Wir haben vorhin Shakuhachi-Musik, japanische Flötenmusik gehört. Und niemand von uns käme auf die Idee, sie mit europäischer Flötenmusik zu verwechseln oder zu vergleichen. So findet auch die Sho-Kunst, die wir in dieser Ausstellung zeigen, keinen Vergleich mit europäischer Kalligraphie oder Arbeiten abstrakter Kunst.
Als ich vor zwei Jahren in Japan war, besuchte ich auch mehrere Zen-Klöster. Von den vielen Fragen, die dabei besprochen und aufgeworfen wurden, ist mir eine besonders in Erinnerung geblieben, die Frage nämlich nach einer europäisch-japanischen spirituellen Interaktion. (Es ist dies ein Begriff, den ich von meinen damaligen Gesprächspartnern übernehme). Dieser Frage im Bereich der Kunst nachgehend, finden wir heute wiederholt die Shakuhachi-Flöte instrumental in moderner Musik. Auch ist es kein Geheimnis, daß Julius Bissier zum Beispiel chinesische Schriftzeichen, Kanji-Zeichen in seinen Aquarellen eingesetzt oder Miro sich hier kräftig hat inspirieren lassen. In diesem Sinne verstehe ich die heutige Ausstellung auch als einen Versuch ästhetischer Interaktion, als Versuch, sich der uns eigentlich fremden Sho-Kunst zu nähern.
Es gibt bei uns wohl kam einen Haushalt, in den das moderne Japan nicht Einzug gehalten hätte in Form von Elektronik, Fotoapparat und/oder japanischem Auto. Ganz anders sieht das mit der japanischen Kultur aus, von der wir nur wenig und meist Ungenaues wissen, einer Kultur, zu der vor allem die Schriftkunst SHO zählt.
Das Wort SHO wird meist mit Kalligraphie übersetzt und entsprechend als Schönschrift, Schönschreiben, also etwas eher äußerlich Geschöntes mißverstanden. Ursprünglich waren die chinesischen Schriftzeichen (Kanji) , die auch in Japan verwendet werden, Bild-Zeichen, verloren aber im Laufe der Zeit ihren Bildcharakter immer mehr. Diese Schriftzeichen dienen in ihrer Addition, wie unsere mit Hilfe des Alphabets gebildeten Wörter, in erster Linie der Information, wobei es mehr auf die Bedeutung als die Form ankommt.
Gestaltet man das Schriftzeichen jedoch aus seinem individuellen Lebensgefühl heraus, nähert man sich der Schriftkunst. Dabei gibt es, wie Ijima Tsutomu anläßlich einer Ausstellung schrieb, "unendlich viele Möglichkeiten, die eigene Freiheit zu behaupten und dem Zeichen die Gestalt zu gehen, wie sie dem eigenen absoluten Leben" entspreche. Hier sei es "nicht mehr so wichtig, daß das Zeichen gelesen und seine Bedeutung verstanden" werde, "sondern daß man es als Kunstwerk" betrachte und seinen "ästhetischen Inhalt" erfasse. Wenn es aber nicht um Lesen, sondern um "Betrachten", nicht um Information, sondern um ästhetischen Inhalt" gehe, sei auch erlaubt, "daß das Schriftzeichen infolge unbeschränkter Ausdrucksfreiheit nicht mehr verständlich, das heißt unlesbar" sei.
Diese Ausdrucksfreiheit an der Grenze zur Unlesbarkeit hat in Amerika und in Europa dazu geführt, die Kunst der Pinselschrift mit abstrakter Malerei zu vergleichen und zu verwechseln. Aber wo diese entweder völlig gegenstandslos ist oder vom Gegenstand abstrahiert, geht Sho immer noch vom Schriftzeichen, seiner Struktur und Bedeutung aus, um sie auf eine andere Ebene zu transponieren.
Ein drittes Mißverständnis ist jeder Versuch, an die mit dem Pinsel geschriebenen Bilder unsere ästhetischen Maßstäbe anzulegen, was stets zur Folge hat, daß man an Äußerlichkeiten hängen bleibt und das Wesen von Sho weit verfehlt. Denn nicht auf die äußere Erscheinungsform, auf ihr Entziffern allein kommt es an, vielmehr geht es beim Betrachten darum, das Schrift-Bild in seiner geistigen Tiefe zu empfinden und zu erfassen.
