Reinhard Döhl
Zu den "Landschaften" Hans Schreiners Außenwelt der Innenwelt

Wenn ein Künstler in einer Galerie zum ersten Mal ausstellt, ist es eigentlich üblich, ihn vorzustellen. Im Falle Hans Schreiners wäre dann darauf hinzuweisen, daß er Schüler des unlängst verstorbenen Manfred Henningers war und sich auch stets dazu bekannt hat. Daß er Mitte/Ende der 50er Jahre engeren Kontakt zu jener legendären Gruppe 11 hatte, also zu Atila, Günther C. Kirehberger, Friedrich Sieber und Georg Karl Pfahler, die die Malerei des deutschen Südwestens an die internationale Entwicklung anschlossen und international bekannt machten. Daß er nach seiner wichtigen informellen Werkphase einen dann sehr eigenen eigenwilligen Weg einschlug, den er - unberührt von schnell wechselnden Moden und Trends - konsequent fortgeschritten ist. Das brachte ihm Mitte der 60er Jahre das Villa-Massimo-Stipendium ein und 1985 den Hans-Molfenter-Preis. Einen Preis, der an den Namen eines Malers gebunden ist, für den "nicht nur ein moralisches, sondern auch" das "künstlerische Gewissen "zählte, das durch nichts erschüttert werden" dürfe. Genau dieses aber zeichnet neben seiner Konsequenz auch das bisher vorliegende Werk Fans Schreiners aus. Wobei der Maler sicherlich auch in Horb so bekannt ist, daß ich mir eine weitere Vorstellung ersparen kann und den an Details Interessierten auf die ausliegende Werkmonographie verweisen darf.

Hans Schreiners augenblickliche Ausstellung von Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen kontrastiert auf eine merkwürdige Weise zu einer anderen Ausstellung, die ich vor kurzem hier eröffnet habe: zu den Landschaften Ulrich Zehs. War Ulrich Zeh von realen Landschaften ausgegangen, die sich im Atelier zu Farblandschaften abstrahierten, hatte Ulrich Zeh seinen Farblandschaften Strudel und Untiefen eingeschrieben, um das Trügerische vermeintlicher Idyllik zu signalisieren, verfährt Hans Schreiner praktisch umgekehrt. Denn seine Landschaften entstehen im Atelier aus abstrakt-materialen Malvorgängen. Und sie sind als Ergebnis dieser Malvorgänge eher ideelle Landschaft, Idee von Landschaft, landschaftliche Ideation. Es gibt eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahre 1968, die Hans Schreiner "Eine Landschaft entsteht" getitelt hat. In der Werkmonographie S.122 abgebildet, führt sie im Doppelsinn vor, was ihr Titel besagt: Entstehen einer Landschaft als zeichnerischer Prozeß und reale Landschaft in statu nascendi, Landschaft also als reale und zugleich ideale Schöpfung.

Es ist mit der an bildende Kunst zu ihrer Erk1ärung herangetragenen Begrifflichkeit so eine Sache. Ich definiere also landschaftliche Ideatition als: der Idee einer Landschaft entsprechend, und weise darauf hin, daß Idee ursprünglich Erscheinung, Gestalt, Beschaffenheit, Form bedeutet. Hans Schreiner hat seine Malerei einmal auf die Formel gebracht: Er "suche eine Entsprechung zwischen dem, was in ihm (sei) und dem, was außerhalb von (ihm stehe)." Bezogen auf diese Formel wären die Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen der augenblicklichen Ausstellung sichtbare Gestalt, Erscheinung dieser Entsprechung, Außenwelt einer Innenwelt, deren Spiegelung moralischen wie künstlerischem Gewissen verpflichtet ist.

Nach dieser allgemeinen Charakteristik darf ich jetzt konkret ansetzen, und zwar bei einer Arbeit, die Ihnen von der Einladung her bekannt ist. Ich gehe dabei davon aus, daß Sie die Abbildung dieser Arbeit bereits genauer betrachtet haben. Und daß Sie, was ich im Folgenden dazu zu sagen habe, anschließend leicht selbst nachprüfen können.

