Reinhard Döhl | Zu den Hörspielen Martin Walsers

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Ein nahezu unbekannter Autor des deutschsprachigen Nachkriegshörspiels ist Martin Walser geblieben. Zwar verzeichnet der "Hörspielführer mit "Ein grenzenloser Nachmittag" (SDR 23.2.1955) und "Erdkunde" (HR 28.2.1966; SWF 5.3.1966) inhaltlich zwei seiner Hörspiele. Doch ist der einzig mehrfach gedruckte "Grenzenlose Nachmittag" - vielleicht auch, weil er sich nicht so recht in die Hörspiellandschaft der 50er Jahre einordnen ließ - weitgehend in Vergessenheit geraten. Und im Falle von "Erdkunde" beschäftigte sich die literarische Kritik ausschließlich mit der erweiterten Bühnenfassung von 1967, "Die Zimmerschlacht". Zwar verzeichnet die Bibliographie des von Thomas Beckermann 1970 herausgegebenen Materialienbandes "Über Martin Walser" - wenn auch ohne weitergehende Differenzierung und unvollständig - die Titel von bis dato 11 "Hörspielen und Dialogen", doch geht kein einziger der in diesen Band aufgenommenen Beiträge auf diese "Hörspiele und Dialoge" näher ein. Diese Fehlleistung in der literaturkritischen Auseinandersetzung mit dem Werk Walsers, diese auffallende Zurückhaltung der Hörspielhistoriker und -theoretiker ist skandalös angesichts der Zahl von mindestens fünfzehn eindeutig als Hörspiel auszumachenden Arbeiten seit 1952. Es sind dies - und jeder Hörer kann hierbei, so er will, seine Erinnerung befragen - in der Reihenfolge ihrer Erstsendung die Hörspiele

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- Die Dummen (SDR 1952)
- Kantaten auf der Kellertreppe(SDR 1953)
- Draußen (SDR 1953)
- Die Zuschauer (SDR 1954)
- Ein grenzenloser Nachmittag (SDR 1955)
- Der kleine Krieg (RB 1956)
- Ein Angriff auf Perduz (RB 1956)
- Erdkunde (HR 1966; SWF 1966)
- Wir werden schon noch handeln (SWF 1968)
- Der Unfall. Wie es so geht (HR 1969)
- Welche Farbe hat das Morgenrot (HR 1969)
- Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe (WDR 1969)
- Die Verteidigung von Friedrichshafen (WDR/BR/SWF 1974)
- Lindauer Pietà (WDR/BR/SWF 1975)
- Säntis (WDR/BR/SWF 1978).

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Diese Liste ließe sich noch um mindestens einen Titel verlängern, den ursprünglich als Rundfunkarbeit gedachten Dialog "Der Abstecher" von 1961, der unseres Wissens bisher nicht von einer Anstalt der ARD, 1964 aber in Übersetzung von der BBC gesendet wurde. Zu diesen 15 bzw. 16 Hörspielen hinzugerechnet werden müssen für die erste Hälfte der 50er Jahre eine Reihe von Hörspieladaptionen u.a. nach John Steinbeck ("Der Mond ging unter", zusammen mit Joachim Schale), Nicola Manzan ("Chiarevalle wird entdeckt") und - nicht nur für Walserspezialisten interessant - nach Arno Schmidt ("Die letzte Ausflucht").

