In seiner 1978 erschienenen Bestandsaufnahme "Das deutsche Hörspiel" rechnet Stefan Bodo Würffel Dieter Wellershoff neben Wolfgang Weyrauch und Günter Eich "zu den bedeutendsten Autoren des traditionellen deutschen Hörspiels" (2), während Heinz Schwitzke 1963 in Peter Hirche, Benno Meyer-Wehlack, Jan Rys und Wellershoff die "wichtigsten Autoren zwischen dreißig und vierzig vermutete, die jetzt nach Eich und Hildesheimer, nach Frisch und Dürrenmatt (...) als Nächste am Zug" (3) seien. Diese unterschiedliche Einschätzung deutet etwas Von der Unsicherheit an, die die spärliche Geschichtsschreibung gegenüber dem Hörspiel der sechziger Jahre durchgängig erkennen läßt(4). Läßt sich Würffels Etikettierung "traditionelles Hörspiel", von den Entstehungsdaten der meisten ihrer Hörspiele in den fünfziger Jahren her, allenfalls für Wevrauch und Eich rechtfertigen, bleibt sie im Falle Wellershoffs völlig unverständlich, will man sein Hörspielwerk nicht kurzsichtig auf "Die Sekretärin" und "Der Minotaurus", die einzig von Würffel pauschal behandelten Titel, verkürzen.
Immerhin schrieb Wellershoff zwischen 1956 und 1973, rechnet man eine Funkerzählung hinzu, elf Hörspiele, und zwar in der Reihenfolge ihrer Sendung "Die Sekretärin" (1957), "Die Bittgänger" (1959), "Der Minotaurus" (1960), "Am ungenauen Ort" (1961), "Bau einer Laube" (1964), "Die Schatten" (1967), "Wünsche" (1969), "Wiederkommen" (1970), "Das Schreien der Katze im Sack" (1970), "Die Toten" (1971) und "Null Uhr Null Minuten und Null Sekunden" (1973) (5). Und bereits die Sendedaten legen, nach einer zunächst eher zögernden Produktion, das Schwergewicht des Hörspielwerkes auf das Ende der sechziger, den Beginn der siebziger Jahre. Wellershoff selbst hat bei einer Buchzusammenstellung 1970 die ersten beiden Titel weggelassen, sie also als für seine Hörspielintentionen untypisch ausgeschieden und in einem Gespräch (6) als die ihm wichtigsten Hörspiele "Bau einer Laube", "Wünsche", "Die Toten" und "Null Uhr Null Minuten und Null Sekunden" genannt. Auch dies legt das Gewicht eindeutig auf die späten sechziger und frühen siebziger Jahre und deutet zugleich eine Entwicklung an, die in "Das Schreien der Katze im Sack" ihren Kulminationspunkt hat und, die Abstinenz nach 1972 legt dies nahe, mit "Null Uhr Null Minuten Null Sekunden" zunächst als abgeschlossen gelten muß.
Wellershoffs Hörspiele liegen, ein Ausnahmefall in der Geschichte dieser Gattung, alle, zum Teil wiederholt, im Druck vor und sind nicht aus dem schriftstellerischen Gesamtwerk zu lösen. "Dies alles ist eine einzige Geschichte", pointiert es die "Vorbemerkung" zu "Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte", einer Zusammenstellung von Erzählungen, Hörspielen, einem Multi-Media-Szenarium, Gedichten und einem autobiographischen Nachwort, wie sich Wellershoff überhaupt dagegen gewehrt hat, in Gattungsschubladen untergebracht
zu werden (7). "Ich sehe das durchaus so, faßte er 1979 gesprächsweise zusammen, daß alle die Dinge, die ich schreibe, Romane, Gedichte, Essays, Fernsehfilme, Hörspiele einen einzigen Zusammenhang darstellen. Daß also, wer wissen will, was ich über das Leben denke, das alles lesen muß. Und daß das erst sozusagen meine Sache ist, das Ganze, was ich schreibe. Aber ich verlange natürlich auch vom einzelnen Stück, also vom Fernsehfilm oder vom Hörspiel, daß ein Moment von Totalität auch da enthalten ist. D.h. also, daß man aus der Perspektive des Hörspiels ein bißchen hineingucken kann in die Gesamtbedingungen des Menschen. Und daß man auch aus dem Fernsehfilm, der ein äußeres Geschehen vorführt, hineinblicken kann in das Innere der Person, jedenfalls an einigen wichtigen Punkten, wo die Personen sozusagen aufbrechen in ihrem Verhalten, ihrem Sprechen und so weiter. Aber die Akzente sind ganz verschieden, die Möglichkeiten sind ganz verschieden."