Eine einlässige Analyse, das Überziehen eines Rasters läßt schnell ablesen, wie komponiert - nicht konstruiert! - diese Arbeit ist. Der Horizont verläuft oberhalb der waagrechten Mittelachse:, sich links absenkend, ihr annähernd, ja sogar sie tangierend. Das zentrale Bildgeschehen setzt, von unten nach oben gelesen, asymmetrisch linkslastig an, ist aber mit Erreichen des Horizonts etwa symmetrisch zur Mittelachse und verweist bei Überschreiten des Horizonts deutlich nach rechts. Etwa zu gleichen Teilen trennt die Mittelachse einen diagonalen Schnitt oberhalb des Horizonts, und ein Gebilde, das in seiner Form an eine Wolke gemahnt. Würde man dieses eigentliche Bildgeschehen 'einrahmen', erhielte man ein rechteckiges Hochformat mit der Circa-Proportion 4 X 3, das in einem rechteckigen Querformat mit der Circa-Proportion 3 X 4 stünde. Das wären zugleich grobe Annäherungen an das, was die ästhetische Spannung dieser Arbeit bestimmt. Annäherungen, die in dem Maße genauer würden, in dem ich noch die Farbwahl und -kombination in meine Analyse einbezöge; in dem ich berücksichtigen würde, daß sich links des eingeschriebenen rechteckigen Hochformats der Horizont zur Mittelachse hin absenkt, daß der diagonale Schnitt oberhalb des Horizonts und unterhalb der 'Wolke' am rechten Bildrand senkrecht und verkürzt noch einmal repetiert wird.

Damit wären die Möglichkeiten, mich dieser Arbeit analytisch zu nähern, zunächst erschöpft. Begreife ich sie aber als Außenwelt einer Innenwelt, muß ich - über die Komposition hinaus - noch auf anderes achten, konkret auf das, was mein Auge zu dieser Formenwelt assoziiert. Da wäre zum einen die schon als Wolke gedeutete Form. Zwischen ihr und dem Horizont ließe sich der Schnitt als Schnittwunde, als Riß, allgemein als Verletzung deuten. Für die Bewertung des Horizonts ist es wichtig, daß er von unten nach oben überschritten wird, wobei mir die umgangssprachlichen Assoziationen nicht uninteressant sind, daß etwas am Horizont erscheine (auf den Arbeiten Hans Schreiners können dies z.B. Wolken, Rauchzeichen, Regenbögen sein), 2. Daß jemand den Horizont überschreite (dann assoziiert, wie auf den Arbeiten Hans Schreiners bis Anfang der 80er Jahre, der Horizont Weite, Unendlichkeit), 3. daß etwas über jemandes Horizont gehe, daß wir etwas nicht begreifen wollen oder können. Und dabei denke ich auch an die Arbeiten Hans Schreiners aus den letzten Jahren. Bei der hier diskutierten Arbeit geschieht das Überschreiten des Horizonts auf zweifache Weise:

Deute ich - gelenkt von der Wolke - den Schnitt als Verletzung des Himmels, des Firmaments, lassen sich die schlauchähnichen Gebilde als Verletzung der Erde deuten, undzwar bezogen auf die künstliche Verletzung des Firmaments und in Entsprechung zu den Vulkanschloten früherer Arbeiten Schreiners - als natürliche und konstitutive Verletzungen, aus denen sich die Erde auswirft.

Daß Hans Schreiner seine Arbeit, wenn vielleicht auch nicht genau so, so doch in dieser Richtung verstanden haben möchte, hat er mit dem Titel "Weg Wunde Wolke" deutlich gemacht. Ein Titel, der zugleich die Formel ist, auf die er diese landschaftliche Ideation bringt.

Gehe ich davon aus, daß eine so gelesene Landschaft Ergebnis eines zunächst abstrakt-materialen Malvorgangs ist, daß dieser abstrakt-materiale Malvorgang zugleich von der Innenwelt des Künstlers gesteuert wird, sein Ergebnis also als Außenwelt einer Innenweit betrachtet werden sollte, habe ich noch eine für das Verständnis Schreinerscher Arbeiten gewichtige Größe unbeachtet gelassen: den Betrachter selbst.

