reinhard döhl | einiges zu visuellen texten

es ist in der literatur seit der romantik etwas in gang gekommen das u.a. zu sogenannten mischformen geführt hat, indem die literatur einerseits bei überbetonung der akustischen komponente in den bereich der musik gerät und umgekehrt, indem sie auf der anderen seite im visuellen bereich zum bild drängt und sich hier mit einer entsprechenden tendenz innerhalb der bildenden kunst überschneidet. historisch sind solche tendenzen nicht neu. fischarts "geschichtsklitterung" bzw. sein französischer vorwurf, rabelais' "gargantua", etwa sind partienweise ausgesprochen phonetisch strukturiert und das bildgedicht des barock muß fraglos als visuelle poesie interpretiert werden. wenn wir unterstellen, daß sprache sowohl eine akustische wie eine visuelle dimension hat, zeigen die erwähnten beispiele aber auch daß zwar eine dimension stärker als die andere hervortreten kann, daß aber die andere immer noch faßbar bleibt. erst im 20 jahrhundert sind uns fälle bekannt, wo eine der beiden sprachlichen dimensionen zugunsten der anderen aufgegeben wird: als beispiel etwa kurt schwitters "gesetztes bildgedicht" aus dem jahre 1922, bei dem nur noch einzelne buchstaben auf der fläche verteilt erscheinen. man kann darüber streiten, ob man hier von den buchstaben noch als rudimentären bestandteilen von sprache oder als nur materialen grafischen elementen sprechen will. man wird in jedem fall die bezeichnung gedicht nicht wörtlich nehmen dürfen. vielmehr als parodistische fiktion, als demonstration, daß man das, was im 19. jahrhundert unter dieser bezeichnung verstanden wurde, das symbolilsche gedicht, nicht mehr erfüllen konnte und wollte. man wird allerdings nicht die heute wiederholt vorgebrachte überzeugung daraus ableiten dürfen, daß es nun plötzlich kein gedicht mehr gebe, weil die auseinandersetzung mit dem nicht mehr erfüllbaren traditionellen symbolischen gedicht es 19 jahrhunderts in extremis zur verabsolutierung des visuellen auf der einen bzw auf der anderen seite des akustischen geführt hat. im gegenteil stellt sich die frage, was man stattdessen unter einem gedicht verstehen will, ist das gedicht als literarische redeweise neu zu definieren. cum grano salis stellen heute eine stärker ins akustische komponierte und eine stärker ins visuelle arrangierte schreibweise 2 möglichkeiten, ein gedicht zu schreiben, vor. die vorliegende mappe soll wie eine reihe ihr folgender mappen ausdrücklich die visuellen möglichkeiten moderner poesie im querschnitt zeigen. vom visuellen gedicht das die akustische dimension der sprache noch nicht aufgibt bis zu seiner auflösung ins pure buchstabenarrangement, von der textfläche bis zur fläche mit buchstaben, zum typogramm.

[in: 13 visuelle texte. stuttgart: edition hansjörg mayer 1964]