Wenn im folgenden fast ausschließlich von den Hörspielen Wellershoffs die Rede ist, geschieht dies mit dem stillschweigenden Zugeständnis, daß nur ein wenn auch gewichtiger Teil eines umfassenderen Werkzusammenhangs zur Sprache kommt, ein Teil allerdings, der in der vorliegenden Literatur, von Ausnahmen abgesehen (8), recht stiefmütterlich behandelt wird. Allerdings scheint Wellershoff, der Noch im Vorwort der Sammlung "Das Schreien der Katze im Sack" seine Hörspiele als ein "Probierfeld", inhaltlich, methodisch und strukturell (9) zurückgestuft hatte, hier nicht schuldlos zu sein aus einer Haltung heraus, die im Roman das "komplexeste und flexibelste", ein "übergreifendes" Medium sah, das auch Hörspiel und Fernsehfilm einschließe (10).
Doch haben inzwischen die Medien - mitbedingt möglicherweise durch Erfahrungen des Romanschreibers, speziell die relative Erfolglosigkeit seines formal interessantesten Romans "Die Schattengrenze" (1969) - für Wellershoff an Bedeutung (zurück)gewonnen:
"Das Stummsein des Romans ist für den, der lesen kann, kein Problem sondern vielleicht sogar eine Chance. Das sind seine eigenen Stimmen, die er dort sprechen läßt und so. Der Leser erzeugt ja den Text, indem er ihn liest. Aber es gibt wohl immer weniger Leute, die wirkliche Leser sind. Also, das glaube ich schon feststellen zu müssen. Es werden zwar Bücher gekauft, aber ob wir eine richtige Lesekultur noch haben, das bezweifle ich. Und deshalb sind auch die beiden anderen Medien für mich von großer Bedeutung, weil man da an Menschen herankommt, und zwar auch an, eben auch an moderne Sensibilitäten, nämlich Hörenkönnen oder Sehenkönnen. Und diese beiden Medien sind eben sinnlicher als der Roman. Sie sprechen direkt Sinne an, die Augen und die Ohren. Während der Roman unsere Imaginationsfähigkeit, das Denkvermögen, die Vorstellungskraft bloß anspricht, aber nicht über Sinnesorgane geht."
Wie bei den meisten Hörspielautoren der sechziger Jahre datieren auch bei Wellershoff die ersten Hörspielversuche in den fünfziger Jahren, ist vor allem sein Hörspiel "Die Sekretärin" durch die Identifikationsmöglichkeiten, die es bietet, leicht im Umfeld eines sogenannten Hörspiels der Innerlichkeit unterzubringen. Es wird zusammen mit Wellershoffs drittem Hörspiel, "Der Minotaurus", das 1960 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde, in der Literatur im Kapitel 'Monogloghörspiele' geführt. (11)
Aber "Der Minotaurus" unterscheidet sich bereits deutlich von jenen Hörspielen, "in denen", wie Burghard Dedner herausgestellt hat, "ein Held auf dem Wege zu neuen Einsichten ist, in denen er 'seine inneren Erfahrungen' macht" (12). Indem Wellershoff den Schluß des "Minotaurus" offen läßt, überläßt er es dem Hörer, zu entscheiden, ob die im Spiel verschobene Abtreibung am nächsten Tag nun doch stattfindet oder nicht, ob Mann und Frau zu einem wirklichen Gespräch kommen. Noch deutlicher als beim "Minotaurus" wird dieser Unterschied bei Wellershoffs viertem Hörspiel, "Am ungenauen Ort", das in seiner entwicklungslosen Kreisform entfernt an die Hörspiele Dürrenmatts und Frischs erinnert, die sich eben durch diese Form vom "quasi-provinziellen Sondercharakter" (13) des westdeutschen Hörspiels der fünfziger Jahre abgrenzen lassen.