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Zwei schmale Bände Erzählungen hat Arno Schmidt bis jetzt veröffentlicht. Ob hier ein Genie oder ein Scharlatan am Werke ist, darüber konnten sich die Kritiker nicht einigen. Es gibt wohl keinen unter den jüngeren Autoren, der so heftig umstritten wurde in den letzten Jahren wie Arno Schmidt. Aber selbst seine Gegner mußten zugeben, - oft verwirrt und hilflos -, daß hier eine außerordentliche Kraft in Erscheinung tritt.
Der Süddeutsche Rundfunk hat wiederholt auf diesen Autor hingewiesen, um zu verhindern, daß die Auseinandersetzung mit Arno Schmidt im aktuellen Rezensionsbetrieb versandet. Martin Walser hat nun eine der ersten Erzählungen dieses Dichters zu einem Hörspiel gemacht. Auch damit soll letzten Endes zur Beschäftigung mit Arno Schmidt angeregt werden. Das Hörspiel "Die letzte Ausflucht" löst das Dynamische, das Ereignishafte aus der statischen Ganzheit der Erzählung "Gadir". Erhalten bleibt aber - und das scheint uns das Entscheidende zu sein - die sprachliche Ausdruckskraft Arno Schmidts. Deswegen wurde auch die "Ausflucht" des Pytheas, des "Helden" der Erzählung, in eine monologische Hörspielform gebracht. (...) Die Begleitstimmen, die den "Helden" locken, drängen, hindern und quälen, sind in ihrer rhythmischen Folge der monologischen Not des Helden entgegengesetzt: Und aus dieser Entgegensetzung entsteht das Hör-Spiel.

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Neben derartigen Bearbeitungen, von deren Ambitionen die zitierte "Notiz für den "Funkkurier" einiges abhören läßt, sind schließlich noch eine Anzahl von Inszenierungen Martin Walsers zu nennen, vor allem von Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Was ihn selbst an den Hörspielen Weyrauchs vor allem faszinierte, hat Walser in einem Nachwort, "Regie-Erfahrungen mit Weyrauchs Hörspielen" auf die Formel gebracht:

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Weyrauch ist von allen mir bekannten Hörspielautoren der radikalste. Was er handeln und leiden läßt, handelt und leidet lediglich als Stimme. Der Schleichweg zur Szene bleibt ungenutzt. Das Mikrophon ist niemals ein notwendiges Übel, nie ein bloßes Übertragungsmittel, sondern der einzig mögliche Ort für die Realisierung dieser Texte.

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Daß sich zu einem derartigen Hörspielverständnis Entsprechungen in einer 1952 vorgelegten Dissertation "Reproduktivität und Produktivität im Rundfunk" von Helmut Jedele auffinden lassen, der wie Walser zur sogenannten "Stuttgarter Genietruppe" gehörte, kann hier aus Zeitgründen lediglich angemerkt werden. Ebenso aufschlußreich ist die Tatsache, daß Walser sein Interesse nicht nur auf Hörspielmanuskripte richtete, sondern gleichsam auf hörspielgeeignete Vorlagen ausdehnte. So erinnert sich Wolfgang Weyrauch:

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Ein Gedichtband war erschienen, mit einem Gedicht, "Die Minute des Negers", und eines Tages, damals rief mich ein junger Mann namens Martin Walser, den niemand kannte damals, rief mich an und sagte, wir möchten gerne ein, dieses ihr Gedicht als Hörspiel senden. Ich freute mich einerseits, sagte ihm das auch, andererseits hatte ich Angst, daß ich soviel arbeiten mußte. Das war vorbei, war aus. Da sagte er, sie müssen gar nichts daran arbeiten, das machen wir. Wir setzen einfach vor die einzelnen Passagen setzen wir die jeweiligen Namen, die diese Passagen sprechen, und das Hörspiel ist fertig. An diesem Hörspiel wurde nichts geändert, nicht ein Wort.

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Wie hörspieleignet in der Tat die Gedichtvorlage, die Weyrauchsche Ballade war, vermag ein kurzes Zitat der Walserschen Inszenierung, der Schluß des Hörspiels, anzudeuten, mit dem wir zugleich eine Regie Walsers akustisch belegen wollen.

