Wie bei sonst kaum einem Künstler des 20.Jahrhunderts hat sich um das Werk und die Person Kurt Schwitters' bereits zu seinen Lebzeiten eine Vielzahl von Anekdoten gerankt, derart, daß es heute oft nur schwer möglich ist, Legende und Wirklichkeit voneinander zu trennen, ja daß es heute eher möglich scheint, Leben und Werk in einer Reihung von Anekdoten Revue passieren zu lassen, als sie anhand der wenigen bisher gesicherten Fakten zu beschreiben.
Daran tragen nicht nur die Erinnerungen seiner Freunde Schuld; Schwitters selbst hat, Zeit seines Lebens vor allem an seiner Kunst interessiert, unbewußt und gelegentlich auch ganz bewußt dieser Anekdotenbildung Vorschub geleistet. 1887 in Hannover geboren, gab er später die verschiedensten Geburtsorte an, geographisch benachbarte wie Einbeck oder Lüneburg, aber auch Orte im Ausland oder gar erfundene. Wie wenig ihn seine Biographie, wie sehr ihn statt dessen der unsinnige Text reizte, der sich unter dem Vorwand des Autobiographischen schreiben ließ, zeigt exemplarisch eine "Kurze Lebensbeschreibung" aus dem Jahre 1939:
Ich wurde als ganz kleines Kind geboren. Meine Mutter schenkte mich meinem Vater, damit er sich freute. Als mein Vater erfuhr, daß ich ein Mann war, konnte er sich nicht mehr halten und sprang vor Freude im Zimmer herum, denn er hatte sich sein ganzes Leben immer nur Männer gewünscht. Die größte Freude für meinen Vater aber war es, daß ich kein Zwilling war. - Dann wuchs ich heran zur Freude anderer, und es ist schon immer in meinem ganzen Leben mein Bestreben gewesen, anderen immer nur Freude zu bereiten. Wenn sie sich dann manchmal aufregen, dafür kann ich ja nichts. Mein Lehrer freute sich immer, wenn er mich ohrfeigen konnte, und die ganze Schule war froh, als ich mit ihr fertig war.
Anders als bei Richard Huelsenbeck, aber ähnlich wie bei seinem Freunde Hans Arp war die von Schwitters in den zwanziger Jahren bezogene Position eigentlich unpolitisch, nicht von ständigem Nachdenken über die eigene Person begleitet, statt dessen eine radikale Entscheidung für eine neu gewollte Kunst, die er - nun allerdings im Gegensatz zu seinem Freunde Arp - auch ständig theoretisch zu rechtfertigen versuchte. Etwas später als Arp vor die Entscheidung gestellt, war seine Abkehr von einer als nicht mehr nachvollziehbar und in ihren ästhetischen Vorstellungen erfüllbar empfundenen Tradition bewußter, vielleicht auch konsequenter. Hielt Arp noch 1962 anläßlich eines Interviews fest: Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes. Aber wir wußten nicht, was! Wir hatten kein Programm, hatte Schwitters von dem, was er wollte, sehr bald ziemlich genaue Vorstellungen, proklamierte er 1919 als sein Programm "Merz" und überspitzte 1922 gegenüber den traditionellen Kunstvorstellungen: Im Übrigen wissen wir, daß wir den Begriff 'Kunst' erst los werden mÜssen, um zur 'Kunst' zu gelangen.
Was heute von Schwittersscher Kunst bekannt ist, sind vor allem seine "Merzbilder" und "Merzzeichnungen" und sein berühmtestes Gedicht "An Anna Blume", erstere in zahlreichen Ausstellungen zunächst im Ausland, dann auch in Deutschland immer wieder in Auswahl gezeigt, letzteres in mehrere Sprachen übersetzt und gelegentlich sogar in Gedichtsammlungen aufgenommen, die dem literarischen Dadaismus sonst keinen Platz einräumen. Oeuvre- Ausstellungen, der Neudruck zunächst aller "Anna Blume"-Texte ("Anna Blume und ich", 1965) und der "Auguste Bolte" (1966), eine fünfbändige Gesamtausgabe des "Literarische[n] Werk[s]" haben mit einer zunehmenden Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen in letzter Zeit dazu beigetragen, die Kenntnis des Schwittersschen Gesamtwerks zu intensivieren, und verwirren dennoch ein wenig die Dimensionen. Denn die "Anna Blume"-Texte, die "Auguste Bolte", die "Merzbilder" und "Merzzeichnungen" stellen nur Teilaspekte des Schwittersschen Werkes dar, zu dessen spezifischer Variationsbreite als weitere Aspekte das Feuilleton ebenso wie der Schlager, das Kinderbuch ebenso wie der Werbetext, die literarische Polemik ebenso wie die "Ursonate", das Bühnenstück ebenso wie die "KdeE", wie der "Merzbau", die Typographie ebenso wie die Herausgabe der Zeitschrift "Merz", wie eine dies alles ständig begleitende, von Schwitters geforderte fortwährende Selbstkritik gehören. Sie alle sind Einzelaspekte des Schwittersschen Generalthemas "Merz", und sie alle sind Vorstufen, Bruchstücke innerhalb einer Tendenz zu einem spezifischen Gesamtkunstwerk, das Schwitters vorschwebte, das er aber - nicht nur aus äußerlichen Gründen wie Flucht, Emigration, Zerstörung der "Merzbauten" in Hannover und Norwegen - nie verwirklichen konnte. Denn, schränkte er schon 1921 ein, schaffen können wir es nicht, denn auch wir würden nur Teile, und zwar Material sein.