Dieser Betrachter ist in unserem Fall einer von unten nach oben zu lesenden Landschaft konfrontiert, die zwar einen Weg aber keine Menschen kennt, die wie alle Landschaften Schreiners menschenleer ist. Der Mensch also nicht in sondern vor einer Landschaft, und dabei nicht vor einer natürlichen, abgebildeten sondern vor einer imaginierten, aus einem Malprozeß resultierenden Landschaft. Was dies in Konsequenz meint, könnte ein Vergleich mit romantischen Landschaften verdeutlichen, konkret mit Landschaften Caspar David Friedrichs, die dem Betrachter des Bildes im Bild einen Betrachter vorschalten, sei dies der "Mönch am Meer" oder der bekanntere "Wanderer über dem Nebelmeer". Diese Vermittlung fehlt im Falle Hans Schreiners. Der Betrachter seiner Bilder steht unvermittelt vor einer Landschaft, die er nachdenklich betrachten kann, über die er betrachtend nachdenken sollte.

Schreiners Arbeiten sind als Außenwelt einer Innenwelt Vorschläge, Aufforderungen zu meditativem Nachvollzug, zielen also wiederum auf Innenwelt. Sie bieten dem Betrachter einen "Emotionsraum" (Schreiner) an, dessen Formenwelt gelesen werden kann als Himmel und Erde, als Vulkan und Wolke, als Rauchzeichen und Regenbogen, als Baum oder Mauer, als Düne oder Berg, als Spur oder Weg. Wobei die Formvorgaben des Künstlers durchaus nicht immer eindeutig sind, oft mehrere Lesarten zulassen, z.B. in der Arbeit, von der ich ausging, indem ich den "Weg" auch als figürliche Andeutung, als torsohafte Skizze lese.

In der Zuordnung zueinander, in der Werkentwicklung Schreiners beobachte ich dabei eine zunehmende Skepsis. Das Überschreiten des Horizonts ist keine Bewegung in die Weite, in den unendlichen Raum, sondern von unten nach oben, bleibt also in der Fläche. Nicht die Weite des Himmels, des Firmaments könnte eine Wunde haben. Wunden setzen feste Körper voraus. Der Himmel ist also eher Wand als Tiefe des Raumes. Dem entspricht, daß Hans Schreiner in seinen neueren Arbeiten die Farbe oft dicker aufträgt, so daß reliefartige Wirkungen, bei richtiger Ausleuchtung Schattenwürfe entstehen, die durchaus etwas Bedrohliches haben. Mit ihrer reliefartigen Struktur rücken - übertragen gesprochen - die Mauern gleichsam auf den Betrachter zu. Aus den Landschaften noch ohne Menschen werden zusehends Landschaften wieder ohne Menschen.

Ich habe die Arbeiten Schreiners lange Zeit als Weltentwürfe am Anfang gelesen, den Maler als 'Schöpfer' von Landschaften verstanden, die den Betrachter an eine andere Schöpfung gemahnen sollten, eine Erde zwar nach Sündenfall und Sintflut (hier ist der Regenbogen unübersehbar), aber doch eine Welt mit Chancen, so der Mensch sie vernünftig wahrnimmt. Diese Weltentwürfe haben für mich in den letzten Jahren etwas Endzeitliches bekommen.

Auch rückblickend: denn der schwarzen "Palme mit Wunde" von 1983 korrespondierte plötzlich eine "Schwarze Düne" von 1969. Die den Bildern der letzten Jahre häufigeren Wunden lassen sich als der Bild gewordene Riß in der Schöpfung verstehen, von dem schon Georg Büchner sprach. Sie könnten aus heutiger Sicht genauso gut das mit malerischen Mitteln sichtbar gemachte Ozonloch anspielen, das, von der Antarktis ausgehend, inzwischen Argentinien erreicht hat. Und auch die Wolken haben wenig Romantisches, sind sichtbar vielleicht auch das, was uns unsichtbar die oberirdischen Atomtests und kürzlich erst Tschernobyl beschert haben. Das muß nicht so sein das könnte so sein, Graduell lassen sich die Arbeiten Schreiners sicherlich verschieden lesen, tendenziell kaum. In jedem Fall aber wollen sie nachdenklich betrachtet werden und, richtig betrachtet, zum Nachdenken führen. Dazu aber ist letztlich jeder selbst aufgefordert.

[Kunstkabinett Bacher, Horb, 25.10.1986]

Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.