Einspielung

Erstens,
fragt der Springbock,
habt Ihr Euch eine Photographie
des Himmels gekauft?
Ihr könnt sie an jeder Ecke kaufen,
Ihr werdet sehn,
daß der Himmel zerschlissen ist,
die Engel frieren,
der liebe Gott hat TBC.
Zweitens,
fragt der Erdwolf,
habt Ihr Eure Schatten umarmt?
Eure Schatten sind mehr wert
als ihr selber.
Drittens,
fragt der Regenpfeifer,
laßt Ihr die Epileptiker liegen?
Oder liebt Ihr sie?
Hebt sie auf,
Küßt sie.
Viertens,
fragt der Fischadler,
habt Ihr Eure Tyrannen ermordet?
Fünftens,
fragt der weiße Stier,
seid Ihr mit Euren Köpfen
durch Eure Wände gestoßen?
Sechstens,
fragt der Silberfisch,
habt Ihr die Kerne
der Atome untersucht?
Pfirsiche sind darin,
nicht Pfirsichtode.
Siebtens,
fragt der Hornvogel,
habt Ihr Betten, Zimmer,
Wohnungen, Häuser, Städte,
aus do-re-mi-fa-so gebaut?
Ha he hoo
ja je jo
Meine Fragen
Meine Fragen
Meine Fragen
tönen
tönen
tönen
durch die
durch die
durch die
Lautlosigkeit
Lautlosigkeit
Lautlosigkeit
ha he hoo
ja je jo.

Autor

Diese Inszenierung Walsers verdient hörspielgeschichtlich auch deshalb festgehalten zu werden, weil sie auf einer Tagung der Gruppe 47 während der Diskussion als Argument eingesetzt wurde. Eich hatte auf der Herbsttagung 1953 in Bebenhausen aus einem in Arbeit befindlichen Hörspiel, "Hilda", vorgelesen, und mit seiner Lesung nicht nur eine heftige Diskussion, sondern auch ablehnende Kritik provoziert. Rolf Schroers referierte darüber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Oktober 1953 ein wenig unbeholfen:

Zitat

Diese Kritik wurde vorgetragen von einer anderen Gattung von Hörspielautoren, galt also nicht so sehr seinem (Eichs, R.D.) schriftstellerischen Vermögen, als seinem besonderen Hörspielstil. Was sich zum Wort meldet (als literarischer Gegner Eichs), kam in der Aufführung eines hörspielartigen Monologs von Wolfgang Weyrauch - nach seinem Buch "Die Minute des Negers" - zum Gehör, produziert von dem jungen Stuttgarter Schriftsteller Walser.

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Sieht man davon ab, daß Eich, von der Diskussion und Kritik enttäuscht, sein Manuskript unvollendet ließ, es wurde erst nach seinem Tode, 1973, als Fragment gesendet - sieht man davon einmal ab, blieb diese Bebenhausener Hörspieldiskussion entwicklungsgeschichtlich leider folgenlos, konnten sich Hörspieltheorie und -praxis der Stuttgarter Genietruppe weder gegenüber einem Hörspielverständnis, das die "Träume" zum "Eichmaß" genommen hatte, durchsetzen noch neben ihm behaupten. Was vielleicht ein Grund mit ist, daß die in Stuttgart zu Beginn der 50er Jahre geleistete Hörspielarbeit so weitgehend dem öffentlichen Gedächtnis entfallen konnte.

Neben dem Bearbeiter und Regisseur ist es vor allem der Hörspielautor Walser, für den sich der Historiker interessiert. Da der Hörspielautor, sein 5elbstverstndnis, das Verhältnis eines inzwischen so umfänglichen Hörspielwerkes zu den Romanen, Erzählungen auf der einen und den dramatischen Versuchen auf der anderen Seite in einer späteren Sendung in einem
Gespräch mit Martin Walser ausführlich behandelt werden sollen, dürfen wir uns heute auf Stichworte und wenige Hinweise beschränken.

Nimmt man die Risiken der Vergröberung in Kauf, lassen sich die bis heute entstandenen Hörspiele relativ leicht zu vier Gruppen zusammenfassen.

Das wäre zunächst eine Gruppe von vier monologisch-balladesken Hörspielen aus den Jahren 1952 bis 1954, deren Titel bereits auf Zusammengehörigkeit hindeuten: Die Dummen, Kantaten auf der Kellertreppe, Draußen, Die Zuschauer.

