Die Kritik war wohlwollend und bestätigte: "Hirscher sucht die Verzauberung, nicht den Schock". "Er hat Phantasie". Sogar die Putzfrau lobte: "Sie müsse amol nach Altötting, do isch des drhoim, was Sie mache". Eine zusätzliche Sensation der Ausstellung war die Verwendung des Wortes "Vernissage" in der Einladung. Da es zwei Dritteln der Stuttgarter damals noch nicht vertraut war, befragten viele ihr Lexikon und fanden dort verwundert u.a. die Definition "letzte Ölung" vor. Also ein gefährlicher Ruch von Romantik und Katholizität! Otto Lutz hingegen nannte dies "literarisches Fluidum" und behielt recht. Langsam kam der Ruhm. Bedeutende Autoren wie Hans-Magnus Enzensberger, Peter Gorsen, Raoul Hausmann, Helmut Heißenbüttel, Kurt Leonhard und Herta Wescher beschäftigten sich mit der Bedeutung von Hirschers Arbeiten. Herta Wescher, in ihrem grundlegenden Werk "Die Collage, Geschichte eines künstlerischen Ausdrucksmittels" (Köln 1968, S.311), schrieb über ihn, daß seine Schreine, die er mit buntem, glitzerndem Tand, Spitzen, Goldhaar, Stanniol, Tüll, Broschen, Perlen, botanischen Fundstücken oder auch Käfern ausstaffiert, äußerst heiter wirken. "Er laßt sich von Werken der barocken Volkskunst inspirieren, deren Einflüsse gleichfalls bei anderen Malern sichtbar werden... Anzeichen dafür, daß man der Glorifizierung des Banalen überdrüssig geworden ist."
Collagen und Materialbilder sind keine Erfindung der Moderne; die ältesten, uns bekannten Beispiele stammen aus dem Japan des 12. Jahrhunderts. Um 1600 tauchen in West- und Mitteleuropa Papier- und Pergamentschnittarbeiten auf, das Materialbild sogar schon beinahe 100 Jahre früher. Die süddeutschen "Wettersegen" aus dem 16. Jahrhundert sind echte Materialmontagen und halten sich bis ins 19. Jahrhundert.
Collagen und Materialbilder dienten den unterschiedlichsten Zwecken: der Religion, der Poesie, der Liebe (bis heute in Form von "Valentines»), der Verzierung von Einrichtungsgegenständen, der Werbung, dem aufkommenden Tourismus in Gestalt des "Souvenirs", der Sichtbarmachung sentimentaler Erinnerung (Brautkränze oder Firmungsschleier unter Glasstürzen, kostbar dekoriert) usw. Die Collage wurde sogar malerisch dargestellt, wie z.B. in der Trompe-l'oiel-Malerei des Amerikaners John Haberle um 1890.