Wenn ein Künstler in einer Galerie zum ersten Mal ausstellt, ist es vernüftig, ihn vorzustellen. Im Falle Hans Schreiners wäre dann darauf hinzuweisen, daß er Schüler des unlängst verstorbenen Manfred Henningers war und sich auch stets dazu bekannt hat. Daß er Mitte/Ende der 50er Jahre engeren Kontakt zu jener legendären Gruppe 11 hatte, also zu Atila (heute Paris), Günther C. Kirchberger (heute Krefeld), Friedrich Sieber (Stuttgart) und Georg Karl Pfahler (heute Nürnberg) die Malerei des deutschen Südwestens an die internationale Entwicklung nach dem Kriege wieder anschlossen. Und es wäre zu betonen, daß Hans Schreiner nach seiner wichtigen informellen Werkphase einen dann sehr eigenen und eigenwilligen Weg einschlug, den er bis heute - unberührt von den schnell wechselnden Moden und Trends des Kunstmarkts - konsequent fortgeschritten ist.

Diese Konsequenz und die Konstanz seines Werkes, von der noch zu sprechen sein wird, brachten ihm Mitte der 60er Jahre das Villa-Massimo-Stipendium und in diesem Jahr das internationale Stipendium der Cité des Arts, ein Paris-Stipendium ein, vor allem aber 1985 den Hans-Molfenter-Preis. Dieser Preis ist an den Namen eines Malers gebunden, für den "nicht nur ein moralisches, sondern auch" das "künstlerische Gewissen "zählte, das durch nichts erschüttert werden" dürfe, eine Haltung, die auch für Hans Schreiner charakteristisch ist.

Will man sie technisch beschreiben, umfaßt die heutige Ausstellung Hans Schreiners Acrylbilder und Aquarelle. Das klingt weitgestreut und ist dennoch bei Hans Schreiner gar nicht so weit auseinander, wenn man genauer hinsieht. Denn seine Aquarelle versuchen nicht den flüchtigen Augenblick festzuhalten. Sie entstehen nicht spontan, eher langsam. Dabei verwenden sie die Farben weniger lasierend, eher deckend, in einem Auftrag, der nach dem Trocknen aufhellt und gelegentlich durchaus dem Pastell ähnliche Wirkungen erzielt. Auch mit den wasserlöslichen Acrylfarben arbeitet Hans Schreiner seltener lasierend, meist pastos, was die von ihm gewollte haptische Wirkung der Farbe ergibt. Verkürzt ließe sich sogar sagen, daß die Aquarelle Hans Schreiners, an der Grenze zur Gouache, auf der einen und die Acrylbilder auf der anderen Seite lediglich technische Varianten einundderselben sinnlichen Farbauffassung sind. Daß dabei Schreiners Arbeiten auf Papier, die Aquarelle oft experimentell erproben, was die späteren Leinwandbilder durchführen, bestätigt diese Nähe, die nicht nur technisch, sondern auch thematisch gegeben ist. Tema con variazioni also formal wie inhaltlich.

Damit komme ich zur inhaltlichen Diskussion der Schreinerschen Arbeiten, zur Frage der Landschaft. Und hier ist Aufmerksamkeit geboten. Denn Hans Schreiner zeichnete, aquarellierte, malte Landschaften, 1ange bevor dieses Sujet "als Farb- und Ausdrucksträger" (Wirth, S. 178 ff.) Ende der 70er Jahre plötzlich wieder populär wurde. Und er ging bei seinen Arbeiten nicht von realen Landschaften aus, die er seinen Intentionen entsprechend abstrahierte oder ummodelte. Seine Landschaften entstanden vielmehr und entstehen im Atelier aus abstrakt-materialen Malvorgängen, sind - als Ergebnis dieser Malvorgänge - eher ideale Landschaften, Idee von Landschaft, landschaftliche Ideation.

Es gibt eine Bleistiftzeichnung Schreiners aus dem Jahre 1968 (Werkmonographie, S. 122), die Hans Schreiner "Eine Landschaft entsteht" getitelt hat. Sie führt im Doppelsinn vor, was Landschaftrnalerei hier bedeutet:

Hans Schreiner hat seine Kunst einmal auf die Formel gebracht, er suche eine Entsprechung zwischen dem, was in ihm sei, und von dem, was außerhalb ihm stehe. Bezogen auf diese Formel wären die Bilder und Aquarelle der heutigen Ausstellung sichtbare Gestalt, Erscheinung dieser Entsprechung, Außenwelt einer Innenwelt, deren Spiegelung moralischem wie künstlerischem Gewissen verpflichtet ist.

