kreierte ihn, bzw. die Mini-Mode und den Astronautenlook. Die Blusen wurden durchsichtig, die Haare länger und die Sexualität freizügig, wie überhaupt die Nachkriegsmoral und -prüderie zunehmend über Bord ging. Musikalisch sorgten die Beatles für Aufregung.

Aber da waren auch und gleichzeitig der Eichmann-Prozeß, die Kuba-Krise und der Kalte Krieg, Vietnam und die Folgen, der Sechstagekrieg, Rezession und schließlich die Unruhen von und nach 1968. Und das alles geht ja am Rundfunk, der nach Alfred Döblin erstens ein Musikmedium, zweitens ein Nachrichtenmedium und dann erst an dritter Stelle und mit einigem Abstand ein Kulturmedium ist, nicht spurlos vorüber.

An der Bücherfront machten sich - wenn auch oft noch an entlegener Stelle - die experimentellen Schreibweisen bemerkbar. Ich erstrebe keine Vollständigkeit, wenn ich rekapituliere, daß 1960 Heißenbüttel mit der Publikation seiner "Textbücher" und Bense mit der Publikationsfolge der "rot"-Hefte beginnt, in denen mit Ludwig Harigs "haiku hiroshima" und Benses "Monolog der Terry Joe" bereits die Vorstufen zweier späterer Neuer Hörspiele veröffentlicht werden. 1960 hatte Gomringer seine bisher vorliegenden Ideogramme als "33 konstellationen" zusammengefaßt und schon 1959 waren die Dialektgedicht der Wiener Gruppe, "hosn rosn baa", erschienen, ferner Hans G. Helms "FA:M'AHNIESGWOW" als Buch mit Schallplatte (= akustische Literatur also noch außerhalb des Rundfunks). 1959 veröffentlichte ich, wenn ich denn ausnahmsweise auch mal von mir sprechen darf, die "missa profana" und raufte mich ihretwegen bis zum Bundesgericht; 1959/1960 entstand mein erstes Hörspiel, das von allen damaligen Rundfunkanstalten abgelehnt wurde (immerhin zitierte mich der NDR zu einem Gespräch - auf meine Kosten). Gesendet wurde dieses Hörspiel dank des Engagements von Johann M. Kamps 1967 vom Saarländischen Rundfunk, und kennen gelernt hatten wir uns 1966 auf den inzwischen bereits legendären Tagen für neue (die sich damals noch klein schrieb) Literatur in Hof, wo auch Günther Eich (die "Maulwürfe"), Ilse Aichinger, Jürgen Becker, Ludwig Harig lasen. Das ist eine hörspielgeschichtlich bisher übersehene kleine Nebenspur. Ausgestellt wurden dort u.a. auch Arbeiten Ferdinand Kriwets, der 1961 seinen "Rotor" veröffentlichte mit dem bei Mallarmé entlehnten Motto: "Ein Buch beginnt und endet nicht: allenfalls täuscht es dies vor".

Mit dieser eher zufälligen Hintergrundskizze möchte ich mehreres andeuten. Erstens wollte ich ein paar jener Themen genannt haben, die im Hörspiel des Nachrichten- und Musikmediums natürlich auch ihre Spuren hinterlassen haben. Denn selbstverständlich gibt es Hörspiele zum Vietnam-Krieg, wie es zuvor Hörspiele zum Korea-Krieg gegeben hatte. In den Umkreis der Kuba-Krise, d.h. genauer in ihr Vorfeld gehört das mißglückte Unternehmen "Schweinebucht" und die ihr folgende Gefangenenbefragung, die z.B. Grundlage für Enzensbergers "Das Verhör von Habana" (1970) war. Der Beatle-Song "I'm so tired" z.B. ist "Geräusch" bzw. eingespielte Radiomusik in Wondratscheks "Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels" (1970). Die Studentenunruhen anläßlich des Schahbesuchs thematisiert Chotjewitz in "Die Falle oder die Studenten sind nicht an allem schuld". Und wenn der Eichmann-Prozeß auch keine direkten, so hat er doch - wie in der ganzen Literatur der 60er Jahre - auch im Hörspiel seine indirekten formalen Spuren hinterlassen, u.a. in einem erneuten Interesse am Feature, das, ursprünglich nach dem Kriege im NWDR dem Hörspiel zugeschlagen, alsbald von ihm getrennt worden war und Anfang der 60er Jahre allenfalls noch kümmerlich dahinvegitierte. Die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre populären Feature eines Peter Leonhard Braun ("Hühner", "Catch as Catch Can") können den Meisterleistungen Ernst Schnabels ("Der 29. Januar", "Ein Tag wie morgen") oder Axel Eggebrechts ("Was wäre, wenn...") das Wasser nicht reichen.