Es war dieses "Merzgesamtkunstwerk", das Schwitters als künstlerisches Ziel seit 1919 ständig vorgeschwebt und das er - zum erstenmal 1919 - programmatisch gefordert hat: Ich fordere die Merzbühne. - Ich fordere die resdose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien [...] Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialien [...] Ich fordere die gewissenhafteste Vergewaltigung der Technik bis zur vollständigen Durchführung der verschmelzenden Verschmelzungen [...] - Vor allen Dingen aber fordere ich die sofortige Einrichtung einer internationalen Experimentierbühne zur Ausarbeitung des Merzgesamtkunstwerkes. - Ich fordere in jeder größeren Stadt die Einrichtung von Merzbühnen zur einwandfreien Darstellung von Schaustellungen jeder Art. ["An alle Bühnen der Welt"]. An anderer Stelle ["Die Merzbühne", 1919] beschreibt Schwitters das Merzbühnenwerk als abstraktes Kunstwerk, das sich von Drama und Oper dadurch unterscheide, daß bei ihm Bühnenbild, Musik und Aufführung nicht zur Illustration eines Textes dienten, der selbst schon eine Illustration der Handlung sei, daß bei ihm im Gegenteil sämtliche Teile untrennbar miteinander verbunden seien; es kann nicht geschrieben, gelesen oder gehört, es kann nur im Theater erlebt werden. [...] Die Merzbühne kennt nur die Verschelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk. Dabei sind die Materialien nicht logisch in ihren gegenständlichen Beziehungen, sondern nur innerhalb der Logik des Kunstwerkes zu verwenden. Je intensiver das Kunstwerk die verstandesmäßig gegenständliche Logik zerstört, um so gröBer ist die Möglichkeit künstlerischen Aufbauens. Und Schwitters fordert: Wie man bei der Dichtung Wort gegen Wort wertet, so werte man hier Faktor gegen Faktor, Material gegen Material.
Wie Schwitters sich ein solches "Merzgesamtkunstwerk" vorstellte, erläuterte er in den "Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne" [1919]: Nun beginne man die Materialien miteinander zu vermählen. Man verheirate zum Beispiel die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft, den Lampenputzer bringe man in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a. Die Kugel gebe man der Fläche zum Fraß und eine rissige Ecke lasse man vernichten durch tausendkerzigen Bogenlampenschein. Man lasse den Menschen auf den Händen gehen und auf seinen Füßen einen Hut tragen, wie Anna Blume. (Katarakte.) Schaum wird gespritzt. - Und nun beginnt die Glut musikalischer Durchtränkung. Orgeln hinter der Bühne singen und sagen: Fütt, Fütt. Die Nähmaschine rattert voran. Ein Mensch in der einen Kulisse sagt: "Bäh". Ein anderer tritt plötzlich auf und sagt: "Ich bin dumm". (Nachdruck verboten.) Kniet umgekehrt ein Geistlicher dazwischen und ruft und betet laut: O Gnade wimmelt zerstaunen Halleluja Junge, Junge vermählt tropfen Wasser.
Man täte Schwitters Unrecht, wollte man eine solche Erläuterung, wie es wiederholt geschehen ist, nur als künstlerischen beziehungsweise als nur-künstlerischen Ulk abwerten. Ulk beziehungsweise in der Schwittersschen Terminologie Unsinn ist sie sicher auch. Aber dahinter verbirgt sich etwas Grundsätzlicheres, dem heutigen Leser durch den historischen Abstand und die daher möglichen Überblicke wie auch durch die Kenntnis der "Happenings" leichter ersichtlich: das Dilemma nämlich des Künstlers zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegenüber einem Kunstverständnis, wie es das ausgehende 19. Jahrhundert ausgebildet hatte, gegenüber nicht mehr erfüllbaren Gattungsforderungen zu einem neuen, seiner eigenen Situation entsprechenden Kunstverständnis und damit auch zu einem neuen, eigenen Selbstverständnis als Künstler zu gelangen.
In einem "Nachwort" zur "Anna Blume" hat Schwitters 1919 dieses neue "Selbstbestimmungsrecht der Künstler" für sich abzuleiten versucht, wobei sich entsprechend der Konzeption vom Gesamtkunstwerk die Vorstellung von einem Gesamtkünsder andeutet. Folgerichtig, wenn auch ein wenig naiv, heißt es dann in einem 1921 veröffentlichten, "Merz" überschriebenen Aufsatz:
Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbühne, die ich bislang nur theoretisch durcharbeiten konnte.
Es muß einer gründlichen und umfangreichen Analyse vorbehalten bleiben, en détail zu zeigen, wie radikal der Schwitterssche Ansatz ist, wie weit in diesem Ansatz die einzelnen künstlerischen Tätigkeiten auf dasselbe hinzielen und sich gegenseitig bedingen, wie sehr Schwitters beim Einzelnen das Gemeinsame vorschwebte. Immer wieder begegnen bei ihm seit 1919 Formulierungen, die auf das Analoge der einzelnen künstlerischen Tätigkeiten hinweisen: Die Merzdichtung ist abstrakt. Sie verwendet analog der Merzmalerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen. Oder umgekehrt [1931]: Auch in der Malerei verwende ich für die Komposition gern die Brocken des täglichen Abfalls, etwa wie der Schacko aufgebaut ist aus den Reden seiner Besitzerin. So entstanden meine Merzbilder. Und man könnte verallgemeinern, daß die Entwicklung des Autors Schwitters ihre Entsprechung findet in der Entwicklung des bildenden Künstlers und umgekehrt, daß der Typograph Schwitters nicht vorstellbar ist ohne den bildenden Künstler, aber auch nicht ohne den Autor von Werbetexten und umgekehrt, und so weiter. Aber erst alles zusammen würde seine künstlerische Entwicklung in ihrer ganzen Komplexität zeigen.
Keinesfalls legitimieren die Tatsache, daß das "Merzgesamtkunstwerk" nur Theorie, gleichsam naive künstlerische Utopie blieb, und die politisch bedingte Emigration nach Norwegen und England und eine damit verbundene, oft nur zufällige künstlerische Produktion dazu, das eine zu beschreiben und das andere auszulassen oder nur als Randerscheinung zu werten. Und wenn im folgenden jetzt fast ausschließlich vom literarischen Autor Schwitters die Rede ist, so ist das zwar auch möglich, weil das geforderte Gesamdkunstwerk, in sich utopisch, nur Theorie blieb, aber es geschieht mit der Einschränkung, daß nur ein Aspekt des künstlerischen Werkes zur Sprache kommt, der zugleich immer verstanden werden muß als Teil eines nicht erreichten Ganzen.