Mit seinem offengehaltenen Schluß weist "Der Minotaurus" auf "Bau einer Laube" voraus. Auch in diesem Fall täuschen Hoffnung und Lösung, die sich anzudeuten scheinen. Der "Hörspielführer", der von einer möglichen Rettung der Ehe spricht, da der Mann "inzwischen das Seine" getan und mit dem Bau einer Laube "etwas Sinnvolles in die Welt gestellt" habe (14), irrt. Genaues Hinhören erkennt nämlich, daß diese scheinbare Hoffnung lediglich in den Gedanken des Mannes antizipiert ist, daß der Schluß des Hörspiels (= das Geräusch einer Handsäge) gar nichts darüber aussagt, ob und wie es denn mit den beiden nach der Rückkehr der Frau weitergehen wird. Hinzu kommt, drittens, daß der Bau einer Laube alles andere als eine für eine gestörte Ehe heilsame Leistung ist.
Die Laube, sagt Wellershoff, "ist ein Signal an die Frau: das ist mir ein Bedürfnis, eine kleine, umhegte, geschützte Welt. Aber die Laube ist natürlich auch eine Lebenslüge. Denn (der Mann) verdrängt ja die wirkliche Erfahrung, die ihm im Hintergrund deutlich ist, (daß seine Frau) sich von ihm (abwendet), daß sein Schüler ihn nicht mehr respektiert, daß das Kind vereinsamt ist, daß er (es) nicht halten kann und daß er selbst ein Bild von sich hat, das er nicht realisieren kann. Alles das will er ja beruhigen, indem er eine heile Welt baut, die Laube. Aber eigentlich ist das Zersägen des Holzes eher das Gegenteil, d.h. im Grunde, während er die Lebenslüge baut, zerstört er sie eigentlich schon wieder. Das Bewußtsein arbeitet an der Zerstörung."
Daß das Zersägen des Holzes (durchgehendes und zugleich letztes akustisches Signal des Hörspiels (15) beim Bau der Laube zugleich und im Gegenzug die Zerstörung der Lebenslüge signalisiert, zeigt, wie komplex die Hörspiele Wellershoffs, der in diesem Fall auch sein eigener Regisseur war, und wie genau sie durchdacht sind. Daß derartige Genauigkeit auch für die Sprache gilt, ist leicht vermutet und mit Ausführungen Wellershoffs zum "Problem des letzten Satzes" (16) auch theoretisch abzudecken. Daß schließlich auch die Hörspieltitel komplex gewählt sind, sei gegen die in der Regel zu kurz greifenden Interpretationen am Beispiel des "Minotaurus" wenigstens angemerkt.
"Der Minotaurus ist das Ungeheuer, dem bekanntlich Menschenopfer gebracht werden. Der wirkliche Minotaurus in dem Stück ist natürlich die gestörte Beziehung dieser beiden Menschen, also sozusagen das Kommunikationsmuster, das gezeigt wird, ist der Minotaurus. Die Störung zwischen den beiden Menschen ist die Ursache, daß vielleicht ein Menschenopfer gebracht wird."
Gestörte Beziehung und Kommunikation zwischen zwei Partnern ist - ausgenommen "Am ungenauen Ort" - seit dem "Minotaurus" durchgängiges Hörspielthema Wellershoffs und wird in Form eines Zitats im Motto des letzten Hörspiels noch einmal präzisiert: "Und einer der teuflischsten Kreise unserer interpersonellen Entfremdung heutzutage ist der zweier entfremdeter Lieben, zweier selbstverewigter Einsamheiten, Nichtigkeit, die sich von der Nichtigkeit des anderen nährt, unentwirrbare, unbefristete Verwirrung, tragisch und komisch - der immer fruchtbare Boden endloser Gegenbeschuldigungen und Trostlosigkeit." (17)
"Interpersonelle Entfremdung" und gestörte Kommunikation werden jedoch in den einzelnen Hörspielen nicht einfach variiert, sie sind vielmehr ein Grundthema, das von Fall zu Fall seine zunehmend radikalere Zuspitzung erfährt. Als dreifacher "Widerspruch" werden sie dabei in Beziehung gesetzt: als Widerspruch, der, bezogen auf den Partner, im einzelnen Menschen selbst steckt, als Erfahrung der Widersprüche durch die "interpersonelle Entfremdung" und in der gestörten Beziehung zwischen der Innenwelt der Personen und einer sie aufs äußerste bedrängenden Außenwelt. Individuelle, zwischenmenschliche und gesellschaftliche Entfremdung: Eins bedingt das andere, eins spiegelt sich im anderen.