In ihrer Traditionen hatte - und sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Hörspielentwicklung - Alfred Andersch mit "Der Tod des James Dean", der als Platte in der Philips "Twen Serie" (!) erschien, doch andere Töne angeschlagen. Und eine infolge des Eichmann-Prozesses sich entwickelnde dokumentarische Literatur tat das ihre hinzu, so daß, wie in den 50er Jahren beim NWDR, in den 60er Jahren die Grenzen zwischen Hörspiel und Feature wieder fließend wurden. Dabei ist es vor allem der Südwestfunk, der sich, nachdem die Hörspielabteilung 1965 einen zusätzlichen Feature-Termin bekam, mit einigen erinnernswerten Sendungen von Walraff ("Sinter zwo") und Erika Runge ("Gespräche im Ruhrgebiet"), von Ulrike Meinhof, Hubert Fichte und Gabriele Wohmann etc. zu Wort meldete. Das Themenspektrum reicht vom Reisefeature bis zur Industriereportage, vom Engagement für Gastarbeiter, diskriminierte Frauen, Nichtseßhafte bis zur Darstellung der Räterepublik (durch Paul Pörtner übrigens). In der Praxis gäbe es sogar recht interessante Kombinationsmöglichkeiten, wenn man z.B. einmal die beiden Berkeley-Reportagen oder eine von ihnen zusammen mit Chotjewitz "Falle" senden würde. Der Vietnam-Krieg, der, - soweit ich sehe, - nur wenig Hörspielreflex auslöste, im Feature ist er diskutiert worden als "Der schmutzige Krieg".

Man kann und muß die Einrichtung eines Feature-Termins auch als eine nichtliterarische Bedingung des Hörspiels unter anderen fassen, einschließlich des Streichens dieses Termins um 1970, was zugleich auf die hörspielgeschichtlich nicht unwichtigen und folgenreichen Programmstruktur-Reformen Ende der 60er Jahre weist. Doch möchte ich, bevor ich auf die nichtliterarischen Bedingungen zu sprechen komme, zweierlei festhalten:

1., daß das Hörspiel als Programmangebot im Nachrichtenmedium Rundfunk auch in den 60er Jahren natürlich den zeitgeschichtlichen Hintergrund - auf seine Weise spiegelt. Und daß für diese seine Weise, d.h. seine Erscheinungsform

2. die um 1960 zunehmenden, einander konkurrierenden, aber auch sich ergänzenden Interessen am Experimentellen und am Dokumentarischen von entscheidender Bedeutung werden.

Dokumentarische Literatur auf der einen und konkrete Literatur auf der anderen Seite sind also der literarische Humus, auf dem die Hörspielentwicklung der 60er Jahre zu studieren ist. (Und ich darf für die Parteilichen unter Ihnen hinzufügen daß es kein Zufall ist, daß diese Konstellation schon einmal in den 20er Jahren gegeben war, als auf der einen Seite die Dadaisten und vor allem Kurt Schwitters sich der konkreten Literatur näherten, noch ohne zum Begriff der konkreten Kunst auch den der Literatur zu finden, als auf der anderen Seite Piscator das dokumentarische Theater zu seinem ersten Höhepunkt führte). Das Sprachspiel auf der einen Seite, das Verhör, die Verhandlung, die Zeugenaussage, die Reportage auf der anderen Seite sind die jetzt bereit stehenden Voraussetzungen des Hörspiels - wie sie es übrigens in seiner Geschichte von Anfang an waren, wenn auch nur selten genutzt.

Von den jetzt darzustellenden nichtliterarischen Bedingungen des Hörspiels habe ich eine schon genannt: die Etablierung des Fernsehens. Dieses Fernsehen führte zu einem doppelten Aderlaß. Einmal zu der immer wieder genannten Abwanderung von Hörern, die in der Verbindung von Bild und Ton in ihrem Unterhaltungsbedürfnis vom Fernsehen, das zumal den Reiz des Neuen und eines Statussymbols hatte, offensichtlich besser bedient und befriedigt werden konnten als vom einsinnigen Rundfunk. Das kann man, wie getan, beklagen Aber ich halte das, mediengeschichtlich gesehen, für Unfug. Denn wenn man nicht leisten kann, was ein anderer leicht leistet, bietet man möglicherweise die falsche Ware an. Und statt hier auf Mogelpackungen zu sinnen, sollte man besser fragen, was denn die eigene Ware ist, die man als einziger und zu seinen Bedingungen optimal anbieten kann. Mit anderen Worten: der Verlust von Hörern war zugleich die Chance einer Selbst- und Neubesinnung des Hörspiels und seiner Verantwortlichen. Und hier ist nachzufragen, ob und wie sie diese Chance genutzt haben.

Der zweite Aderlaß war die ebenfalls bereits genannte Konversion zahlreicher Hörspielautoren. Und auch hier besteht kein Grund zur Klage. Denn

- entweder war es das bessere Honorar, das diese Konversion veranlaßte, was - da Kunst bekanntlich nach Brot geht - niemand zu verübeln wäre, würde er sich des Hörspiels wenigstens dann bedienen, wenn er etwas mit und in ihm auszusagen hätte.

- Oder das Fernsehen bot den Konvertiten das ihnen geeignete Medium, in welchem Falle sie nie wirkliche Hörspielautoren waren.

- Aber noch eine dritte Möglichkeit ist wenigstens zu erwähnen, denn die betrifft eine wichtige Beiträgerin zum Hörspiel der 60er Jahre, Christa Reinig.