Vor allem mit den ersten drei dieser Hörspiele schließt Walser indirekt an eine Hörspieltradition, den Typus des oratorisch-balladesken Hörspiels mit seiner speziellen Ausprägung als Kantaten-Hörspiel an, eine Tradition, der auch Weyrauch verpflichtet ist, dem dieser Hörspieltypus als Mitarbeiter des Weimarer Rundfunks ja vertraut war. Für Walser war dieser Hörspieltypus, diese Hörspielform, die er durchaus eigenständig zu nutzen versuchte, funkformal geeignetstes Mittel für inhaltlichen Zweck.

Zitat

Wir wollen heute an unsere letzte Reihe aus dem vorigen Winter und Frühjahr anknüpfen, an unsere Experimente, die wesentlich darauf ausgingen, die rhythmischen Elemente, die der echten funkeigenen Kunst innewohnen, besonders hervorzuheben und damit eine adäquate Funkform für die Darstellung des von den kollektiven Mächten bedrohten Menschen unserer Zeit zu finden, seiner fast ausweglosen Situation.

Autor

Mit diesen Sätzen wurde zum Beispiel der Hörer des Funkstudios vom 7. Dezember 1953 auf das von den frühen Hörspielen Walsers einzig als Tondokument erhaltenen 3. Hörspiel, "Draußen", vorbereitet, die Geschichte des namenlosen N., der vergeblich versucht - vor dem geschichtlichen Hintergrund von Wiederaufbau und hektischem Wirtschaftswachstum - aus der großen Kälte in eine fragwürdige Geborgenheit zu gelangen, bis er sich schließlich dem Zirkus, "Zirkus Aberdons Narrenarmee" anschließt.

Einspielung

(Zirkuskapelle nähert sich mit mächtiger Musik)
N.: Zieht mir den Hokuspokus-Frack an, drückt mir das Gewehr in die Hände, pfeift mich hinein in die warme Manege, peitscht mich herum im blutigen Kreis zum Gelächter der eng beieinandersitzenden Zuschauer, die sich nicht satt sehen können an unseren Übungen! Hängt mir die Nummer um den Hals, die mich einrollt in die allmächtige Narrenarmee. Ich bin kein Freiwilliger, aber ein guter Narrensoldat!
Chor der Narrenarmee:
(Mit Musik)
Bravo, bravo, bravo!
Endlich unser Mann
Endlich angekommen
Endlich unser Mann!
1. Stimme: Wir haben gewartet
2. Stimme: Aber wir wußten
3. Stimme: Wir wußten, solange wir warteten
Chor: Daß Du zu uns kommen würdest.
Bravo, bravo, bravo
Endlich unser Mann
Endlich angekommen
Endlich unser Mann!
1. Stimme: Ein Mann mit Hoffnungen,
2. Stimme: Ein Mann mit Aufstiegsmöglichkeiten.
3. Stimme: Ein Mann mit ungeheuren Aufstiegsmöglichkeiten.
1. Stimme: Ein Mann, wie man ihn braucht.
Chor: In Zirkus Aberdons Narrenarmeel
Bravo. Bravo. Bravo!
N.: Bravo - auch von mir!
Sind noch Fragen an mich,
Formalitäten,
Will jemand wissen, warum ich komme,
Will jemand fragen, wie lange ich bleib?!
Ich sage alles, alles, was ich zu sagen habe!
1. Stimme: Du hast nichts zu sagen!
2. Stimme: Niemand will etwas wissen von Dir!
3. Stimme: Du hast nur zu singen,
1. Stimme: Nur zu marschieren,
2. Stimme: Nur zu tanzen,
3. Stimme: Nur mitzumachen,
Chor: Was jeweils befohlen wird!
1. Stimme: Und jeweils wird befohlen,
2. Stimme: Was jeweils nötig ist,
3. Stimme: Was jeweils wichtig ist.
Chor: Das ist schon alles!
1. Stimme: Tritt ein!
2. Stimme: Tritt ein!
5. Stimme: Tritt ein!
Chor: Tritt ein!
N.: Ich trete ein.
1. Stimme: Du gehörst zu uns.
2. Stimme: Es wird warm.
N.: Ja, warm.
3. Stimme: Wir berühren Dich, wir alle.
N.: Alle mich.
1. Stimme: Wir sind alle eins.
N.: Alle eins.
2. Stimme: Wir alle sind
N.: Alle sind
Chor u. N.: Zirkus Abendon's Narrenarmee!
(neuer Ansatz)
Bravo, Bravo, Bravo
Endlich unser Mann
Endlich angekommen
Endlich unser Mann!
N.: Endlich - - ?!
Unser - - ?!
Mann - - ?!
Ich lüge --
aber --
es ist
warm