"Das literarische Werk" Schwitters' ist erstaunlich umfangreich und selbst nach seiner Edition kaum übersichtlich. Zahlreiche Manuskripte, darunter allein acht Bühnenstucke, befanden sich in dem immer noch nicht vollständig zugänglichen Nachlaß. Eine "Ausgewählte Bibliographie" von Hans Bolliger umfaBt 248 (selbständige und unselbständige) Titel und deutet den Umfang des literarischen Werkes an. Ein genaues Bild über das literarische Werk ist ferner bis heute kaum möglich, da zahlreiche Einzelveröffentlichungen an entlegener Stelle nicht nur in kaum zugänglichen kleinsten Zeitschriften erfolgten, sondern auch - das gilt speziell für die Grotesken - in heute nur schwer erreichbaren Tageszeitungen [in Breslau, Prag oder Königsberg], oft wiederholt an verschiedener Stelle, abgedruckt wurden. Dennoch sind gewisse Tendenzen der Entwicklung anhand der bekannten Publikationen ablesbar.
Über die literarischen Anfänge Schwitters' lassen sich nur Vermutungen anstellen. Ein einziges, in "Der Ararat" 1921 mit veröffentlichtes "Herbst"-Gedicht:
Es schweigt der Wald in Weh.datiert 1909, zeigt Schwitters naiv-dilettierend in der Nähe einer sogenannten Neuromantik, in der Tradition einer abgesunkenen symbolischen Redeweise, die er in späteren Gedichten wiederholt karikieren sollte. Für die Jahre bis 1919 sind mir bisher keine weiteren Veröffentlichungen bekannt geworden, so daß sich vermutlich Gedichte der zitierten Art, aber auch Gedichte der Folgezeit, wenn überhaupt, nur im Nachlaß befinden dürften. Schwitters selbst hat zwar 1921 noch diesen alten Text veröffentlicht, legte ihm aber für seine literarische Entwicklung selbst keinen Wert mehr bei, wenn er I927 in "Merz 20" pointierte: Ich begann in der Dichtung im Jahre 1917, mit einer Gestaltung, ähnlich der äußeren Form August Stramms. Bald gewann ich eine eigene Form, in meiner dadaistischen Zeit. Sie kennen ja alle mein Gedicht an Anna Blume.
Er muß geduldig leiden,
Daß nun sein lieber Bräutigam,
Der Sommer, wird scheiden.Noch hält er zärtich ihn im Arm
Und quälet sich mit Schmerzen.
Du klagest, Liebchen, wenn ich schied,
Ruht ich noch dir am Herzen,
Im Jahre I917 arbeitete Schwitters, sogenannter Hilfsdienstpflichtiger, als Maschinenzeichner in einem Eisenwerk nahe Hannover. Seit dieser Zeit, hielt Schwitters 1921 im "Sturm-Bilderbuch IV" fest, liebe ich die Zusammenfassung von abstrakter Malerei und Maschine zum Gesamtkunstwerk. Die Angaben von 1927 machen wahrscheinlich, daß seit etwa 1917 auch die literarischen Ansätze jener Texte datieren, wie sie Schwitters dann seit 1919 vor allem in "Der Sturm" und in den selbständigen "Anna Blume"-Veröffentlichungen immer wieder publiziert hat.
Spätestens seit 1918/1919 subsumierte Schwitters seine Arbeiten unter der Bezeichnung "Merz". Ich verließ meine Arbeitsstelle ohne jede Kündigung und nun gings los. Jetzt begann das Gären erst richtig. Ich fühlte mich frei und mußte meinen Jubel hinausschreien in die Welt. Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich fand, denn wir waren ein verarmtes Land. Man kann auch mit Müllabfällen schreien, und das tat ich, indem ich sie zusammen leimte und nagelte. Ich nannte es Merz [...] Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen. 1918 suchte Schwitters auch engen Kontakt zu Herwarth Walden und seinem "Sturm"-Kreis. Im Januar 1919 stellte er zusammen mit Klee und Molzahn bereits in der Sturm-Galerie aus, im Juni 1919 veröffentlichte "Der Sturm" die fünf Gedichte "Nächte", "Am Rande meines Welkens bin ich sanfte Nacht", "Ich werde erbaut", "Ich werde gegangen" und "Wir", von denen die ersten vier in anderer Reihenfolge im gleichen Jahr in die "Anna Blume" aufgenommen wurden, und zwar als "Gedicht 7", "Gedicht 14", "Gedicht 18" und "Gedicht 19".
Die Numerierung der Gedichte durch Schwitters bei der Buchveröffentlichung ist deshalb nicht uninteressant, weil sich so nachträglich eine Anordnung entsprechend der Entstehungszeit herstellen und mit ihrer Hilfe eine Annäherung an wie auch eine Entfernung von einer Stramm-nahen Wortkunst ablesen läBt. Hier muß allerdings angemerkt werden, daß bei Schwitters nebeneinander verschiedene durchlaufende Numerierungen begegnen, die nicht verwechsedt werden dürfen. So finden sich weitere durchlaufende Numerierungen für die "Merzgedichte" und Schwitters' Auseinandersetzungen mit der Kunstkritik, die sogenannten "Tran"-Texte; schließlich sind die späteren Typo[und Manu]skripte, gleichgültig ob es sich dabei um Prosa, Gedicht oder Drama handelt, fortlaufend gezählt (ohne daß diese Zählung bei den jeweiligen Drucken vermerkt ist).
Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß ein Teil der seit 1919 veröffentlichten Texte, vor allem der Gedichte, nicht ohne den EinfluB Stramms denkbar ist. Schwitters selbst hat im "Selbstbestimmungsrecht der Künstler" (1919) ausdrücklich auf Stramm hingewiesen: Stramm war der große Dichter. Die Verdienste des Sturm um das Bekanntwerden Stramms sind sehr. Die Verdienste Stramms um die Dichtung sind sehr. Spätestens 1918 muß Schwitters mit den Dichtungen Stramms in Berührung gekommen sein. Es ist kennzeichnend, daß er auch hier wie in der bildenden Kunst nicht etwas Neues erfand, sondern Tendenzen aufnahm und in seinem Sinne verarbeitete. Entsprechend seiner Forderung, daß der kritische Künstler stets konsequent, der Imitator hingegen extrem sei, handelt es sich bei diesen Stramm-nahen Gedichten keinesfalls um Imitationen. Im Gegenteil erscheint bei Schwitters ein ähnliches, zum Teil wörtlich entsprechendes Vokabular ganz anders eingesetzt, durcheinandergespielt, gleichsam als Ensemble von Versatzstücken. In dem "Portrait Rudolf Blümner / Gedicht 30" zum Beispiel zeichnet sich bereits ab, was Schwitters 1919 für die "abstrakte Dichtung", wenn auch noch mit 'expressionistischer' Färbung, generell festhielt, nämlich daß sie Werte gegen Werte werte. Man kann auch Worte gegen Worte sagen. - Das ergibt keinen Sinn, aber es erzeugt Weltgefühl, und darauf kommt es an. Das Wort hat Versatzstückcharakter bekommen, so sehr, daß Schwitters für die 1919 einsetzende "Merzdichtung" pointierte: die Teile brauchen nicht zum Sinn zu passen, denn es gibt keinen Sinn mehr. [...] Es gibt nur noch Teile des Gedichtes. Wenn die "Merzdichtung" als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen verwendet, so kann man dieses Verwenden vorgegebener Teile [eines vorgefundenen Stils und Vokabulars] bereits in den Stramm-nahen Gedichten zumindest als Tendenz ablesen. Nur so erklärt sich auch, warum Schwitters 1919 in der "Anna Blume" beide Gedichttypen durcheinander gemischt zusammenfassen konnte. Aber auch rein Formales der späteren "Merzdichtungen" deutet sich in diesen Gedichten bereits an: Wiederholungen, Umkehrungen, umgangssprachliche Grammatik, syntaktische Brechungen, Sinnentstellung durch Einfügung meist umgangssprachlicher Versatzstücke, die Kombination heterogener Elemente. Das "Gedicht 29" "Achtung, bitte Privatherrschaften!" ist bereits "Merzdichtung" reinsten Wassers und zeigt zugleich, wie fliessend die Ubergänge sein können. Umgekehrt begegnen in den Merz-Texten Reminiszenzen einer Stramm-nahen Diktion.
Man geht jedoch sicher nicht zu weit, wenn man in einem weiteren Sinne nicht nur von einem Einfluß Stramms, sondern generell von einem Einfluß des "Sturm" spricht, zumal Schwitters diesen in seinem "Nachwort" zur "Anna Blume" ausdrücklich betonte. Daß auch die Texte und Theorien des italienischen Futurismus ihre Spuren hinterlassen haben, erklärt sich ebenfalls aus Schwitters' Bindung an den "Sturm", ist aber auch indirekt über Stramm nachweishar. Das alles läBt sich begründen mit einer grundsätzlichen Aufnahmebereitschaft Schwitters' zeitgenössischen künsderischen Tendenzen gegenüber. In allen Fällen gilt jedoch, daß Schwitters sofort die Einflüsse auf seine Weise verarbeitete, die Anregungen auf seine Weise aufnahm und weiterführte. Die Stramm-nahen Texte können dabei als Vorstufen der "Merzgedichte" verstanden werden, die sich, wie das "Gedicht 29" oder ein in die "Anna Blume" von 1922 neu aufgenommenes Gedicht "Schreizen" andeuten, vor allem durch eine konsequente Collage-Technik und eine immer bewußtere Aufnahme von umgangssprachlichen, banalen Versatzstücken von den Stramm-nahen Texten abheben, deren sprachliche Diktion sie gelegentlich aber durchaus wieder aufnehmen können.
Das berühmteste "Merzgedicht" und in der Schwittersschen Zählung gleichzeitig das erste ist "Die Blume Anna" [so die Uberschrift der ersten, 1922 in "Der Sturm" veröffentlichten Fassung]. Die zweite, schon 1919 in "Anna Blume" veröffentlichte Fassung ["An Anna Blume"] zeigt einige bemerkenswerte Straffungen und Korrekturen, die die Struktur dieses Gedichtes deutlicher hervortreten lassen und zugleich den wiederholt erhobenen Vorwurf der Form ohne Inhalt, der burlesken Willkür [u.a. Wilhelm Duwe] fraglich machen.
Erwin Rotermund hat in einer Analyse dieses Textes darauf hingewiesen, daß trotz der heterogenen Teile [...] ein Strukturzusammenhang gewahrt sei; die einzelnen Elemente passen noch zum 'Sinn', wenn auch in parodistischer Weise. Rotermund zeigt ferner, daß in dem durch ein vierfaches ich liebe dir und durch vierfachen Anruf gegliederten Text - wenn auch parodistisch verzerrt, so doch deutlich erkennbar - typische Stilfiguren und Topoi aus der Tradition des Liebesgedichtes wiederkehren: der Liebespreis, die Frage nach dem Wesen der Geliebten, das Verschweigen des Intimen, der Preis der äußeren Schönheit und das Spiel mit dem Namen. Zahlreich sind auch versteckte Anspielungen auf literarische Vorbilder [Du bist wie eine Blume; Ergib dich meiner Liebesglut (Heine); Er, der Herrlichste von allen (Chamisso) u.a.]. Es ist der Gegensatz einer bis in die Anspielungen noch erkennbaren Gedichtstruktur und einem dazu unpassenden Inhalt, dem unsinnig verzerrten Gegenstand, der die parodistische Absicht so deudich hervortreten läßt.