In einem langen, bisher ungesendeten und unveröffentlichtem Gespräch argumentierte sie Ende der 70er Jahre: "Ich bin also immer Produzent und Konsument in ein und derselben Ecke. Wenn ich zum Beispiel also in eine Buchhandlung gehe, da liegen dann diejenigen Bücher, die ich kaufe, immer in genau derselben Ecke, wo auch meine eigenen Bücher, wenn sie dort auftauchen, stehen. Also das liegt bei mir sehr dicht zusammen. Ich bin also Radiohörer. Ursprünglich hat hier immer so'n Radio gestanden. Ein ganz riesiges Ding. Und da saß ich jeden Abend und so weiter. Und das war plötzlich weg, da war ein Fernsehen. Und damit hat sich im Grunde meine Gedankenwelt vom Radio weg entwickelt. Das ist also der ganz krasse, primitive Fakt. Das Anschaffen eines Fernsehapparats hat bewirkt, daß ich von der Hörspielproduktion weg war."

Da Christa Reinig keine Fernsehautorin geworden ist, wäre sie auch ein Beleg dafür, daß ein neu etabliertes Medium Produktivkräfte lähmen kann. Doch liegt der Fall Reinig wahrscheinlich etwas komplizierter, da, wie bei Wellershoff, auch bei ihr die Hörspielproduktion - mit Ausnahme des vor allem bekannten "Aquariums" - auffällig mit der Biographie verknüpft ist. Man könnte sogar sagen, daß ihrer beider Hörspiele sich jeweils kontrastierend zur Seite stehen. Daß, wenn Wellershoffs Hörspiele Schritte literarischer Psychoanalyse auf dem Wege zur Therapie sind, die Hörspiele Reinigs Rollenspiele auf dem Wege einer literarischen Selbstfindung, schrittweise Annäherung an die Fähigkeit, von sich selbst sprechen zu können, eine Fähigkeit, die Christa Reinig in den 70er Jahren mit den Prosaarbeiten "Die himmlische und die irdische Geometrie" und "Entmannung" erworben hat.

Weniger das "Aquarium", nicht unbedingt die "Kleine Chronik der Osterwoche", wohl aber "Tenakeh" (1966) und "Wisper" (1968) sind aufregende Belege des noch monophonen Rundfunks, was unlängst eine kleine Hörspielkritik Christian Hörburgers bestätigte, der zu einer Wiederholungssendung des "Wisper", eines Verwandten im Ungeiste jenes Pförtners, der in Eichs "Man bittet zu läuten" (1964) seinen Kropf leert, in der Stuttgarter Zeitung anmerkte:

"Neben der Wiederbegegnung mit der liebenswert kratzigen Stimme des unvergessenen Günther Lüders als seltsamen Herrn Wisper" gewährte die Sendung eine "Neubesinnung auf das monophone Radio." Es seien "in der Tat nicht die schlechtesten Hörspieljahre" gewesen, "als hohe Radiokunst noch ganz bescheiden einkanalig daher kam. Dafür klangen aber zum Beispiel die geheimnisvollen Botschaften der Radiolyrikerin Christa Reinig (was notabene nicht stimmt, Radiolyrikerin war sie nicht, R.D.) feingeflochten und vielspurig. Die vertrackten Radiobotschaften der Berlinerin mit ihrem Witz und ihrer Gesellschaftskritik entziehen sich noch heute der Nacherzählung. Sogar die sprachliche Dichte eines Günter Elch wird gelegentlich übertroffen, die Parabel nochmals reduziert auf ein absolutes Minimum der Mitteilung. 'Der Dialog ist die Handlung selbst', hat die Dichterin einmal lakonisch formuliert. Dies ist eine radikale Zuspitzung des Verständnisses von Sprache, eine akustische Verschlüsselung, die auch in 'Wisper' eingefangen ist."

Die zweite nichtliterarische Hörspielbedingung der 60er Jahre war die Einführung der Stereofonie. Auf der Internationalen Hörspieltagung 1968 in Frankfurt (auf die ich wiederholt kommen werde) beklagte Ulrich Lauterbach eine zweifache Gefährdung des Hörspiels, die einerseits "von außen" käme, "vom Fernsehen, das in den menschlichen Behausungen den Vorrang vor dem Radio gewonnen hat, und von innen andererseits von einer dem Rundfunk immanenten Entwicklung zur Stereofonie, die von der Technik und der Geräteindustrie als Fortschritt gewertet wird, in der Hörspieldramaturgie aber zu Begrenzungen und Verschiebungen führt, die wir nicht beabsichtigt, nicht gefordert haben, die uns vielmehr aufgezwungen wurden."

Mir fällt im Moment nicht ein, von welchem gescheiten Kopf die Erkenntnis stammt, daß die technische Entwicklung in einem Maße fortgeschritten sei, daß nicht mehr die Philosophie die Technik, sondern die Technik die Philosophie bestimme. Aber diese Erkenntnis gilt für die akustische Literatur Hörspiel als Kind des technischen Mediums Rundfunk fraglos gleichermaßen. Denn wie das Buch die Literatur im Übergang von ihrer ursprünglichen Mündlichkeit zur Schriftlichkeit entschieden formal prägte, haben die technischen Bedingungen des Rundfunks das akustische Buch der Zukunft in seinem Entstehen von Anfang an entschieden mitgedruckt. Lauterbachs Klage der Gefährdung des Hörspiels sieht etwas in Gefahr, das nicht eigentlich Hörspiel ist, möchte etwas bewahren, das man zwar gesendete, kaum aber akustische Literatur nennen darf.