Dies darzustellen, bedient sich Wellershoff durchgehend der Grundkonstellation Mann-Frau, selbst dort, wo scheinbar nur von einer Position ausgegangen wird, der Position des Mannes im Funkmonolog "Wiederkommen", im Hörspiel "Die Toten", der Position der Frau in "Das Schreien der Katze im Sack". Brennpunktfunktion mißt Wellershoff dieser Grundkonstellation, die für ihn "sozusagen den sensiblen Mittelpunkt der Erfahrung" darstellt, auch theoretisch bei. "Und drum herum ist die Gesellschaft mit formalisiertem Sprechen, mit anonymem Sprechen, das Kraftfeld der kollektiven Prozesse, in dem dann diese verwundbare individuelle Stelle Mann und Frau erfahrbar gemacht wird. An der individuellen Beziehung zwischen zwei Menschen wird sozusagen der gesamte gesellschaftliche Druck ausgetragen."
Die Einführung der Stereophonie mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten kam dabei den Intentionen Wellershoffs entgegen, bot ihm die fast ideale Gelegenheit, "das authentische, also das ganz intime, private Sprechen und das entfremdete Sprechen miteinander in Beziehung zu setzen, wobei das entfremdete Sprechen, die Stimme der Werbung und der Literatur und der Politik und der Reportage und der Statistik und was auch immer das sein mag in den Stücken, auch der Wissenschaft, mit zum Begründungszusammenhang gehören für die Erfahrungen, die der individuelle Mensch macht, also allein zu sein, manipuliert zu sein, erschreckt zu werden, bedroht zu sein, nämlich durch all diese Stimmen, die ihn umgeben.
Am deutlichsten wird dies vielleicht in "Das Schreien der Katze im Sack", wenn ziemlich zu Beginn ein bedrohliches akustisches Chaos "anonymen" und "entfremdeten Sprechens" auf ein Paar hereinbricht, akustische Signale einer Außenwelt, vor der die Frau sich im Verlaufe des Stückes in die Welt des Wahns flüchten wird. Der am Schluß des Spiels mitgeteilte Brief der schizophrenen Katharina hat dabei in seiner verrückten Vision einer alles versöhnenden Rettung der Menschheit bei oberflächlichem Hinhören durchaus etwas von der Qualität einer Lösung, doch ist die Herstellung von Ruhe im Wahn der Katharina in Wirklichkeit ein ähnlicher Kurzschluß wie der durch umweltbedingte Kontaktunfähigkeit ausgelöste Sexualmord in "Wünsche".
Ähnlich ist auch der Befund in den beiden letzten Hörspielen Wellershoffs, die immer radikaler den Verlust der Liebe vorführen, die in ihnen lediglich noch enthalten ist als "Leerstelle", als "Möglichkeit", als "Wahn und Aggression" (18), die nur noch in der äußersten Form des Todes, in dem sich die intimste Kommunikationsmöglichkeit wieder herstellt, erlebbar ist ("Die Toten").
Ausgehend von der These Wellershoffs, daß wir "in einer Gesellschaft leben, in der die Konflikte der Menschen privatisiert werden", daß "privates Leiden Zeugnis für das Leiden in der Gesellschaft sei", spiegeln die gestörten Aktionsfelder der Stimmen in diesen Hörspielen die Zerstörungen, die in dem größeren Aktionsfeld der Umwelt geschehen. Insofern ist ihre zunehmende Apokalyptik durchaus realistisch, zumal die Spiele in der Regel von konkreten Anlässen ausgehen, in konkreten Vor-Bildern wurzeln, die allerdings in der "sehr persönlichen Aufmerksamkeitsrichtung" ihres Autors liegen.