Dennoch scheint mir die Einschränkung notwendig, daß dieser Text nicht das Liebesgedicht schlechthin parodiert. Die Stilfiguren und Topoi des Liebesgedichtes vor allem vor dem 19. Jahrhundert haben vielmehr ersichtlich die Funktion, eine solche unsinnige Textwelt zusammenzuhalten. Was parodiert wird, scheint vielmehr das Liebesgedicht einer sogenannten Erlebnislyrik des 19. Jahrhunderts zu sein, einer von Lautréamont so apostrophierten persönlichen Lyrik, was auch erklären würde, daß die versteckten Anspielungen und karikierten Zitate auf Beispiele des 19. Jahrhunderts zielen. Diese Ubernahme einer traditiondlen Gedichtstruktur unterscheidet aber das "Merzgedicht I" von anderen "Merzgedichten", in denen die von Schwitters geforderten Merztechniken viel konsequenter angewendet werden. Es ist darüber hinaus ein erster von immer wiederholten Versuchen, Liebesgedichte - wenn zumeist auch karikierte - zu schreiben. Am 7. Januar 1927 sah das Programm eines "Merz"-Vortragsabends "Neue Grotesken und Liebeslieder" vor. 1922 veröffentlichte Schwitters in "Der Sturm" einen schlagerähnlichen Text "Denaturierte Poesie", den er - mit Noten versehen - im gleichen Jahr unter der Überschrift "Poesie" in die "Memoiren Anna Blumes in BleiE / Eine leichtfaßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für Jedermann" aufnahm. 1926 schrieb er "Zwei Liebeslieder", von denen das zweite leicht variiert 19Z7 in "Merz 20" und 1928 in der "Zinnoberfestschrift" abgedruckt wurde. Ein in der gleichen Festschrift anonym publizierter kurzer Dialog "Der Leidenschaft" dürfte ebenfalls von Schwitters stammen und würde dann in seiner Reduktion auf die umgangssprachliche Banalität die weiteste Entfernung zu einer Liebeslyrik markieren, wie sie das "Herbst"-Gedicht von 1909 noch einmal naiv nachzuvollziehen versuchte. Ein 1939 veröffentlichtes, Hans Arp gewidmetes Gedicht "Die Liebe" ["Plastique 4"] vermeidet dagegen nur noch durch seine syntaktischen Brechungen ein Abgleiten ins Peinlich-Banale. Ähnliches gilt für das im englischen Exil geschriebene "She"-Gedicht [abgedruckt in Raoul Hausmann und Kurt Schwitters, "PIN and the story of PIN", 1962].
Was Schwitters für die "Merzdichtung" forderte, hat er - wie gesagt - in anderen Texten konsequenter durchgeführt, zum Beispiel in dem vermutlich verschollenen 'Roman' "Franz Müllers Drahtfrühling" (von dem nur das erste Kapitel in "Der Sturm", November 1922, veröffentlicht wurde, über dessen inhaltliche und formale Konzeption Kate T. Steinitz' und Arps Angaben aber Rückschlüsse zulassen) und in "Die Zwiebel / Merzgedicht 8". Fraglos kein Gedicht (diese Bezeichnung dürfte unsinnige, vielleicht auch provokative Fiktion sein), handelt es sich vielmehr um eine Prosa-Groteske, in die immer wieder sprachliche objets trouvés bis hin zum Inhaltsverzeichnis einer Aufklärungsschrift, aber auch sprachliche Stramm-Reminiszenzen eingeklammert beziehungsweise eingeschoben sind. Würde man die Einschiebsel ausklammern und gelegentliche syntaktische Verstellungen expressionistischer Provenienz eliminieren, hätte man es mit einer grotesken Prosa zu tun, wie sie Schwitters seit 1923 häufiger geschrieben und seit 1925 bevorzugt in den Feuilletons von Tageszeitungen, zum Teil ausdrücklich unter der Bezeichnung "Groteske", publiziert hat.
Diese Prosa-Grotesken wechselten im Umfang und erreichten im Falle der 1923 veröffentlichten "Tran Nr. 30 / Auguste Bolte / (ein Lebertran)" den Umfang einer selbständigen Publikation. (Das Titelblatt ist etwas irreführend, denn nur die Einleitung zählt - wie auch in "Die Blume Anna" - zu den als "Tran" durchnumerierten Auseinandersetzungen mit der Kunstkritik; darüber hinaus ist die "Auguste Bolte" an zweiter Stelle der Kunstkritik nur gewidmet. Mit seinen Prosa-Grotesken rückte Schwitters in die Nähe der expressionistischen Tendenz zur Groteske, wobei seine konsequente Reduktion auf Umgangssprache und alltägliche Banalität ihn nicht nur stilistisch von dieser Tendenz wiederum abhebt. Was ihm vorschwebte und was auch diese Grotesken noch der "Merztheorie" zuordnet, war eine Komposition aus Brocken des täglichen Abfalls, etwa wie der Schacko aufgebaut ist aus den Reden seiner Besitzerin.
Die Geschichte von "Schacko Jacco" erschien 1931 in "Merz 21", dem sogenannten ersten Veilchenheft, einer kleinen Sammlung von Merz-Dichtungen aller Art. In einem dieses Heft abschließenden Aufsatz "Ich und meine Ziele" formulierte Schwitters noch einmal seine Vorstellungen von einer nicht politischen, nicht tendenziösen Kunst und stellte dagegen auf, daß nur die abstrakte Kunst [...] unsere Zeit spiegelt, denn sie ist die letzte logische Phase in der Entwicklung der Kunst in der ganzen uns bekannten Zeit. Schwitters schränkte nun für seine Dichtung allerdings ein, daß es ihm in ihr schwer möglich sei, die Abstraktion rein durchzuführen, dazu genügen die heutigen Voraussetzungen noch nicht. Von meinen Dichtungen ist die am reinsten abstrakte die Ursonate. [...] Ich möchte hier auf den Beweis verzichten, stattdessen möchte ich bei "Schako" auf den Aufbau hinweisen, auf das abstrakte Gesetz in der Komposition. Ich selbst habe die Geschichte des Schacko von einer Frau erzählen hören, Wort für Wort - die ganze Dichtung -, und habe auch das arme Tierche dabei gesehen [...] Zum Kunstwerk wurde die Angelegenheit erst durch die Form: wie die
Aussagen der Frau einander gegenübergestellt sind, wie sie sich wiederholen, einander ergänzen, wie sie vorwegnehmen oder bestätigen, wie sie in ihrer Gesamtheit zusammenstehen, um immer deutlicher die Liebe der Frau zu ihrem Manne, einen abstrakten Begriff, und ihre Verzweiflung, wiederum einen abstrakten Begriff, immer klarer werden zu lassen, und das ist der Inhalt dieser Dichtung. Sie können in dieser Weise alle meine Dichtungen analysieren, und Sie werden mir zugeben, daß in diesem Sinne ihre Form immer abstrakt ist: Aussagen sind gewertet.