Immerhin gab es auf dieser Frankfurter Internationalen Hörspieltagung auch und vor allem Zustimmung zur Stereofonie, bei allerdings unterschiedlichen Positionen, die von Heinz Hostnig (damals Saarländischer Rundfunk) und Hans Joachim Hohberg (Sender Freies Berlin) eingenommen wurden. Hostnig hatte sich in einem grundsätzlichen Referat gegen eine stereofone Realisation von realistisch abbildenden Hörspielen und Bühnenstückadaptionen gewandt mit der Begründung, sie entfremde das Hörspiel zum "Quasi-Optischen, zum realistischen Schau- und Hörplatz". Solange in Hörspielen abgebildet werde, den Spielen auch nur entfernt etwas Theatralisches anhafte, entpuppe die Stereofonie diese Spiele immer auch als "kaschiertes Theater", habe Hörspiel-Komponist Enno Dugend recht, wenn er von der Stereofonie "als einem Lügendetektor" spreche.

"Eine Alternative", eine sinnvolle stereofonie Praxis zeichne sich dagegen ab, wenn man "experimentelle Literatur in das Hörspielrepertoire" aufnehme. Ich zitiere jetzt wörtlich:

"Unter experimenteller Literatur verstehen wir heute jene Gattungen, die die Sprache selbst zum Gegenstand der Darstellung machen. Wenn die Stereofonie das Theatralische des Hörspiels zu seinem Nachteil betont, dann, meine ich, müßten sich in ihr doch jene literarischen Modelle zum Versuch anbieten, die nichts mehr abschildern wollen, keine Psychologie, keine Figur, keinen Gedankenverlauf, keine Geschichte, keine innere oder äußere Handlung, sondern allein Sprachliches ins Bewußtsein rücken: Sätze, Wörter, Silben, Laute; Phrasen, Sprichwörter, Sprachfloskeln, Sprechhaltungen. Das Chaos an vorgefundener, vorgeformter Sprache, in spielerische Ordnung gebracht, das heißt mit Absicht filtriert, kombiniert und auf ein bestimmtes Ziel hin komponiert - ist das nicht ebensogut Spiel wie das andere mit Figuren und kombinierten Handlungszügen? Und läßt sich mit derartigen Sprach- und Sprechspielen der stereofonische Hörraum nicht viel besser ausnützen als mit den herkömmlichen Figurenstücken, indem ich zu räumlichen Bewegungsabläufen komme, die in etwa den sprachlichen entsprechen?"

Dieser Positionen Hostnigs widersprach Hohberg energisch, wenn er erklärte, er sei nicht gegen die Suggerierung einer "Theaterszenerie" durch Stereofonie, auch wenn sie "unfreiwillig komisch" wirken sollte. Die dargebotenen Beispiele experimenteller Literatur - darunter übrigens Wondratscheks "Freiheit oder Ça ne fait rien" und Weyrauchs "ich bin einer, ich bin keiner", - die dargebotenen Beispiele seien trotz ausdrucksstarker Stellen für ihn über längere Zeit hin eine Strapaze; man könnte nicht solche Experimente 30 oder 60 Minuten lang einem Publikum bieten, das eine Geschichte, ein erkennbare Fabel wünsche. Er wolle keine "Steriliphonle", nicht mit "polemischen und zerhackten Sätzen angestottert" werden. Dagegen plädiere er für einen "erholsamen" Monolog. Durch die Stereofonie bekämen solche Szenen mehr Hintergrund, die Personen mehr Profil, und das genüge.'

Dieses Plädoyer Hohbergs, Lauterbachs vorgetragene These vom Hörspiel "als Ausdrucksmittel seelischer Prozesse" waren zugleich Rettungsversuche des erprobten traditionellen Hörspiels, im Falle Hohbergs auf einem technischen Schleichweg. Und genau dies versagte sich Heinz Hostnig, und dies mit gutem Grund.