"Ich möchte für meine Horspiele in Anspruch nehmen, daß sie realistisch sind, weil ich nicht von abstrakten Konstruktionen ausgehe, sondern von individuellen, konkreten Details, die mich angeregt haben, näher mich mit dieser Sache, diesem Menschen, mit der Situation zu beschäftigen. Aber sie sind durchaus nicht in irgendeinem fotografischen Sinne realistisch, wie zum Beispiel das 0-Ton-Hörspiel beansprucht, dokumentarisch-realistisch zu sein, indem man also die Sache selbst direkt reproduziert. Es sind gestaltete Stücke, durchaus mit verschiedenen Mitteln, wobei eben individuellere Sprache und anonymere Sprache nebeneinander stehen. D.h., es gibt auch perssiflierende, parodierende Teile, die nicht unmittelbar realistisch sind, schon dadurch, daß sie einen Gegenstand verzerren, überspielen, vorführen. In einem größeren Verständnis des Realismus ist es durchaus realistisch, denn es werden wiedererkennbare Verhältnisse, Geschehnisse der Realität vorgeführt. Ich meine auch, daß die Personen, die ich darstelle, psychologisch wahr sind, daß man sich in sie bis zu einem gewissen Grade einfühlen kann, daß sie nicht einfach Rollenträger sind, nicht einfach Ideenträger, sondern individuelle Menschen mit ihren Reaktionen, ihrem Temperament, ihrer Sprechweise und so."
Wellershoff, bei dem Theorie
und Praxis sich wechselseitig ergänzen, soweit, daß im Roman
"Einladung an alle" die Theorie in die Fiktion hineingenommen ist, hat
seine Theorie realistischen Schreibens in mehreren Essaysammlungen vorgelegt,
auf die hier nur stichwortartig verwiesen werden kann. So fordert er zum
Beispiel eine "phänomenologisch orientierte Schreibweise", die gegen
den
vorherrschenden "Manierismus",
die "strukturelle Abstraktion" zeitgenössischer Literatur, gegen ihre
"Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt" den "sinnlich
konkreten Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche
Leben" setzen, die "pathologische oder kriminelle Abweichung vom Mehrverhalten"
darstellen solle. Wie konkret die Anlässe, die auslösenden Vorbilder
der Hörspiele sein können - dem Hörspiel "Die Toten" liegt
zum Beispiel eine Flugreise des Autors nach Israel zugrunde -, läßt
sich recht instruktiv für "Bau einer Laube" belegen, wo in die Gestalt
des Studienrates Bodo Möller drei Männer eingegangen sind. -
"Das erste war ein Bekannter, der mich besuchte und einen sehr depressiven Eindruck auf mich machte, aber sehr optimistisch redete, jetzt wäre alles besser, und seine Frau sei in Kur gefahren, und sie würde sich jetzt mal erholen, und ihre Ehe würde jetzt wieder in Gang kommen. Ich hatte genau den gegenteiligen Eindruck: da ist eine Katastrophe. Und tatsächlich, nachdem ich das Hörspiel geschrieben hatte, haben die Leute sich geschieden. Es bestand kein ursächlicher Zusammenhang mit dem Hörspiel, aber das Hörspiel war sozusagen die Prophetie: diese Beziehung ist auf dem Katastrophenpunkt. Ein zweiter Bekannter, der vergeblich ein Buch zu schreiben versucht hat, über Jahre hinweg, und nie damit zu Rande gekommen ist, ist in diese Figur eingegangen. Und ein dritter, der Religionslehrer war, dem ich aber anfühlen konnte und anmerken konnte, daß er das alles nicht mehr glaubte, was er berufsmäßig vertreten maßte, der sich das selbst aber nicht eingestehen konnte, um noch in seinem Beruf weitermachen zu können."
Diese drei Vor-Bilder des Studienrats und Religionslehrers Möller, ihre Verschmelzung und ihr Durchspielen als Hörspiegelfigur machenneinsichtig, was Wellershoff mit psychologisch wahrer Figurenausformung, mit "wiedererkennbaren Verhältnissen und Geschehnissen der Realität" meint. Und sie bieten zugleich, sieht man ihre Ausformung nicht nur aus der Perspektive der Hörspielfigur, sondern gleichzeitig aus der Sicht ihres Autors, im Ansatz eine Möglichkeit, zu zeigen, wie komplex die Monologstruktur der Wellershoffschen Hörspiele ist.