Es ist aufschlußreich, daß Schwitters etwa um die gleiche Zeit, in der er beginnt, reine, nicht vermerzte Grotesken zu veröffentlichen, sich kaum noch (theoretisch) mit der utopischen "Merzbühne" beschaftigte, sondern sich mit einer praktikablen "Normalbühne Merz" zu befassen begann. Eine Zeichnung dieser Bühne als Raumbühne und ein Modell dieser Bühne als Guckkastenbühne datieren mit 1925 beziehungsweise um 1925. Sie war gedacht als eine Bühne mit den allereinfachsten Formen und sollte einen neutralen Hintergrund für jede Handlung bilden können. Leicht veränderbar sollte sie durch Veränderung während der Handlung den Ausdruck derHandlungunterstützen. Die Seiten-Kulissen sind drehbar, vorn grau und hinten schwarz. Die Sonne oben ist rot. ["Merz 20", 1927]. Etwa um die gleiche Zeit begann Schwitters auch mit der Niederschrift bevorzugt grotesk-absurder Theaterstucke in umgangssprachlich-banaler Diktion, was sicher auch in der Beschäftigung mit der "Normalbühne Merz", wenigstens zum Teil, begründet war.
Solange das literarische Werk Schwitters' noch nicht übersichtlicher bzw. systematischer geordnet umd vollständig vorliegt, ist es zumindest leichtsinnig, für die Jahre 1922/23 von einem Wandel [Schmalenbach] zu sprechen. Vielleicht könnte man sagen, daß Schwitters nach seiner Forderung [1919] und seiner letzten theoretischen Durcharbeitung der in sich utopischen Idee der Merzbühne [...] auf ihre praktischen Möglichkeiten [Kurt Schwitters und Franz Rolan: "Aus der Welt: 'Merz'", 1923 in drei Fortsetzungen in "Der Sturm" veröffentlicht] gleichsam zurücksteckte und stückweise zu realisieren versuchte, was realisierbar war. Eine solche Auffassung ließe sich nicht nur mit der Argumentation des Aufsatzes "Ich und meine Ziele" und mit der Tatsache stützen, daß Schwitters noch 1931 "Eine kleine Sammlung von Merzdichtungen aller Art" zusammenstellte; sie ließe sich schließlich erhärten mit einigen sehr konsequenten Versuchen der Jahre 1922 bis mindestens 1932, einzelne Kunstarten entsprechend der "Merztheorie" miteinander zu vermischen.
Auch hier hat man es wiederum nicht mit Erfindungen Schwit-ters' zu tun, sondem mit der Aufnahme und allerdings eigenständigen Verarbeitung zeitgenössischer Tendenzen. Als Schwitters 1921 notierte, er habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen [...] Dies geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen - waren die Versuche der Kubisten, Schrift ins Bild aufzunehmen, ebenso bekannt wie die Arbeiten der Futuristen und die Versuche Guillaume Apollinaires, in seinen "Calligrammes" den semantischen Bezügen der Sprache außersprachliche (figurale) Bezuge zuzuordnen, das Thema des Gedichts gleichsam ins typographische Bild zu veräußerlichen.
Hinzu kam seit etwa 1900 die (typographische) Auffassung des Alphabets als eines materialen Ensembles vorgegebener graphischer Formen, die Betonung des formalen Eigenwerts des Buchstabens. Sehr wahrscheinlich in diesem Zusammenhang sind auch eine Anzahl von Alphabet-Gedichten zu verstehen. 19ZO veröf-fentlichte Louis Aragon unter der Überschrift "Suicide" lediglich die Buchstaben von a bis z in ihrer alphabetischen Reihenfolge, wobei vier Zeilen von je sechs und eine letzte Zeile von vier Buchstaben nur noch rein äußerlich den Eindruck eines Gedichtes vermitteln. 1922 veröffentlichte Schwitters in "elementar / Die Blume Anna / Die neue Anna Blume" gleich drei Alphabet-Texte, ein "Register / (elementar)" und zwei rückwärts angeordnete Alphabete, eins in Groß- ("Z A / [elementar]") und eins in Kleinbuchstaben ("Alphabet von hinten"). Helmut Heissenbüttel hat "elementar"-Texte dieser Art als Versuche verstanden, dem von den Futuristen und von Apollinaire entwickelten visuellen Gedicht neue, materialbezogenere Möglichkeiten abzugewinnen. Habe man dort noch bildhafte, bildwerdende Anordnung von Sinnelementen des Textes, so arrangiere Schwitters, bei Ausschaltung des Inhalts, lediglich einzelne Buchstaben zu einer Leseflache. - Genausogut kann man aber auch von einem Reduktionsprozeß sprechen, den man dann im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem nicht mehr nachvollziehbaren traditionellen Gedicht verstehen müßte, einem Prozeß, der zunächst ein mit Gefuhlswerten aufgeladenes und vorbelastetes Vokabular in den überraschenden Kontext stellte und schließlich das Wort selbst in Klang- und Buchstabeneinheiten auflöste. Entsprechend vermerkte Schwitters 1924 in seinem Aufsatz "Konsequente Dichtung": Die abstrakte Dichtung löste, und das ist ein großes Verdienst, das Wort von seinen Associationen, und wertete Wort gegen Wort; speziell Begriff gegen Begriff, unter Berücksichtigung des Klanges. Das ist konsequenter als Wertung poetischer Gefühle, aber noch nicht konsequent genug. [...] Die konsequente Dichtung ist aus Buchstaben gebaut. Buchstaben haben keinen Begriff. Buchstaben haben an sich keinen Klang, sie geben nur Möglichkeiten zum Klanglichen [...] Das konsequente Gedicht wertet Buchstaben und Buchstabengruppen gegeneinander.