Man hat dem Hörspiel, gemessen an der literarischen Entwicklung wiederholt seine Ungleichzeitigkeit vorgerechnet - so auch Heißenbüttel in seinem für die Internationale Hörspieltagung von 1968 erstellten "Horoskop". Und Lauterbachs und Hohbergs Argumentieren geben Heißenbüttel nur recht. Zugleich aber erwiesen die Beiträge Hostnigs und anderer Referenten, daß dieser Vorwurf wenigstens punktuell längst nicht mehr zutraf. Vor allem ein Kronzeuge wurde auf dieser Tagung dazu nicht gehört oder zitiert, und zwar Günter Eich. Ich kenne das Referat von Herrn Karst nicht und möchte auch nichts unnütz wiederholen. Aber ganz komme auch ich nicht ohne Günter Eich aus, da Heißenbüttel in seinem "Horoskop" neben Reinachers "Narr mit der Hacke" Eichs "Träume" als Paradigma der Ungleichzeitigkeit genannt, die hörspielgeschichtlich wichtige Tagung der Gruppe 47 1960, die Umschriften der Hörspiele "Blick auf Venedig" und "Meine sieben jungen Freunde", die unglückliche Inszenierung von "Man bittet zu läuten" durch Heinz von Cramer aber nicht berücksichtigt hat . Eich, der in der immer noch viel zu wenig bekannten Büchnerpreis-Rede dafür gesprochen hatte, in das Nichts der gelenkten Sprache ein Wort zu setzen, der für die Frage statt der überall herumliegenden Antworten optiert hatte, hatte 1960 die Tagungsteilnehmer in Ulm mit einer Neufassung des "Tiger Jussuf" verwirrt, in die beiden genannten Hörspielumschriften jeweils als zentrales neues Thema die Spracherfindung eingefügt. Nicht von ungefähr heißt der Titel des Hörspielbandes, der die Neufassungen mit aufnimmt, "In anderen Sprachen". Und Eich hat in einem Interview 1967 für den sprachlichen Unsinn plädiert, seine "Maulwürfe" im "dadaistischen Sinne" angeschaut, überzeugt, "daß der Blödsinn eine ganz bestimmte Funktion in der Literatur hat, vielleicht auch eine Funktion des Nichteinverständnisses mit der Welt." Ich darf noch zwei weitere mir wichtige Sätze zitieren:

"Es scheint mir vor allem wichtig, daß Veränderung und Entwicklung nicht durch den Inhalt geschieht, sondern durch die Sprache, daß wir also unablässig bemüht sein müssen, die Sprache nicht fest werden, gerinnen zu lassen, sie so zu erhalten, daß sie nicht benutzbar ist von irgendwelchen Mächten, daß dies eine Sprache ist, die immer in Bewegung bleibt und jedes Festgefügte gleich wieder zerrissen wird und in der Politik nicht verwendbar ist, daß die Sprache also so bleibt, daß Weltveränderung mit ihr immer möglich ist, daß sie nicht zementiert wird."

Und der zweite Satz: "Gerade, weil ich finde, daß Sprache unbenutzbar sein sollte, halte ich diese ganz extremen Dichtungsformen, die mit Buchstaben und sonstwas arbeiten, heute für ungeheuer wichtig und komischerweise auch für politisch wichtig."

Von hier wäre es leicht, wieder zu Hostnigs Plädoyer für die Stereofonie als eines idealen Vehikels für experimentelle Texte zu kommen. Und Hostnig hat ja in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in Saarbrücken die Beweise selbst geliefert oder liefern lassen, wobei ich nur nebenbei daran erinnere, daß neben den genannten Autoren Weyrauch, Wondratschek auch Harig, Becker und Mon dort mit immer noch hörenswerten Realisationen im Programm vertreten waren. Hostnig ist aus meiner Sicht dann auch derjenige, der mit einer Neuinszenierung von "Man bittet zu läuten" 1974 eine längst überfällige Eich-Renaissance einleitet, indem er gegenüber Heinz von Cramers "psychologischer" eine "rhetorische Textauffassung" vertritt. Ein Vergleich beider Realisationen, aber auch Hostnigs Kommentar aus einer "Hörspielwerkstatt", wo er seine der Cramerschen Realisation zitierend und kommentierend gegenüberstellt, ist hier äußerst aufschlußreich.

Die Hörspieltagung der Gruppe 47 ist aber nicht nur für den Eichspezialisten erinnernswert, sie ist genau wie die internationale Hörspieltagung 1968 in Frankfurt oder die Rundfunktagung 1929 in Kassel von grundsätzlicherer Bedeutung. Meines Wissens von Bernhard Rübenach initiiert, der überdies - das ist auch noch eine wichtige Spur - an der Ulmer Hochschule für Gestaltung 1958 ff über Rundfunkkunde dozierte, wurden 1960 meines Wissens zum ersten Mal deutsche (Hörspiel)Autoren mit der Arbeit des Club d'Essai in der ORTF bekannt gemacht.

Vorausgegangen war eine Sendung über den Club d'Essai am 10.1.1959 im SWF. Im gleichen Jahr sendete der SWF erstmalig auch die hörspielgeschichtlich bedeutende Adaption der Bretonschen "Nadja" durch Andre Almuro, "Nadja Etoilée", ohne daß diese Sendung oder spätere Wiederholungen den etablierten Hörspieldramaturgien die hier nötigen Beine gemacht hätten. Einer anderen Übernahme vom Club d'Essai, Robert Arnauts "Balcon sur le rêve: le Western", für die Pierere Schaeffer Sprache, Musik und Geräusche arrangierte, ging es nicht viel besser (SR 1966; NDR 1971). Schließlich weist auch die biographische Topographie Paul Pörtners die Orte Club d'Essai und Hochschule für Gestaltung auf, an deren letzterem er mit einem elektronischen Studio experimentierte und sein erstes "Schallspiel" erarbeitete, das später der Bayerische Rundfunk sendete.