Nach dieser eher allgemeinen Charakteristik des Schreinerschen Werkes möchte ich jetzt konkret ansetzen, und zwar bei einem kleinen Aquarell, das Ihnen von der Einladung her bereits vertraut ist. Ich gehe dabei davon aus, daß Sie die Abbildung dieser Arbeit, die auch in der Ausstellung hängt, genauer betrachtet haben. Wähle diese Arbeit aber auch, weil sich das, was ich zu ihr sagen möchte, anschließend von jedem nachprüfen läßt, hier in der Ausstellung oder Zuhause.

Eine einlässige Analyse, das Überziehen eines Rasters läßt schnell ablesen, wie komponiert - nicht konstruiert! - dieses Aquarell ist. Deutlich zeigt es eine Doppelstruktur. Vertikal in der vulkanschlotähnlichen Zäsurierung der dominierenden roten Fläche, die, unten breiter, sich allmählich verjüngt und in einem Wasser- oder Lavabecken endigt. Horizontal in der Kontur eines an Gebirge erinnernden Horizonts, über dem sich - von links nach rechts gelesen - ein Riß, ein wolkenähnliches Gebilde befindet und über den ein Regenbogen sich schlägt. Unter letzterem verliert sich in der Diagonalen die Andeutung einer Röhre, eines Schlotes.

Das Bildgeschehen findet also links der senkrechten und deutlich oberhalb der waagerechten Mittelachse statt. Damit wäre die ästhetische Spannung dieses Aquarells eigentlich schon erkannt und beschrieben. Berücksichtige ich noch das dominante Rot der Landschaft, das Braun des Firmaments, sind die Möglichkeiten, mich dieser Arbeit analytisch zu nähern, zunächst erschöpft.

Begreife ich sie aber als Außenwelt einer Innenwelt, muß ich - über die Komposition hinaus - noch auf anderes achten, konkret auf das, was mein Auge zu der Formenwelt des Aquarells assoziiert.

Das wäre zum einen die schon als Wolke gedeutete Form, die genau auf der senkrechten Mittelachse liegt, was ihr bereits kompositorisch Gewicht gibt. Links von ihr wäre es der Riß im Firmament, der sich auch als Schnitt, Schnittwunde, als Verletzung deuten ließe. Rechts von ihr wäre es der Regenbogen, seit der Renaissance Wasserzeichen des melancholischen Künstlers, aber auch Brücke zwischen Himmlischem und Irdischem und zugleich Symbol für die Grenzen menschlicher Naturerkenntnis.

Der auffällig hoch liegende Horizont des Aquarells läßt ihn kaum überwindbar erscheinen. Wobei mir drei umgangsprachliche Assoziationen hilfreich scheinen.

So sagen wir einmal: etwas erscheine am Horizont, der berühmte Silberstreif zum Beispiel. Bei Hans Schreiner erscheinen hie Risse, Wolken, Rauchzeichen, Regenbögen.

Wir sagen aber auch: jemand überschreite den/seinen Horizont. In diesem Fall assoziiert Horizont Weite, Unendlichkeit. Aber das braune Firmament dieses Aquarells wirkt eher wie eine Mauer, eine undurchdringliche Wand.

Drittens sagen wir noch, daß etwas über unseren Horizont gehe, wenn wir etwas nicht begreifen wollen oder können. Auch dies läßt sich vor allem auf die letztjährigen Arbeiten Hans Schreiners ummünzen, wenn wir begreifen, daß sie uns etwas zu verstehen geben wollen, das einzusehen wir (noch) nicht gewillt sind.

Gehe ich davon aus, daß eine so gelesene, oder vielleicht besser: daß eine so meditierte Landschaft Ergebnis eines zunächst abstrakt-materialen Malvorgangs ist, daß dieser abstrakt-materiale Malvorgang zugleich von der Innenwelt des Künstlers gesteuert wird, sein Ergebnis also als Außenwelt einer Innenwelt betrachtet werden kann, dann habe ich noch einen für das Verständnis der Schreinerschen Arbeiten gewichtigen Faktor außer Acht gelassen: den Betrachter selbst. Dieser Betrachter ist bei den Arbeiten Hans Schreiners Landschaften konfrontiert, die menschenleer sind. Der Mensoh also nicht in sondern vor einer Landschaft, und dabei nicht vor einer natürlichen, wie auch immer abgebildeten, sondern vor einer imaginierten, aus einem Malprozeß resultierenden Landschaft.