Die Konsequenzen, die Schwitters für sich daraus gezogen hat, markieren das "Gesetzte Bildgedicht" [1922] auf der einen und auf der anderen Seite die seit 1923 ("Merz 4") wiederholt in Auszügen, I932 in "Merz 24" zum erstenmal vollständig veröffentlichte "Ursonate". Zwischen beidem ordnen sich als Vorstufen, aber auch als Sonderaspekte die "elementar"-Texte und das auf die pure Materialität des Buchstabens zurückgeführte "i-Gedicht" [1922] ein, in welchem dem i der deutschen Schrift der Merkvers des Volksschülers (lies: "rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf") zugeordnet ist. Schwitters hat nicht sehr viele selbst oder von anderen gefundene "i-Gedichte" veröffentlicht, sie aber 1923 in "Merz 2", der sogenannten Nummer i, theoretisch als sprachliche Fundstücke (vergleichbar etwa den bekannteren Ready-mades Marcel Duchamps) verteidigt: Ich habe diesen Buchstaben [i] zur Bezeichnung einer spezialen Gattung von Kunstwerken gewählt, deren Gestaltung so einfach zu sein scheint, wie der einfältigste Buchstabe i. Diese Kunstwerke sind insofern konsequent, als sie im Künstler im Augenblick der künstlerischen Intuition entstehen. Intuition und Schöpfung des Kunstwerkes sind hier dasselbe. - Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d. h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. [...] - Die einzige Tat des Künstlers bei i ist Entformelung durch Begrenzung eines Rhythmus. [...] Wer nun denkt, daß es leicht wäre, ein i zu schaffen, der irrt sich. Es ist viel schwerer als ein werk durch wertung der Teile zu gestalten, denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein, und selten findet man, wo man nur zuzugreifen braucht, um ein Kunstwerk zu erhalten.
Weniger eine Sondergattung, deren seltene Versuche mehr ein theoretisches und experimentelles als ein wirklich dichterisches Interesse an neuen formalen Möglichkeiten dokumentieren [Schmalenbach], scheinen mir die "i-Gedichte" eine wesentliche, wenn auch von theoretischem Interesse mitbestimmte Phase der Beschäftigung mit den Möglichkeiten zu sein, ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung von aufgefundenen unkünstlerischen Komplexen in der unkünstlerischen Welt, speziell dann von aufgefundenen an sich banalen Sätzen herzustellen [vgl. "Merz 4"], was ja auf die "Merzgedichte" zurück- und auf die späteren Prosa-Grotesken vorausweist.
Es ist bemerkenswert, daß Schwitters selbst dort, wo er - bei den "elementar"-Texten, ja selbst bei der "Ursonate" - an die Grenzen der Sprache vorstößt, dennoch oft eine vokabuläre und damit sprachliche Anspielung noch zuläßt. Im "Alphabet von hinten" sind die Buchstaben p und o eindeutig als Wort zusammengezogen, im "Register / (elementar)" ist der Name ARP zu lesen, "Das i-Gedicht" ordnet dem einfältigsten Buchstaben den Merkvers zu, und selbst in der konsequent musikalisch durchkomponierten "Ursonate" lassen sich gelegentliche Sprachanspielungen beobachten, auf die Schwitters 1927 in der Zeitschrift "i 1O" selbst hingewiesen hat:
Das "De des nn nn rrrrr" [...] ist aus dem Worte D R E S D E N entstanden. Vielleicht interessiert es den Leser, obgleich es für das Kunstwerk gleichgültig ist, wie es entstanden ist. Das "rakete" ist selbstverstandlich nichts Anderes, als das Wort Rackete. Im zweiten Teile ist das <PRA' eine bewusste Umkehrung des Namens arp. [...] Das "zet üpsiilon ikks wee fau uu ..." ist aus dem Alphabeth entstanden, indem ich es rückwärts gelesen habe. Alle anderen Lautverbindungen sind frei erfunden, teilweise unbewusst angeregt durch abgekürzte Aufschriften auf Firmenschildern oder aus Drucksachen, besonders aber durch die interessanten Aufschriften auf Eisenbahnstell-werkhäusern, die immer so interessant wirken, weil man den Sinn nicht versteht. [Orthographische Abweichungen und mögliche Druckfehler in diesem Zitet wurden beibehalten. R.D.]
Mit der "Ursonate", deren Hauptthema des ersten Satzes teilweise [...] einem Gedicht von Raoul Hausmann entlehnt ist, das - Musterbeispiel für ein gefundenes "i-Gedicht" - ursprünglich nur [...] eine Druckprobe für die Auswahl von Typen war, die Hausmann mit ausserordentlicher Phantasie als Vortrag gestaltet hat, hat Schwitters die Grenze zur Musik fraglos erreicht, wenn nicht überschritten. Auf sie hin hatten sich die "elementar"-Texte einerseits bewegt, wenn es zum Beispiel schon 1922 für "Cigarren / (elementar)" heißt: (Der letzte Vers wird gesungen). Auf der anderen Seite hatte Schwitters bereits 1922 mit dem "Gesetzten Bildgedicht", in dem die Großbuchstaben A B J O Z, die in keiner Kombination ein sinnvolles Wort ergeben, in Zusammensetzung und einzeln, in verschiedenen Schriften und verschiedener Schriftstärke über eine vorgegebene Fläche verteilt sind, die Grenze zur puren (Typo-)Graphik erreicht, wenn nicht überschritten.