Wie für den Autor Pörtner so gilt auch für den Rundfunkmann Rübenach, der 1960 die Hörspielabteilung des SWF übernimmt, daß sie die Experimente des Club d'Essai ernst nehmen und nicht lediglich als Exotikum werten, wie z.B. 1969 noch Reclams Hörspielführer, der Almuros "Nadje Etoilée" nur anführt, "weil es bei uns immer einmal wieder - meist französisch - gesendet wird, als Beispiel gewisser Hörspielklangtheorien, die im französischen Rundfunk und insonderheit im Club d'Essai (etwa unserem 3. Programm entsprechend) erarbeitet wurden". Theoretiker und Praktiker erkannten, anders als Schwitzke, daß das, was im Club d'Essai erarbeitet wurde, in einem wörtlichen Sinne Hörspiel, Hörereignis war. Und vor allem Pörtner, der ja auch die Geschichte experimenteller Literatur nachweislich kannte, sah, wie in Paris eine traditionsreiche akustische Literatur, konkrete Musik und ein für ihre Herstellung und Verbreitung geeigneter technischer Apparat erstmalig produktiv zusammentraten.

Da diese Chance in Deutschland zunächst nicht wahrgenommen wurde (die Geschichte des elektronischen Studios im Köln der 50er Jahre ist ein Kapitel für sich), blieb Pörtner auf sein Ulmer Experiment verwiesen. Immerhin richtete Rübenach einen "Studio"-Termin ein, in Unkenntnis übrigens eines ähnlichen Versuches von Hans Flesch 1929 in Berlin, der "Das Studio der Berliner Funk-Stunde" mit der Aufgabe versah: "Hier soll experimentiert werden, hier zeigt der Rundfunk den Hörern, die mitzuarbeiten gesonnen sind, etwa aus seiner Werkstatt. Die reinste Form des Ausprobierens, der Versuch um einer Idee willen, ohne Rücksicht auf das Resultat, kann sich im Studio auswirken. Anregung zur Mitarbeit soll es vermitteln und nebenher mit den technischen Voraussetzungen einer Sendung bekannt machen."

Wie das Berliner Studio ist auch das "Studio für Unerfahrene und (die) Experimentierbühne für Extremes" des SWF nicht allzu erfolgreich. Aber das liegt wohl weniger am "Studio", auch nicht am guten Willen, sondern an der Schwerfälligkeit des Apparates. So lange der Rundfunk nicht einsieht, daß für den Moment nur er in der Lage ist, entscheidende Kapitel des akustischen Buches der Zukunft zu schreiben, so lange das Hörspiel (oder was man dafür hält) in ihm als Kunst lediglich verwaltet, nicht gefördert wird, verfehlt er eine seiner Aufgaben. Immerhin, eines der Ergebnisse des SWF-Studios ist der Kriwet-Text "Offen" (ich erinnere an das weiter oben zitierte "Rotor"-Motto und Mallarmé-Zitat) aus dem Jahre 1962. Weitere Hörtexte Kriwets werden dann vor allem von den Literaturabteilungen betreut, in den Literatur-Studios gesendet, bis Ende der 60er Jahre sich auch die Hörspielabteilungen wieder zuständig fühlen, bei "Apollo Amerika" etwa oder "Oos ist Oos", einem "Hörtext", auf den Friedrich Knilli im Norddeutschen Rundfunk 1969 in einer "Inventur des Neuen Hörspiels" einprügeln wird, sehr zur Freude Schwitzkes aber durchaus zum eigenen Schaden. Denn diese Kritik erweist rückblickend seine vielzitierte Studie über das "totale Schallspiel" denn doch als nur technisch, nur oberflächlich gedacht.

Ein Autor, Jean Thibaudeau, schlägt die Brücke vom Club d'Essai zum Nouveau Roman einerseits, vom französishen zum Süddeutschen Rundfunk andererseits. Rundfunkästhetisch ist dabei vor allem Thibaudeaus Hörspielerstling, die "Fußballreportage" von Bedeutung, eine Collage von Länderkampf und Spaziergang, Radrennen und Autounfall mit allen hier möglichen Brüchen und Sprüngen. Wurde sie noch vom 0RT erstgesendet, ist bereits das nächste Hörspiel Thibaudeaus, "Der Zirkus" eine Deutsche Uraufführung.

Was diese beiden Hörspiele für mich interessant macht, ist dreierlei. Erstens rechne ich sie in das Umfeld allgemein der Überlegungen, die man sich in den 60er Jahren erneut und ernstlich zum erstenmal über die Adaption fremdsprachiger Hörspielproduktionen macht. Ich verweise auf das hier grundsätzliche Referat Bernhard Rübenachs, "Erfahrungen mit der

Adaption fremdsprachiger Hörspielproduktionen", und an das kürzere Co-Referat von Johann M. Kamps auf der Internationalen Frankfurter Hörspieltagung. Und ich nenne als kleines Repertoire studierenswerter Beispiele Ionescos "Der Automobilsalon" dessen frz. Realisation bereits aus dem Jahre 1954, dessen deutsche ganz andere Realisation unter Regie von Fritz Schröder-Jahn aus dem Jahre 1955 stammt. Regie bei der ORTF führte übrigens Almuro, der auch für "Nadja Etoilée" verantwortlich zeichnete.