Was dies in Konsequenz meint, kann ein Vergleich mit romantischen Landschaften verdeutlichen, konkret mit Landschaften Caspar David Friedrichs, die dem Betrachter des Bildes im Bild selbst einen Betrachter vorschalten, sei dies der "Mönch am Meer", der "Mondaufgang am Meer", "Zwei Männer, den Mond betrachtend oder der "Wanderer über dem Nebelmeer". Diese Vermittlung fehlt im Falle Hans Schreiners. Der Betrachter seiner Bilder steht unvermittelt vor Landschaften, die er nachdenklich betrachtet, über die er betrachtend nachdenken sollte. Als Außenwelt einer Innenwelt sind Schreiners Landschaften Vorschläge, ja Aufforderung zu meditativem Nachvollzug, zielen also wiederum auf Innenwelt. Sie bieten ihrem Betrachter, mit einem Wort Schreiners, einen "Emotionsraum" an, dessen Formenwelt sich lesen läßt als Himmel und Erde, als Vulkan und Wolke, als Rauchzeichen und Regenbogen, als Baum oder Mauer, als Düne oder Berg, als Spur oder Weg. Wobei die Formvorgaben des Künstlers nicht immer eindeutig sind, oft unterschiedliche Lesungen zulassen. (So hängt in Schreiner Atelier ein Bild, das sich durchaus auch als erotische Landschaft lesen ließe).

In der Zuordnung der Landschaften zueinander, in der Werkentwicklung Schreiners beobachte ich dabei zunehmende Skepsis. Ein Überschreiten des Horizonts scheint kaum mehr möglich. Denn die Weite des Himmels wäre letztlich unverwundbar. Wunden setzen feste Körper voraus. Der Himmel, das Firmament also nicht als Raumtiefe, sondern als Mauer. Dem entspricht, daß Schreiner in letzter Zeit die Farben oft dicker aufträgt, so daß bei richtiger Ausleuchtung reliefartige Wirkungen, Schattenwürfe entstehen, die durchaus etwas Bedrohliches haben. In ihrer reliefartigen Struktur rücken aber - übertragen gesprochen - Himmel und
Firmament gleichsam als unüberwindliche Mauer auf den Betrachter zu. Aus den Landschaften noch ohne Menschen werden Landschaften wieder ohne Menschen. Daß sie beides sein können, resultiert aus der Komplexität der Schreinerschen Bilder. Daß sie auch unser aller Bedrohtsein implizieren, erweist sie als existentiell.

Ich habe die Arbeiten Schreiners lange Jahre als ästhetische Weltentwürfe am Anfang gelesen, den Maler als Erfinder von Landschaften verstanden, die dem Betrachter eine andere Schöpfung in Erinnerung bringen sollten: eine Erde zwar nach Sündenfall und Sintflut (auch dabei ist der Regenbogen unübersehbar), aber doch eine Welt mit Chancen, so der Mensch sie nur vernünftig wahrnimmt. Diese Weltentwürfe haben für mich in den letzten Jahren etwas Endzeitliches bekommen. Die Schreiners Bildern jetzt häufiger eingeschriebenen Risse stellen zwar auch die Frage, was denn dahinter sei; aber sie sind, wo sie Rotes dahinter aufscheinen lassen, auch und immer deutlicher Verletzungen, Wunden, lassen sich zunehmend als der zum Bild gewordene Riß in der Schöpfung verstehen, von dem vor über 150 Jahren schon Georg Büchner sprach. Das muß nicht so sein, das kann aber sein. Graduell lassen sich die Gemälde und Aquarelle Schreiners, die hier zu besichtigen sind, verschieden lesen. Tendentiell kaum. In jedem Fall aber wollen sie nachdenklich stimmen, zum meditativen Nachvollzug anhalten. Erst wenn die in die Außenwelt des Bildes projizierte Innenwelt des Künstlers in die Innenwelt eines Betrachters zurückgeworfen wird, wird Kunst zum Prozeß, funktioniert ästhetische Kommunikation. Zu ihr aber ist letztlich jeder selbst aufgerufen.

[Hans Schreiner: Gemälde und Aquarelle. Kunstverein Augsburg, 14.1.1987]