Damit wäre das literarische Werk Schwitters'- auch in seinen Zusammenhängen - wenigstens in groben Zugen skizziert. Einige Aspekte, so der Komplex der Kinderbücher 1924/1925, lassen sich verhältnismäßig leicht in die Skizze einordnen. Der Versuch, eine "Systemschrift" zu entwickeln, ebenso wie ein bevorzugtes Interesse an der Typographie, das nicht nur bei den Kinderbüchern den Interessen des Autors entgegenkam, können hier abschließend nur erwähnt werden; ferner ein gescheiterter Versuch, entsprechend meiner Lautsonate zu komponieren, und - vor allem in den zwanziger Jahren - die fließenden Übergänge von Gedicht und Schlager, von Text und Werbetext. Sie alle zeigen die Vielschichtigkeit der künstlerischen Interessen, das weitc Feld der künstlerischen Betätigung. Mein Streben, versuchte Schwitters 1927 in "Merz 20" zu begründen, geht zur harmonischen Betätigung auf allen Gebieten der Kunst, weil jedes Gebiet durch das andere lernt und bereichert wird. Steckte Schwitters nach der theoretischen Durcharbeitung seiner in sich utopischen Idee vom Gesamtkunstwerk - die ja ebenfalls innerhalb einiger allgemeiner Tendenzen der Zeit verstanden werden muß - praktisch auch zurück, so blieb er doch zeit seines Lebens "Gesamtkünstler". Es kommt nicht, pointierte er noch einmal 1931, auf das Mittel und das Material an, sondern auf die Kunst, die durch Wertung im Rhythmus entsteht. Und er beharrte auf einer Kunst, die nicht beeinflussen und nicht wirken wolle, sondern befreien, vom Leben, von allen Dingen, die den Menschen belasten, wie nationale, politische oder wirtschaftliche Kämpfe. Kunst will den reinen Menschen, unbelastet von Staat, Partei und Nahrungssorgen. Eine wesentliche Möglichkeit der Befreiung aber sah Schwitters dabei im Unsinn: Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, weil er bislang so selten künstlerisch geformt wurde. Deshalb liebe ich Unsinn.
[Druck in: Hans Rothe (Hrsg.): Expressionismus als Literatur. Bern und München: Francke 1969, S. 761-774]
Geboren am 20. Juni 1887 in Hannover. Die Eltern besaßen damals ein Damenkonfektionsgeschaft. Abitur 1908. Besuch der Kunstgewerbeschule Hannover 1908/O9 und der Kunstakademie Dresden 1909 bis 1914. Heirat mit Helma Schwitters 1915. Militärdienst auf der Schreibstube 1917 und als Hilfsdienstpflichtiger (Maschinenzeichner) 1917/18. Erste Ausstellung und Publikation von Merzbildern, -zeichnungen und Dichtungen 1919. Vortragsreisen und "Dada-Feldzüge" seit 1921. Herausgeber der Zeitschrift "Merz" (1923-32). Erster "Merzbau" in Hannover (seit 1923; 1943 zerstört). Mitglied verschiedener Künstlergruppen. Jährliche Aufenthalte in Norwegen seit 1931. Flucht nach Norwegen 1937. Zweiter "Merzbau" in Lysaker/Oslo (seit 1937; 1951 zerstört). Flucht nach England 1940 und Internierungslager 1940/41. Aufenthalt in London 1941 bis 1944. Schlaganfall 1944. Obersiedlung nach Little Langdale bei Ambleside (Westmoreland); Sholarship des Museum of Modern Art 1945. Helma Schwitters stibt 1945. Ständig krank seit 1947. Dritter "Merzbau" (seit 1947; unvollendet; zum Teil in der University of Newcastlde neu aufgebaut). Am 8.Januar 1948 in Kendal gestorben.
Anna Blume / Dichtungen, 1919; Sturm-Bilderbücher IV / Kurt Schwitters, 1921; Anna Blume / Dichtungen, neue, veränderte Ausgabe, 1922; elementar / Dic Blume Anna / Die neue Anna Blume / eine Gedichtsammlung / aus den Jahren 1918-1922 / Einbecker Politurausgabe, 1922; Memoiren Anna / Blumes in Bleie / Eine leichtfaßliche Methode / zur Erlernung des Wahn / sinns für Jedermann, 1922; Tran Nr. 30 / Auguste Bolte / (ein Lebertran), 1923; Kurt Schwitters und Käte Steinitz, Die / Mdrchen / vom / Paradies, Bd. I, 1924 (auch als "Merz 16/17" angeboten, s. u.); Die Scheuche / Märchen / Typographisch gestaltet von / Kurt Schwitters Käte Steinitz Th. van Doesburg, 1925 (auch als "Merz 14/15" angeboten, s. u.). - Selbständige Publikationen innerhalb der Zeitschriftenfolge "Merz": "Merz 12": K. Schwitters und K. Steinitz, Hahnepeter / (Familie Hahnepeter Nr. 1), 1924; "Merz 13": Merz-Grammophonplatte Lautgedicht von Kurt Schwitters, vom Autor selbst gesprochen, I925; "Merz 14/15": Die Scheuche (s. o.); Merz 16/17: Die Märchen vom Paradies (s. o.); "Merz 21": erstes Veilchenheft / Eine kleine Sammlung von Merzdichtungen aller Art, 1931; "Merz 24": Ursonate, 1932. - Neudrucke und Faksimiledrucke: Die Scheuche, 1961; Memoiren Anna Blumes in Bleie, 1964; Anna Blume und ich / Die gesammelten "Anna Blume"-Texte, 1965; Die Scheuche, 1965; Auguste Bolte, 1966.
Christof Spengemann, Die Wahrheit über Anna Blume, 1920; Stefan Themerson, Kurt Schwitters in England, 1940-1948, (London) 1958; Raoul Hausmann & Kurt Schwitters, PIN and the story of PIN, (London) 1962; Kate T. Steinitz, Kurt Schwitters, Erinnerungen aus den Jahren 1918-30, 1963; Werner Schmalenbach, Kurt Schwitters, 1967, Elderfield etc.
Hans Bolliger, "Ausgewählte
Bibliographie", in: W. Schmalenbach, Kurt Schwitters.