Wie dies aus der Sicht eines Sho-Meisters aussieht, möchte ich mit Worten Morita Shiryu's belegen. "Ich schreibe", notiert Shiryu, "ich schreibe das Schriftzeichen "Tod", ausgesprochen shi. Diese irdische Welt ist voll von Gegensätzen, Widersprüchen und Beschränkungen: Leben und Tod, Nichts und All. Für uns gibt es keine Freiheit, solange wir von diesen Gegensätzen und Beschränkungen gefesselt sind. Es ist unmöglich, daß unser Leben vollkommen funktioniert. Dies wird in der Tatsache klar und sinnfällig, daß zwischen meinem Ich und dem Schriftzeichen shi, wie ich es jetzt schreibe, ein Gegensatz besteht. Wie ich die Beschränkung dieses Schriftzeichens überwinde, wie ich mein Ich frei und vollkommen entfalten kann, darauf konzentriert sich mein ganzes Streben."
Aber, schränkt Shiryu sein "Streben" ein: "Das ist mein Wunsch". Er wisse, "daß dieser Wunsch nur schwer zu erfüllen" sei, daß "es schwierig" sei, "ein Werk zu vollbringen, das" einen ,"befriedigen kann. Zehnmal, sogar huntertmal muß ich neu schreiben. Jedesmal, wenn ich mit meinen Arbeit nicht zufrieden bin, prüfe ich meinen inneren Zustand, ehe ich die unbefriedigenden Formen und Linien entdecke. In der Tat, die meisten Fehler an meinem Werk haben ihre Ursache weit eher im inneren Seelenzustand als in der technischen Unzulänglichkeit. Auf diese Weise versuche ich durch Sho-Schreiben mein Ich zu finden."
Sie werden dies so oder in anderen Worten
von allen guten Sho-Meistern hören, auch von Kei Suzuki. Und es ist
einsichtig, daß aus solchen Überlegungen eine Haltung der Bescheidenheit,
auch dem eigenen Werk gegenüber, resultieren muß. So drückt
denn auch die Arbeit "Jisai" (=Dasein) in dieser Ausstellung genau
dieses aus, die Erfahrung, wie klein man
ist. Aber auch das Blatt "Sanka"(= immer wieder nachdenken über sich
selbst) sollte in diesem Kontext betrachtet werden.
Damit habe ich die Überleitung zu dieser heutigen Ausstellung von Arbeiten des Sho-Meisters Kei Suzuki gefunden. Ich möchte behaupten und im Folgenden erhärten, daß die hier gezeigten Arbeiten selbst dem verständlich werden können, der bisher noch keine Erfahrung mit der Sho-Kunst gemacht hat.
Zu diesem Zweck werde ich ein paar Arbeiten herausgreifen.
1. "Yu moku", was wir mit "Augenweide" übersetzt und mit "sich an der Landschaft erfreuen" erklärt haben. Allerdings kommt es mir weniger darauf an, als auf das Bildzeichen Auge, das auch der Laie auf dieser Arbeit erkennen kann. Man kann - europäisch gedacht - dieses Auge als einen Hinweis in doppelter Hinsicht verstehen: erstens im Sinne des Bildes: daß es nämlich des Auges bedarf, sich an der Schönheit einer Landschaft zu erfreuen. Zweitens, daß es unseres Auges bedarf, um die Schönheit der Lösung zu empfinden, die der Künstler beim Schreiben gefunden hat.
Das 2. Blatt, das ich herausgreife, schreibt "Hogetsu", was man ungefähr mit "Im Mondschein gehen" übersetzen darf. Betrachten wir das Ideogramm für gehen (zweimal einen Fuß) und das Ideogramm für Mond, haben wir allerdings nur die Oberfläche. Die Schönheit des Blattes, die Schönheit eines Mondspaziergangs, eingeschlossen die Empfindungen, erschließen sich erst, wenn sich der Betrachter nachvollziehend auf Schrift und Linie, auf den beschriebenen und den freien Baum, auf An- und Abwesenheit von Schrift einläßt, wenn er das Verhältnis der Zeichen zu- und gegeneinander zu empfinden versucht.
[Vgl. die Funktion der Sonne in "Yuan" / Dunkelheit).
Das 3. Beispiel, das ich herausgreifen möchte, ist das Blatt "Gofu Juu" (= Fünf Winde zehn Regen). Dieses Blatt ist mit einer anderen Tinte geschrieben, als die beiden bisherigen - mit blauer Tinte. Und der wässrige Eindruck, den es auf den Betrachter macht, lenkt seine Gedanken, wenn er sich von Schrift und Pinselführung leiten läßt, alsbald in die richtige Stimmung.
Andere Titel bestätigen den Befund, zum Beispiel, wenn man dem Blatt "Hogetsu" (= Im Mondschein gehen) das Blatt "Chikuju meguru" (= In Bambuswäldern gehen) vergleichend zur Seite stellt, wenn man sieht, wie unterschiedlich ihre Stimmungen sind, oder besser: wie unterschiedlich die Stimmungen sind, die auf ihnen mit Hlfe der Pinselschrift ausgedrückt sind: die Helle und Klarheit der Mondnacht auf der einen, das in-Gedanken-versunken-sein beim Gehen in einem Bambuswald auf der anderen Seite.