Autor

Walsers frühe Hörspiele, die in "immer neuen Ausdrucksformen" die "Verlorenheit und Ohnmacht des Einzelnen in der modernen Gesellschaft" (Pressenotiz zu "Die Zuschauer") thematisieren und umkreisen, sind wie auch die frühe Prosa zu wesentlichen Teilen von der damaligen Aktualität Kafkas geprägt, mit dessen literarischem Werk sich Walser in seiner Dissertation "Versuch über die epische Dichtung Franz Kafkas. Beschreibung einer Form", 1952, auseinandergesetzt hatte. Schon an Äußerlichkeiten, einem Titel wie "Draußen", der Bezeichnung des namenlosen Helden durch das Kürzel N. ist dieser Einfluß ablesbar, ein Einfluß, der in Spuren bis in eine zweite Gruppe Walserscher Hörspiele, die Dialogspiele der Jahre 1955 bis 1966, noch nachweisbar ist, aber immer weiter zurücktritt.

Geht man von den Enstehungsdaten aus, reduziert sich der Zeitraum, den diese Gruppe umfaßt, auf die Jahre 1955 bis 1962/65, und umfaßt die Hörspiele "Ein grenzenloser Nachmittag", "Der kleine Krieg", "Ein Angriff auf Perduz", "Der Abstecher" und "Erdkunde", das Beispiel unserer heutigen Lektion. Was sie gemeinsam auszeichnet und von den Hörspielen der ersten Gruppe ebenso wie - mit Ausnahme von "Der Unfall. Wie es so geht" - von den Hörspielen Ende der 60er Jahre unterscheidet, ist die Erprobung und Handhabung eines Dialoges,

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der die Gestalten aus der Sprache erschafft und in seiner Konzentration auf seelische Vorgänge jede Ablenkung des Hörers, durch akustische Versuche optische Vorstellungen zu verwirklichen, vermeidet.

 Autor

(Klaus Pezold). Konkreter als in den frühen, wird in den Hörspielen seit 1955 bundesrepublikanische Wirklichkeit faßbar. So läßt sich Eduard Delbrücks Versuch, sich "das Schrecklichste" "vertraut" zu machen, sich "die Kolben der Gewehre" vorzustellen, "die für meine Zähne bestimmt sind", sich "darauf ein" zurichten, die Panzer "vorn um die Ecke biegen zu sehen", nur vor dem Hintergrund der Pariser Verträge (1954), Deutschlands Beitritt zur Nato (1955), Aufbau der Bundeswehr (seit 1956) verstehen. Folge einer sozialen Marktwirtschaft den grenzenlosen Konkurrenzkampf, in dem schließlich der schwächere kleinere, aber auch der ehrliche unterliegen, thematisieren die beiden Hörspiele "Der kleine Krieg" und "Ein Angriff auf Verduz".

Bezogen auf das Gesamtwerk Walsers sind die gleichsam die Klammer dieser dialogischen Gruppe bildenden Stücke "Ein grenzenloser Nachmittag" und "Erdkunde" schließlich noch bedeutsam wegen der in ihnen gestalteten Eheproblematik, die in Walsers Werk, vor allem seinen großen Romanen zu einem zentralen Motiv wurde. Und sie sind in diesem Zusammenhang sicherlich mehr als nur Präludien.