Bezogen auf den Gegensatz von "anonymem" (Außenwelt) und "privatem Sprechen" (Innenwelt) hat Wellershoff sein Interesse am Monolog begründet und auf die Anregung durch Nathalie Sarraute verwiesen:
"Was mich am Monolog immer interessiert hat, ist, das Entstehen der Gedanken zu erfassen, also das, was noch nicht sozial geworden ist amDenken. Sozial wird ja erst das, was wir formuliert haben, und zwar in Gesprächen, in Appellen und so weiter. Davor gibt es aber eine Sprache, die noch nicht formuliert ist, die noch nicht sprachlich ist. Das ist sozusagen das Entstehen der Gedanken im Bewußtsein, das heimliche, das flüsternde Sprechen. Und das ist oft sehr viel - sagen wir mal - vielsagender und bedeutungsreicher als das, was wir dann kontrolliert sagen. Und da war für mich eine ganz große Anregung zum Beispiel die franzäsische Schriftstellerin Nathalie Sarraute, die zu der Gruppe des Noveau Roman gehört. Die hat ja diese Schreibweise für die Prosa entwickelt, das Denken vor dem Lautwerden des Denkens zu formulieren."
Der versteckte Hinweis auf
den "infrapsychischen Realismus" der Nouveaux Romanciers, die ja ebenfalls
in der Hörspiellandschaft der sechziger Jahre eine gewichtige Rolle
spielen (19), modifiziert zum einen das Realismuskonzept Wellershoffs,
und er deutet zugleich an, daß eine von Wellershoff bevorzugte Monologstruktur
nicht zufällig und keinesfalls traditionell herleitbar ist. Daß
sie ihre inhaltliche Begründung aus der Thematik der gestörten
Kommunikation, der "interpersonellen Entfremdung" erfährt, dürfte
mit dem bisher Gesagten hinreichend belegt sein. Ihr Komplexität wird
aber erst deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der aus
drei Vor-Bildern zusammengesetzte Studienrat und Religionslehrer Möller
in seiner Verschmelzung gleichzeitig Spielfigur, Kunstfigur eines Autorenmonologs
ist, spielerische Ausformung eines endlosen Selbstgesprächs, mögliche
fiktive Annahme in der Lebensgeschichte seines Autors. So ist nur konsequent,
wenn Wellershoff in der "Vorbemerkung" zu "Doppelt belichtetes Seestück"
die unter diesem Titel zusammengefaßten Arbeiten als eine "einzige
Geschichte" apostrophiert, die, da sie von ihm
selbst spreche und ihn selbst
meine, "am schwersten zu erzählen" sei.
Dieses besondere Verhältnis des Autors zu seiner Geschichte ist also mitzubedenken, will man über die Monologstruktur der Hörspiele Auskunft geben.
"Wobei das Verhältnis des Autors zu seinen Geschichten sehr komplex sein kann. Es kann das Gegenteil des praktischen Lebens des Autors sein. Es kann ein konfrontiertes imaginäres Leben sein. Es kann sein, daß es sozusagen alternativ erledigte schlimme Möglichkeiten sind, die man aus sich herausschiebt: man hätte es sein können, aber man ist es nicht. Bedrohungen, die man sich einfach vor Augen führt, und alle möglichen Formen von Umgang mit sich selbst sind da denkbar. Und Vermittlungen mit sich selbst über andere Figuren, daß man also Teile von sich selbst in andere Leute hineinprojiziert, in die imaginären Figuren des Stücks, und sie dort bis zu einem extremen Punkt führt, um sie sich vor Augen zu führen. Ja, ich glaube, das ist das, was man Phantasie nennt. Sich über Phantasie kennen zu lernen.
Dadurch, daß es Phantasiespiele sind, ist bis zu einem gewissen Grade die Angst vermindert, und bis zu einem gewissen Grade kann man weiter gehen, als man es natürlicherweise so tun würde, wagen würde, in seinem eigenen Leben. Und, ich meine, man macht dabei auch die Erfahrung der Intensivierung. Gerade indem man eine schreckliche Erfahrung darstellt, kann man das Gefühl haben, intensiver mit dem Leben in Berührung zu kommen, gesteigert zu sein in seiner Erlebnisfähigkeit. Ich habe oft erlebt, daß die Darstellung von chaotischen, destruktiven Prozessen verbunden sein kann subjektiv mit einem Befreiungserlebnis: Das alles kannst du wahrnehmen, das alles kannst du dir zumuten, soweit geht deine Kompetenz, das Leben zu sehen. Es sind also auch Tests auf das, was man aushalten kann. Und ich meine, so geht es auch mit dem Hörer. Der Hörer wird natürlich von diesen Dingen herausgefordert und attackiert und in Frage gestellt, und er kann also mit sich selbst eine Erfahrung machen. Wie weit gehe ich da mit? Und: wie weit kann ich da mitgehen, ohne umzukommen in der Sache?"