Natürlich nicht dieselbe Stimmung drückt die Arbeit "San~syu~shi" (= Denken an die verrinnende Zeit) aus, wenn sie einmal mit schwarzer, ein zweites Mal mit blauer Tinte geschrieben ist. Zwei Blätter, die geeignet sind, zu belegen, was Shiryu auch meinte, als er sagte, daß er "zehnmal, sogar hundertmal (...) neu schreiben" müsse.
Diese beiden Arbeiten "San syu shi" verweisen zugleich auf eine weitere Dimension der Sho-Kunst, ihre philosophische oder gedankliche oder meditative Fundierung, hier spannungsvoll gemacht durch den Inhalt (=verrinnende Zeit) und den zeitlich beschränkten Zeitvorgang des Schreibakts.
Ich gehe nicht ein auf die Geschichte der Sho-Kunst. Sie beginnt bereits in archäologischer Zeit in China und ist von dort im Laufe der Zeit nach Japan gekommen, um dort eine eigene Tradition zu entwickeln. Eine umfangreiche Ausstellung des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln hat 1975 diese Tradition vom 7. bis zum 19. Jahrhundert nachvollzogen und unzählige Schätze gezeigt. Auf diese Tradition zu sprechen kommen muß ich jedoch in einem Punkt. Betrachtet man nämlich die Sho-Kunst in ihrer Tradition, fällt auf, daß sie - im europäischen Sinne - wenig Entwicklung zeigt. Daß manche Arbeit aus früherer Zeit unserem Auge moderner anmutet als manche Arbeit von heute. Das hängt einmal damit zusammen, daß die Sho-Kunst ein größeres Traditionsbewußtsein hat als unsere abendländische Kunst. Das hängt aber auch damit zusammen, daß sie keine Epochenstile in unserem Sinne herausgebildet hat. Sie ist stattdessen eine extrem individuelle Kunst oder Kunstausübung, in der jeder Sho-Meister auf seine Weise und mit seinen Mitteln versucht, sein Ich zu finden (wie es Shiryu ausgedrückt hat).
Deshalb ist es auch kein Wunder, daß alte Schriften (Schrifttypen), die eigentlich historische Phasen der Schriftentwicklung markieren, heute noch wahlweise vom Schreiber benutzt werden können, so daß in der Sho-Kunst verschiedene Schriften, chinesische Kanji u. japanische Hiragana nebeneinander verwendet werden können, je nachdem, was und wie es der Künstler ausdrücken möchte. Ferner sind zum Beispiel im Werk Kei Suzukis vor allem zwei Schrifttypen zu beachten: die strenge Kaisho und die freiere und fließende Sosho, neben denen es noch die Tensho, Reisho und Gyosho gibt.
"Die Schriftkunst", schreibt Zaitsu Nagatsugi, "besteht aus zwei entgegengesetzten Elementen, Weiß und Schwarz, die jenseits aller Farbwerte liegen. Das Schwarz als Element gewinnt durch die Form der schwarzen Linien seine Gestalt." Da alle Schrifttypen eine bestimmte Schreibreihenfolge haben, "nach der sich die schwarze Linie bewegt", ist die "Tuschlinie eine Linie in Bewegung. Da sie nach bestimmten Richtungen mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschrieben wird, kann man die fließende Bewegung im sosho (...) mit den Augen selbstverständlich nachvollziehen. Insofern unterscheidet sie sich von derjenigen in der Malerei. Sie ist eine ununterbrochene Linie, denn selbst wenn die schwarzen Linien auf dem Papier nicht verbunden sind, fließt die Idee der Linie über den leeren Raum hinweg in der Bewegung des Pinsels weiter, so als ob die Linie auf einem räumlichen Papier weitergeschrieben worden wäre, d.h. die Bedeutung des Geschriebenen ist die kontinuierliche geistige Verbindung. Beim Zeichen gibt es zwei Beschränkungen, die erste ist seine Form und die zweite die Schreibreihenfolge der einzelnen Striche. Innerhalb von diesem eingeschränkten Bereich stellen sich die ästhetische Empfindung und das Bewußtsein des Schreibers dar."
Mit dem Hinweis auf die verschiedenen Schriften und Schriftypen bin ich bereits bei dem, was man als die Technik oder die technisoh-materialen Voraussetzungen der Schriftkunst zusammenfassen könnte. Mit ihrer abschließenden Skizzierung möchte ich zugleich zu der Schreibdemonstration von Kei Suzuki überleiten.