Als weiteres wichtiges Hörspiel in diesem Zusammenhang wäre Nyoya Uchimuras "Marathon" zu nennen, das völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint, aber wegen seiner Präsentation (= deskriptiver Vorspann in einem dem Stück angepaßten Reportagestil; Analyse der formalen Aspekte) nachdrücklich wieder in Erinnerung gebracht werden sollte. Zugleich wäre mir seine Doppelsendung zusammen mit einer Neuproduktion von Rudolf Leonhards "Wettlauf" von 1927 äußerst wünschenswert.

Schließlich gehören hierher, Thibaudeaus genannten Hörspielen folgend, weitere Hörspiele der Nouveaux Romanciers, von denen ich vor allem die Hörspiele Butors "6 810 000 Liter Wasser pro Sekunde" und Monique Wittigs "Johannisfeuer" und "Massage" benennen möchte. Innerhalb des Bemühens um die Adaption fremdsprachiger Hörspieltexte - und das ist zugleich mein Zweitens - bilden die Hörspiele der Nouveaux Romanciers insofern einen eigenen Block, als sie, mit Ausnahme der Thibaudeauschen "Fußballreportage", Auftragsarbeiten eines ausländischen Senders (des SDR) waren, und durchaus nur zum Teil den Weg danach in die ORTF gefunden haben. Wenn ich mich namentlich dabei auf Butor und Wittig beschränke, dann

einmal, weil sie nicht einfach gefunkter Nouveaux Roman sind, also Literatur als Hörspiel auf einem hohen Niveau. Darüber hinaus kontrastieren sie einander aufschlußreich: multiples Stimmenspiel hier - ein Dialog voller Leerstellen und Fallen (auch Phallen) dort. Auch im Falle Wittigs ist bisher versäumt worden, beide Hörspiele einmal im Zusammenhang zu senden, obwohl der Regisseur Heinz von Cramer sich dies ausdrücklich gewünscht hat.

Im Bemühen um die Adaption fremdsprachiger Texte bilden die beiden Hörspiele Thibaudeaus schließlich noch eine eigene Gruppe. Und das meine ich inhaltlich und formal. Formal ist der Collage-Effekt des "Zirkus" von Bedeutung - zurückweisend auf die Hörspielcollage "Weekend" Walter Ruttmanns, vorausweisend auf eine Vielzahl von Hörspielcollagen in der zweiten Hälfte der 60er der 70er Jahre. Formal, aber für mich vor allem inhaltlich ist die "Fußballreportage" bedeutend, weil sie zum einen das Medium im Medium zitiert. Und damit eine Programmsparte, den Sport, und eine Rundfunkform, die Reportage, für das Hörspiel konstitutiv nutzt. Auch hier wiederum im Vorgriff auf eine Reihe von Fußballhörspielen, die in ihrer Unterschiedlichkeit ein eigenes Referat wert wären: ich nenne als Beispiel Ludwig Harigs "Das Fußballspiel" (1966) oder - in den 70er Jahren - die Fußballspiele Ferdinand Kriwets und Ror Wolfs. Aber auch allgemein ist die Art, wie sich Thibaudeau bezieht, mir hörspielgeschichtlich bemerkenswert.

War es bis dahin zwar durchaus schon üblich, das Medium im Hörspiel zu zitieren, als Radiodurchsage, -nachricht, zitierte Sendung - es wurde nicht in und mit dem Medium gespielt. Das aber macht Thibaudeau, und er wäre allein deshalb für das Repertoire in Betracht zu ziehen.

Wenn ich hier aus den eingangs mitgeteilten Gründen ein wenig fahrlässig sein und verkürzen darf, entfalten die 60er Jahre (mit Vorläufern sogar in den 50er Jahren) hörspielgeschichtlich eine Breite, lassen eine Aufbruchstimmung erkennen, die durch das permanente Gerede einer Hörspielkrise, die es in der Tat gab und die ich nicht wegdiskutieren will, ebenso verdeckt wurden, wie durch ein hartnäckiges Bestehen auf und Verteidigen eines abgewirtschafteten literarischen Hörspiels, wie 1969ff durch die Turbulenzen um ein Neues Hörspiel.

Daß dieses Neue Hörspiel so neu gar nicht war, habe ich einmal durch den Titel einer Sendung, "Altes vom Neuen Hörspiel", anzudeuten versucht und dabei - wie auch heute gelegentlich andeutungsweise - die Linien bis in die Weimarer Republik zurückgezogen. Will man die Fäden nicht so weit zurückziehen, stellen sich die 60er Jahre als eine sich verändernde, eine sich auf das Hörspiel als Hörereignis neu verständigende Landschaft dar, Hört man erst einmal genauer hin. Allerdings wäre Günter Eich erst einmal neu zu inszenieren (siehe: "Man bittet zu läuten"), wären von Christa Reinig weniger die "Kleine Chronik (...)" und "Das Aquarium", vielmehr "Tenakeh" und "Wisper" zu senden, eventuell auch neu zu inszenieren. Wellerhoff und Hey haben ihren Platz behalten.