Daß und wie sehr Walser Anfang der 60er Jahre zum Theater drängte, daß dies für ihn zugleich ein thematischer Perspektivenwechsel war, belegen die Hörspiel-Theaterspiel-Zwitter "Der Abstecher", 1961 ursprünglich als Hörspiel konzipiert, dann aber als erfolgreiches Theaterstück zuende geführt, und "Erdkunde", das 1962/1965 geschrieben, zunächst liegen blieb, auszugweise 1965 unter dem Titel "Erdkunde. Übungsstück für ein Ehepaar" veröffentlicht, 1966 als Hörspiel gesendet und schließlich - um einen Akt vermehrt - 1967 von Kortner an den Münchner Kammerspielen in einer vieldiskutierten Inszenierung vorgestellt wurde, zu einem Zeitpunkt, als sich Walser längst neuen Fragestellungen zugewandt hatte. Die Essays des Bandes "Heimatkunde" , 1968, sprechen davon eine beredte Sprache. Aber auch die jetzt vorgelegten Hörspielarbeiten, "Wir werden schon noch handeln", "Welche Farbe hat das Morgenrot" und "Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe" belegen dies. Einmal, indem Walser, dem Aktualitätsanspruch des Rundfunks entsprechend, zu aktuellen Fragen spielerisch Stellung bezieht, so in "Welche Farbe hat das Morgenrot?"

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Die Studienreform, zu Beginn der studentischen Unruhen gefordert und, obwohl überfällig, bis heute infolge Autoritärer Interessen verzögert, ist zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden. Konsequent richtet sich die Kritik der Studenten nicht mehr nur gegen die feudalistische Struktur der Universitäten, sondern gegen die Institutionen des Staates. Dieses Hörspiel reflektiert - dokumentarisch und parodistisch zugleich - den Anspruch der Studenten und die Reaktion der Vertreter des Establishments.

Autor

(Zeutschel: Hörspiel-Archiv). Anders als die meist kurzatmige und kurzlebige Dokumentarliteratur der damaligen Jahre verfährt Walser aber nicht plakativ sondern gleichsam sprachkritisch. Seine Vorbemerkung "Zur Produktion" - und derartige Vorbemerkungen bedürfen, soweit Walser sie macht, der gründlichen Lektüre - besagt nämlich über die akustische Realisation der Zitate in diesen "7 Szenen aus der Gegenwart":

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Die meisten Zitate werden übermäßig ausgesprochen, als wären es Rezitative; also opernhaft; das Ziel ist, die in den kurzen Statements enthaltene Haltung ganz und gar auszudrücken. Das wird oft grotesk und karikaturistisch wirken; das liegt an den Zitaten; Selbstgerechtigkeit, feierliche Leere, keifende Besserwisserei, salbadernde Gelehrsamkeit, zynischer Fachidiotismus, all das muß herauskommen, da ja die Zitate Klischee-Haltungen denunzieren. Wo dies nicht der Fall ist, muß (es, R.D.) aus der jeweiligen Textpassage hervorgehen.

Autor

Wie sehr sich Walser mit einer solchen Auffassung und Handhabung des Zitats im Hörspiel den sprachlichen Intentionen des Neuen Hörspiels nähert, wird noch deutlicher, wenn man das ebenfalls sehr engagierte 3. Hörspiel dieser Gruppe, "Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe", zuzieht, dessen Intentionen Walser wie folgt umrissen hat:

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Obwohl in der Mehrzahl dieser Szenen jeweils nur einer spricht, handelt es sich nicht um Monologe. Es sind immer Dialoge, bei denen einfach der Partner fehlt. Der Partner kommt jeweils in den Redewendungen des Sprechenden vor. Der fehlende Partner ist als Adressat vorhanden. Der fehlende Partner fehlt also nicht: der Zuhörer ist der fehlende Partner. Diese Szenen wenden sich direkt an den Zuhörer. Die Sprache dieses Dialogs mit dem Zuhörer ist keine persönliche Sprache einer speziellen Handlung oder charakteristischen Atmosphäre. Es kommen hauptsächlich die Sätze vor, die fix und fertig vorhanden sind in unserer Sprache. Und das ist das Erstaunliche: wenn man einmal den Vorrat an Sätzen mustert, die aus Kampferfahrungen stammen, dann sieht man, wie es zugegangen ist in den letzten sechs- oder achthundert Jahren. Wie viele Wendungen des Hohns, der Gemeinheit, der flehentlichen Unterwerfung, des schneidenden Übermuts, der hoffnungslosen Unterlegenheit liegen gebrauchsfertig in unserem Wortschatz vor. Wie viele Mißhandlungen müssen stattgefunden haben, bis sich so viel Mißhandlungssätze in der Sprache als Formeln niedergeschlagen haben. Inzwischen ist uns das bewußt geworden. Wir beginnen mit den Formeln zu spielen. In der Szene, in der die Zeugen vor Gericht eine Mißhandlung schildern, zeigt sich, wie wir jetzt mit solchen Formeln spielen, anstatt einzugreifen, um den Verlauf zu ändern. Auch die zwei, die sich darüber unterhalten, wie sie gerade einen fertig gemacht haben, sind höchst sensible Menschen: die Sprache bietet den beiden eine Menge Formeln an, in denen sie ihre Sensibilität feiern können und davon reden können, einen fertig gemacht zu haben. Die Fragen und Antworten am Ende sind der Versuch, dieses Ungenügen der Sprache zu denunzieren. Die Sprache wird denunziert als das total Wendige, Plastische, Anpassungsfähige: sie nimmt alle auf, bildet alles ab, steht zur Verfügung für jeden Gebrauch des Gebrauchs, für jede noch so raffinierte Aufhebung der Aufhebung der Aufhebung. Das heißt wohl, es genügt nicht, sich keusch und fein von den Sachen zurückzuziehen und die Sprache sprechen zu lassen... Letzten Endes ist der Anlaß zu diesen Szenen das schlechte Gewissen dessen, der sich auf die Sprache angewiesen sieht und sich damit nicht mehr begnügen will.

Was für die Stücke "Der Abstecher" und "Erdkunde/Die Zimmerschlacht" schon angemerkt wurde, die Möglichkeit ihrer doppelten Verwendung in den beiden Medien Rundfunk und Theater, gilt auch für die Hörspiele der dritten Gruppe. So wurden die Dialoge "Wir werden schon noch handeln" im Wintersemester 1967/1968 zunächst in der Dramatischen Werkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin aufgeführt, bevor sie der Südwestfunk am 12. Juni 1968 als Hörspiel sendete. Und das Hörspiel "Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe", 1969 vom Westdeutschen Rundfunk erstgesendet, wird 1971 in Buchform mit dem Zusatztitel "Szenen" veröffentlicht. Ein weiteres Werk, das Walser in den damaligen Jahren im Druck vorlegte, ist seltsamerweise nie als Hörspiel versucht worden, die auch sonst kaum beachtete, wegen ihres breitgefächerten Sprachspektrums, als sprachliches und als Darstellungsexperiment den
Hörspielen dieser Gruppe nahe verwandte kurze Prosa "Fiction" (1970).

Wie die Hörspiele "Ein grenzenloser Nachmittag" (1955) und "Erdkunde"(1966) die erste Phase des Erzählwerkes ("Ein Flugzeug über dem Haus"; "Ehen in Philippsburg"; "Halbzeit"; "Lügengeschichten") und - sie ablösend - eine Reihe von Theaterstücken zu Beginn der 60er Jahre ("Eiche und Angora"; "Überlebensgroß, Herr Krott"; "Der schwarze Schwan") umklammern, eine Werkphase, der sie nicht nur durch thematische Entsprechungen zugehören, so sind es jetzt zwei Sammlungen von Aufsätzen und Reden, von Ortsbestimmungen des Schriftstellers, die den Rahmen der dritten Gruppe von Hörspielen bilden: "Heimatkunde" (1968) und "Wie und wovon handelt Literatur" (1975).

So gesehen könnte man von den Hörspielen dieser Gruppe auch sprechen als von Versuchen des engagierten Schriftstellers, sich seiner (sprachlichen) Mittel und Möglichkeiten zu vergewissern. Zugleich wären sie dann die spielerischen Erfahrungen der Grenzen dieser Mittel und Möglichkeiten, Ausdruck der Irritation eines Schriftstellers.,

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der sich auf die Sprache angewiesen sieht und sich damit nicht mehr begnügen will.