Wenn Wellershoff so den Hörer ausdrücklich in seine Überlegungen einbezieht, bestimmt er - ähnlich den Nouveaux Romanciers - das Ich seiner Hörspielstimmen als den Ort, an dem sich Autor und Hörer treffen. Daß dieses Treffen kein Plauderstündchen ist, sondern eher die Dimension einer psychoanalytischen Sitzung hat, erklärt sich aus der Grundthematik der Hörspiele von selbst. Und hier findet die Monologstruktur auch ihre letzte Begründung.
"Ich meine, der Hörer meiner monologischen Hörspiele befindet sich in der Situation des Arztes, dem ein Kranker sein inneres Leben anvertraut. Er hört jemanden sprechen, der ganz nahe bei ihm ist, er kann fast in ihn hineinhören. Nur ist das natürlich keine einseitige Situation, sondern der Patient prüft ja auch den Therapeuten, d.h. der Therapeut wird herausgefordert durch die Geständnisse des Patienten, sich selbst zu erfahren, sich selbst zu formulieren, eine Position zu finden, das zu deuten, was der andere sagt. Es ist immer eine Wechselbeziehung dann auch."
Wellershoff hat diese psychoanalytische Dimension (20) seiner Hörspiele sogar spielerisch vorgeführt in einer "Wünsche" einleitenden Befragung, die so doppelte Funktion hat: einmal innerhalb des Spieles die Aufklärung des Falles einzuleiten, darüber hinaus dem Hörer die psychoanalytische Dimension zu signalisieren, seine Teilnahme herauszufordern, sich selbst zu erfahren. So gesehen sind Wellershoffs Hörspiele der zweiten, vor allem der dritten Werkphase Gedanken- und Erfahrungsspiele, Phantasiespiele, die über die Irritation zur Therapie führen sollen.
Jede Therapie aber ist im Verständnis Wellershoffs "eine Reise ins Totenreich. - Man maß also sozusagen in sein eigenes Totenreich absteigen, ob da nun der Minotaurus sitzt oder was auch immer für ein Ungeheuer, man muß jedenfalls bis zu deren eigenen Schrecken vordringen, sonst ist es keine Therapie. Ob das nun das Tibetanische Totenbuch ist oder alle anderen Mythen, die Odyssee - sie alle erzählen von einem Erfahrungsweg durch alle Schrecken hindurch. Und so ist es beim Schreiben auch. Das Schreiben ist eine Reise durch das eigene Unbewußte, die eigene Gegenwelt, wie auch immer."
Der Hörer, so möchte
es Wellershoff, soll, gelenkt durch das Spiel, provoziert werden, diesen
Weg ebenfalls zu gehen. Er soll aus der Erfahrung der gestörten bis
zerstörten Kommunikationsfähigkeit die Aufforderung annehmen,
in den "Verwerfungen, den Rissen, den Brüchen, den Bruchstellen" dennoch
erkennen, daß es dahinter "ein Ganzes geben" muß, ein "Zusammen
von Innerem und Äußerem, von Ich und Du". Das hat etwas von
der absurden Hoffnung eines Sisyhpos, dem philosophischen Modell Albert
Camus', mit dem sich Wellershoff 1963 auseinandergesetzt hat. Aber trügt
diese Hoffnung nicht? Setzt sie nicht zwischen Autor und Hörer ein
halbwegs intaktes Interaktionsfeld voraus, dessen Zerstörung und Zerstörtsein
die Hörspiele immer radika1er vorführen? Es mag Spekulation sein,
aber die Hörspielabstinenz Wellershoffs nach "Null Uhr Null Minuten
Null Sekunden" könnte hier eine Begründung finden. (21)
Die weiteren Anmerkungen werden nachgestellt