Doch erst im 20 Jahrhundert entdeckten avantgardistische Künstler die Möglichkeiten der Collage, der Montage und des Materialbildes als neues gültiges Ausdrucksmittel. Das Gesicht der Kunst unserer Zeit wurde von dieser Entdeckung wesentlich geprägt. Den Anfang machte in Frankreich wohl Pablo Picasso im Jahre 1912. Georges Braque, Juan Gris, Albert Gleizes, die beiden Delaunys, aber auch Futuristen wie Balla, Severini oder Boccioni beschäftigten sich mit Klebearbeiten. In Deutschland gehören zu den frühesten Collagen kleine geklebte Arbeiten von Gabriele Münter, die zwischen 1909-11 entstanden und von bäuerlicher Volkskunst angeregt wurden. In Rußland tauchte die neue Ausdrucksmöglichkeit um 1912 auf; Malewitsch produzierte 1913-14 eine Reihe von denkwürdigen Collagen. Doch bereits 1913 ging Marcel Duchamp mit neuen Techniken - Umrißformungen aus Bleidraht, mit Lack und Farbe auf Glas geklebt oder auf Leinwand genäht - über das bislang übliche Collage-Verfahren hinaus. Als er dann zufällig gefundene Gegenstände zusammenfügte und mit Titeln versah, war der Weg zur Assemblage und Collage unserer Zeit frei. Fast alle namhaften Künstler unseres Jahrhunderts bedienten sich dieser Techniken und entwickelten sie weiter. Nach dem 2 Weltkrieg erlebten Collage und Material-Assemblage in allen Ländern ein unerhörtes Comeback, und in den 50erjahren versuchten drei große Museumsausstellungen ("The Art of Assemblage", Museum of Modern Art, New York, 1961; "Cinquante ans de Collage", Musée d'Art et d'Industrie, Sainte-Etienne, und Musée des Arts Decoratifs, Paris 1964; und "Von der Collage zur Assemblage", Institut für Moderne Kunst, Kunsthalle Nürnberg 1968) einen internationalen Überblick dieses in einer so großen Vielfalt der stilistischen Richtungen und Techniken auftauchenden Ausdrucksmittels zu geben. Heinz E. Hirscher ist in diesen großen Ausstellungen vertreten, obwohl er 1961 erst 34 Jahre alt ist, also kaum zu den international arrivierten "Altmeistern" gezählt werden konnte.
Bei einem Aufenthalt in Paris sieht Hirscher einige Bilder der Seraphine, dieser berühmten Putzfrau des Kunsthistorikers Uhde, die aus Erinnerungsstücken wie Grab- und Brautkränzen, Augen, Blättern, Asten, verwelkten Blüten, Bildkästen von eigenartig visionärer Kraft geschaffen hatte. Hier war aus der Sprache der Dinge etwas destilliert, das ihn tief berührte. Über 20 Jahre hinweg schuf Hirscher die Welt der Seraphine als ihr Grabmal, das er mit Grabbeigaben ausstattete, mit Denkwürdigkeiten, die Zeugnisse der Komplexität zweier Welten sind - der Welt der Seraphine und der Welt Hirschers. Seraphine, die Schöpferin einer Einheit ungestörter Natur, einer spiegelverkehrten Schrift, die zum Entziffern der Kunst zwingt, wird das Symbol der Anti-Kunst, mit der Hirscher die Kunst retten will. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies ist eine Metapher für die Unschuld, für eine echte, feine Struktur einer menschlicheren Gesellschaft, für eine Sinnlichkeit die mit Geist erfüllt und nicht von der Materie erstickt wurde, für Eros.
Wir kennen die Themen früherer Hirscher-Ausstellungen: Zur Ikonographie der Zigarrenkiste, Die Welt ist rund, Hexisches Gerät, Vom Nestbau gewisser Paradiesvögel, Ein Panoptikum französischer Gärten, 0 guter Gott des Brotes. - Grabmal für Seraphine und andern Denkwürdigkeiten führt sie alle zusammen: aus verschiedenen in sich geschlossenen Kapiteln ist ein großes Buch geworden, aus einzelnen Schautafeln und Votivobjekten ein großartig angelegtes Gesamtkunstwerk, das auch Hirschers literarische Arbeiten und seine Stuttgarter Umtriebe, wie das Bauen einer Weihnachtskrippe (1962) oder das Schmücken eines gigantischen Weihnachtsbaumes auf dem Stuttgarter Schloßplatz, das Entwerfen von Szenerie für Puppenspiele, denkwürdige Faschingsbälle, vor ihm ausstaffiert und arrangiert, u.v.a.m. beinhaltet.
Es scheint das Natürlichste von der Welt zu sein, daß diese Ausstellung in der Galerie Lutz stattfindet, Nachfolgerin jener Galerie, die Heinz E. Hirscher immer als sein "Stammhaus" betrachtete, obwohl Otto Lutz nur wenige Jahre nach der Ausstellung von 1960 starb, und sich somit ein Kreis schließt, in dem seine Arbeit leben und sich ausdehnen kann.
Susanne Kurman-Lutz, Stuttgart, 1.12.1978