Einspielung

Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe.

Autor

Nach "Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe" schweigt - sicherlich auch durch die damalige Werkentwicklung bedingt - der Hörspielautor Walser einige Jahre, um 1974 mit einer in größerem zeitlichen Abstand vorlegten Hörspielfolge vor dem Hintergrund seiner Bodenseeheimat neu einzusetzen und anzusetzen. Die Folge dieser grotesken Kriminalhörspiele - "Verteidigung von Friedrichshafen", "Lindauer Pietà", "Säntis" - ist noch nicht abgeschlossen. Für sie schuf sich Walser, dem ein Kritiker nachsagte, seine Romanhelden seien Versuche, sich jeweils "einen Partner zu schaffen, der mit der Welt besser fertig wird als man selbst" (Reich-Ranicki), für sie schuf sich Walser nach dem Tode seines Romanhelden Anselm Kristlein ("Halbzeit", "Das Einhorn", "Der Sturz" (1975)), mit dem Privatdetektiv und Hochstapler Thassilo S. Grübel einen Hörspielhelden als neuen Katalysator für seine zeit- und gesellschaftskritischen Ambitionen. Vergleichbar der Dürrenmattschen Entscheidung, Kunst da zu machen, wo sie niemand erwartet, nutzt Walser das triviale Genre des Krimis für durchaus hintersinnige Zwecke, ein Spielen mit doppeltem Boden.

Thassilo S. Grübel - erfährt der Hörer des ersten dieser Hörspiele - braucht Geld und verschickt deshalb Erpresserbriefe einer erfundenen Gangsterbande und gleichzeitig Briefe, in denen er seine Dienste als Privatdetektiv anbietet. Adressat dieser Briefaktion ist eine der Stuttgarter Schickeria in "Ehen in Philippsburg" und "Halbzeit" wesensverwandte Bodensee-Schickeria, die - zunächst auf ihre eigenen Praktiken vertrauend - auf die Dienste Thassilo S. Grübels glaubt verzichten zu können, so daß der Privatdetektiv mit wirkungsvollen Attentaten nachhelfen, bzw. seine Indienststellung nachdrücklich empfehlen muß.

Einspielung

Verteidigung von Friedrichshafen.

Autor

Daß es dabei um mehr als einen Fall erfundener Erpressung, um was es ihm eigentlich geht, hat Walser anläßlich des ersten Hörspiels dieser Folge so formuliert:

Zitat

Es handelt sich (...) bei diesem selbstarrangierten Fall um einen Fall von Bedürfnisweckung, es wird das Bedürfnis nach einem Service, nach einem Produkt geweckt: das ist in unserer Gesellschaft etwas Alltägliches. Es handelt sich in TSG [Thassilo S. Grübel, R.D.) auch um einen, der Konsequenzen aus Angestelltenerfahrungen zieht: er entwickelt Initiative, wird endlich selbständig. Und es handelt sich in TSG auch noch um einen, der selber dafür sorgen muß, daß er nicht für überflüssig gehalten wird. Auch das soll öfter vorkommen.

Autor

Wir müssen mit diesem Walser-Zitat unseren sehr fragmentarischen Exkurs in das komplexe Hörspielwerk eines weitgehend unbekannt gebliebenen Hörspielautors abbrechen. Zumindest dies hoffen wir deutlich gemacht zu haben: Walsers Hörspiele sind nicht Nebenprodukt, geschickter und willkommener Nebenerwerb eines aufs Geldverdienen angewiesenen freien Schriftstellers. Walsers Hörspiele sind vielmehr mit seiner gesamten schriftstellerischen Produktion auf vielfache und mannigfache Weise verknüpfter, wenn auch weithin unbekannter Teil dieses Gesamtwerkes. Als Verfasser von Romanen, Erzählungen und Dramen mit Recht bekannt, ist der Hörspielautor Martin Walser immer noch zu entdecken.

WDR III, 17.12.1979