Die Technik des Schreibens mit dem Pinsel weicht auf vielfache Weise von unseren Schreibgewohnheiten ab Zunächst einmal schreibt man von oben nach unten und - in der Regel - von rechts nach links. So sind dann auch die Sho-Arbeiten zunächst zu betrachten, will man den Verlauf der Linie verfolgen.
Die Schreibmaterialien, die man auch die 4 Kostbarkeiten eines Literaturzimmers nennt, "Bumbo-shiho", sind der Pinsel, ein Pinselhalter, die Tusche und der Tuschstein. Gelegentlich nennt man statt des Pinselhalters auch das Papier. Eine Viererfolge, die ich im folgenden skizziere.
Wählt man keine bereits fertige Tusche, besteht die Tusche ("boku") aus einem länglichen harten Block, der aus Kiefernholzruß und Leim unter Zugabe von Duftstoffen gepreßt ist. Daß dabei zwischen schwarzer und blauer Tusche zu unterscheiden ist. sagte ich bereits. Diese Tusche wird vor dem Schreiben auf einem Tuschstein ("suzuri") unter Zugabe von Wasser in kreisenden Bewegungen angerieben. Wobei die Tuschsteine meist Einzelstücke und entsprechend wertvoll sind.
Im Falle der 3. Kostbarkeit, dem Papier, haben die Sho-Meister die Wahl einmal zwischen dünnen, dicken, weißen oder eher gelblichen, groben oder feinen Qualitäten Zum anderen spielt das Format eine entscheidende Rolle. Will ich zum Beispiel ein Gedicht schreiben, wähle ich ein schmales Hochformat, das dann später auf eine Rolle aufgezogen wird. Im anderen Fall sind verschieden große Formate käuflich, können aber auch durch Zuschneiden individuell hergestellt werden bzw. durch Aneinanderkleben vergrößert werden.
Ein instruktives Beispiel in dieser Ausstellung
ist "Mokusurukoto Rai no gotosi" (= Die Stille vor dem Lärm).
Diese Arbeit existiert einmal als Einzelblatt,
ca 70 x 100 cm. Auf ihm dominiert, im Verhältnis Schwarz zu Weiß,
das Schwarz fast zu sehr. Ganz anders dagegen in der auf drei Blättern
geschriebenen, nachträglich zusammengefügten Arbeit, die Weiß
und Schwarz, den beschriebenen und den leeren Raum in einem ausgewogenen
Verhältnis und Rhythmus gliedert. Wobei es wenig stört, daß
die drei Teile nicht bündig zusammengesetzt sind.
Die vierte Kostbarkeit schließlich ist der Pinsel ("fude"). Auch hier gibt es die unterschiedlichsten Qualitäten: weiche oder harte, lange oder kurze, schmale oder dicke Pinsel. Die Wahl des Sho-Meisters wird immer davon abhängen, was er auszudrücken versucht, welchen Raum er sich dafür zur Verfügung gestellt hat. Was für Überlegungen die Wahl des Pinsels bestimmen können, möchte ich mit einem Beispiel andeuten. Die genannte Kölner Ausstellung zeigte auch ein "bokuseki", die Schrift eines Zen-Mönchs aus dem 18.Jahrhundert. Für sein in sosho geschriebenes Beispiel benutzte Jiun Onko keinen Sohreibpinsel aus Tierhaaren, sondern einen aus Stroh ("warafude"), um einen möglichst unmittelbaren Ausdruck zu erreichen.
Zu den vier Kostbarkeiten kommen schließlich als Materialien noch hinzu die Unterlage, auf der ich schreibe, meist aus schwarzem oder rotem Filz, aber auch aus anderen Materialien. Man kann zum Beispiel auch auf Decken oder - wie Sie gleich sehen werden - auf Zeitungspapier als Unterlage schreiben.
Schließlich muß die Arbeit, wenn ihr Ergebnis den Künstler befriedigt, noch signiert werden. Das heißt im Falle der Sho-Kunst: gestempelt, zu welchem Zweck der Künstler in der Regel mehrere unterschiedliche Stempel aus Speckstein sich geschnitten hat, unter denen er jeweils auswählt. Wobei es nicht unwichtig ist, wohin, an welcher Stelle der Arbeit der Künstler seinen Stempel druckt: stets in rot.
Damit bin ich mit meiner kleinen Einführung am Ende. Kei Suzuki wird jetzt, und ich freue mich, ihm dabei zuschauen zu dürfen, 5 Arbeiten schreiben: vier kleinere und eine große. Was im einzelnen dazu zu sagen ist, werden sein Bruder, der Schriftsteller und Übersetzer Syun Suzuki, und ich jeweils kurz andeuten und gegebenenfalls kommentieren. Da das folgende Schreiben eine hohe Konzentration erfordert, wäre es schön, wenn es im Laufe der nächsten Stunde möglichst ruhig bliebe, wofür ich Ihnen im voraus danke.