Weitere Namen wie die von Jürgen Becker, Franz Mon, Peter Chotjewitz ("Zwei Sterne im Pulver") oder Wolf Wondratschek sind ebenfalls schon genannt worden. Andere Autoren, soweit sie nicht verstummen wie Hirche, finden, wie Weyrauch, nicht nur Anschluß an die Entwicklung, sondern treiben sie durchaus mit voran. Ich denke dabei z.B. an Martin Walser mit immerhin fünf Hörspielen in der 2. Hälfte der 60er Jahre ("Erdkunde" / "Wir werden schon handeln" / "Der Unfall. Wie es so geht" / "Welche Farbe hat das Morgenrot" / "Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe"), die ebenso vergessen sind wie seine drei wichtigen Hörspiele aus der Zeit der Stuttgarter Genietruppe ("Die Dummen", 1952 / "Kantaten auf der Kellertreppe", 1953 / "Draußen", 1953). Hinzu kommen die zunächst wenig folgenreichen aber gewichtigen Leistungen der ORTF, ihres Club d'Essai, also Einflüsse von Außen und zugleich der Versuch, Hörspiele nicht mehr zu übersetzen, sondern mit medialen Mitteln zu adaptieren, wobei die Hörspiele der eigentlichen Nouveaux Romanciers die Gattung auch im literarischen Niveau anheben. Hinzu kommen, z.T. wie 1969 Döhl/Krogmanns "man" in die literarischen Programme, die in diesen Jahren oft zum Hörspielplatz wurden, abgedrängt, Kriwet mit seinen Hörtexten und Paul Pörtner nicht nur mit seinen "Schallspielen". Ich habe deshalb sehr gezielt den ersten Band meiner Hörspielgeschichte dem Andenken Paul Pörtners, und ihm darin ein eigenes Kapitel gewidmet. Und ich werde mich auch in Zukunft darum bemühen, daß er, den ich für einen der facettenreichsten und wichtigsten Rundfunkautoren nicht nur der 60er Jahre halte, nicht durch die Maschen eines zum alsbaldigen Gebrauch bestimmten Programms und seiner sich inzwischen fast verselbständigenden Schemata fällt.

Und vielleicht noch ein Letztes: daß und in welchem Maße die 60er Jahre hörspielgeschichtlich von Bedeutung, also bei und für Wiederholungen genau zu befragen sind, wird schon aus einem kleinen Spiel mit Zahlen und Titeln deutlich. Über die Experimente im Club d'Essai berichtet Rübenach bereits 1959. Die für die Hörspielentwicklung zum Teil wichtige Hochschule für Gestaltung in Ulm müßte auch in puncto Hörspielgeschichte noch einmal besucht werden. Knillis vielgeschmähter Versuch über "Das totale Schallspiel" erscheint 1961, also Jahre vor den immer noch zitierten und zugrunde gelegten Arbeiten Schwitzkes (1963) und Eugen Kurt Fischers (1964). Die Internationale Hörspieltagung in Frankfurt vom 21. bis 27. März 1968 ist mit den Referaten von Rübenach/Kamps (bereits genannt) und mit den Beiträgen von Andries Poppe (Das Hörspiel und das Institut für Psycho-Akustik und elektronische Musik), Pörtner (Schallspiele und elektronische Verfahren im Hörspiel), Jyrki Mäntylä (über finnische Experimente), Werner Spies (über den Nouveau Roman) und Hostnig (über die Stereophonie) bereits auch Bestandaufnahme. Das erste Heft der Akzente 1969, das im Februar erschien und demnach Beiträge noch aus 1968 enthielt, ergänzt die Frankfurter Tagung, gerne würde ich sagen: ergänzt ihre Ergebnisse. Aber da die Referate - von Ausnahmen abgesehen - im Druck nicht zugänglich wurden, ist dieses Akzente-Heft nach Knillis Entwurf für den Leser eine erste Bestandaufnahme und Bestätigung, daß sich die "Möglichkeiten eines zeitgenössischen Hörspiels" nur vermuten lassen, ein Motto, das der Herausgeber Kamps Franz Mon entlehnt hatte. In diesem Heft ergänzt Heißenbüttel sein Frankfurter "Horoskop" durch "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese", steuert Hellmut Geißner, nachdem Pörtner und Hey den Hörer praktisch bereits zum Mitspieler gemacht hatten, den Aufsatz "Spiel mit Hörer" bei, erfährt der Interessierte durch Hermann Naber zum erstenmal im "Überblick" über "radiospektakl - teatr - radiodrama - verbosonie. Hörspiel und Hörspielversuche anderswo" undsoweiter. Neben weiteren Aufsätzen Hostnigs, Kamps, Pörtners, Petris macht dieses Heft der Akzente zum erstenmal mit Franz Mons "das gras wies wächst" auch den Leser mit dem Neuen Hörspiel bekannt, dessen Bezeichnung als "Neu" dann erstmals im Herbst 1969 in einer von Klaus Schöning edierten Anthologie und 1970 in einem ergänzenden Materialienband ins Auge fallen. Aber das ist eine andere Geschichte.

[Vorschläge für eine Revision des Klassiker-Repertoires: Die 60er Jahre. (10.12.1987)]