Reinhard Döhl | Jean Genet Heiliger

Heute über Jean Genet zu schreiben, erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch. Auf der einen Seite begann Gallimard in Paris schon 1952 mit der Herausgabe der "Oeuvres complètes" des heute erst Fünfzigjährigen, andererseits ist z. B. die deutsche Staatsanwaltschaft bemüht, wenigstens einen Teil des übersetzten Werkes durch "Einziehung" aus dem Verkehr zu bringen, wie das augenblickliche Kunstunverständnis dabei ist, nach Lawrence's "Lady Chatterley's Lover" und Henry Millers "Wendekreisen" ein neues Exempel angeblich obszöner bzw. pornographischer Literatur zu statuieren, um nicht aus der Übung zu kommen und just im rechten Augenblick, wie es scheint, nachdem es dem Verleger Lawrence's in einem viel beachteten Prozeß gelungen ist, "Lady Chatterley's Lover" für den Buchmarkt frei zu bekommen. Im Zusammenhang paßt dies alles gut zu dem Phänomen Genet, und man wird ihm kaum anders gerecht, als eben mit einer heute beliebten Darstellungsform zu beginnen: nämlich die Genet-story zu skizzieren.

Jean Genet wurde 1909 oder 1910 (darüber variieren die Angaben) wahrscheinlich in Paris geboren. Von seinen Eltern alsbald im Stich gelassen, nahm sich die Fürsorge seiner und seiner Erziehung an. Nicht ganz 10 Jahre alt, kam Genet dann zu einem Bauernehepaar nach Morvan, das ihn aufnahm und - als er beim Stehlen erwischt wurde - Sorge trug, daß er in die gefürchtete, berüchtigte Besserungsanstalt Mettrey gesteckt wurde. Nach ein paar Jahren brach Genet aus, ging zur Fremdenlegion, desertierte nach wenigen Tagen und strolchte jahrelang durch Europa als Dieb, Schmuggler, Hehler und Zuhälter. Insgesamt wurde er wohl ein Dutzend Mal zu Gefängnis verurteilt. Während eines längeren Zuchthausaufenthalts in Fresnes begann Genet plötzlich, 1942, zu schreiben und es entstand sein erstes Buch, "Notre Dame des Fleur". Jean Cocteau, dann Jean Paul Sartre und Pablo Picasso wurden auf die zunächst im Selbstverlag erschienenen Bücher Genets aufmerksam, richteten das Interesse der Öffentlichkeit darauf und der Verlag Gallimard nahm sich des so entdeckten Autors an. Nach kurzer Freiheit wieder, diesmal lebenslänglich, inhaftiert, entstand Genets erstes Theaterstück, "Haute Surveillance", das auch ein breiteres Theaterpublikum für Genet interessierte. Jean Paul Sartre und Jean Cocteau vor allem setzten sich für den "Lebenslänglichen" ein und erwirkten tatsächlich seine Begnadigung. Jean Genet schrieb weiter. Und bereits 10 Jahre nach der Niederschrift seines ersten Buches begann der Verlag Gallimard mit der Herausgabe der "Oeuvres complètes". Diese Tatsache erscheint, wenn wir auch heute Gesamtausgaben noch zu Lebzeiten des Autors gewöhnt sind, jedenfalls überraschend, wenn nicht sogar ungeheuerlich. Dabei macht ein hermeneutisches Vorwort alleine den ersten der drei bis jetzt vorliegenden Bände der "Oeuvres Complètes" aus, in dem Jean Paul Sartre unter der bezeichnenden Überschrift "Saint Genet, Comedién et Martyre" seine Deutung des Phänomens Genet versucht. Seit 1957 (ungefähr) beginnt der Merlin-Verlag, Hamburg, mit der verdienstvollen deutschen Edition des Genetschen Werkes. 1960 erschien "Notre Dame des Fleurs", das inzwischen vergriffen ist und dessentwegen ein Verfahren schwebt. Angekündigt, aber leider noch nicht erschienen, ist ein weiterer wesentlicher Roman, das "Tagebuch eines Diebes".

Die von Jean Paul Sartre für Genet geprägte Formel, "Saint Genet, Comedién et Martyre", versteht man gewiß falsch, wenn man diese Wörter als 'religiöse' Begriffe interpretiert. Sartre meint sie sehr wohl innerhalb seiner Existentialphilosophie und durchaus real. Aber daß Sartre sich für Genet interessieren konnte, sich einsetzte und jetzt sein Oeuvre betreut, ist nach der Lektüre der Bücher Genets alsbald verständlich. Denn diese Bücher, die Romane, Dramen, Gedichte und vor allem die "Fragmente" stellen ein Musterbeispiel jener Literatur dar, die man auch als "Existenzmitteilung" bezeichnet hat. Sie sind "ästhetische Rechtfertigung" (E. Walther, M. Bense) eines Lebens, für das ausschließlich die Bedingungen des Außergesetzlichen gelten, in einer Literatur, dessen zentrale Themen die Päderastie und der Mord sind. In Genets Büchern und Bühnenstücken wird nicht etwa etwas erzählt, das schön oder häßlich sein kann, sie sind keine "Objektmitteilungen", keine Literatur des "es ist", vielmehr des "ergo sum", der Reflexion darüber. Es handelt sich um Texte, die dadurch entstehen, daß Erfahrungen in Sprache eingehen, Erfahrungen, die - gemessen an der landesüblichen Moral - unanständig und ungeheuer häßlich sind.

Entfernt berühren sich diese Texte mit den Literaturen der beatniks, der angry young men, mit der Literatur des maviciler und den Büchern Hlaskos und seiner Gesinnungsgenossen. Aber natürlich gehört Genet zu keiner dieser Gruppen. Jean Genet ist literarischer Einzelgänger, wie Francois Villon, Charles Baudelaire, der Marquis de Sade, D.H. Lawrence und Henry Miller. Was Genet von ihnen unterscheidet, ist die Präzisierung des Problems auf Päderastie und Mord, die - nur dem kriminellen Bereich angehörend - in einer faszinierenden Sachlichkeit geschildert werden, die selbst bei von Klerus und Dogma aufgewerteter Moralmünze ungeheuerlich erscheint. In Wirklichkeit hat sich aber spätestens seit Nietzsche in der Literatur das Problem "Moral und Ästhetik" anders gestellt, wie es auch in der Tat anders gehandhabt wird, obwohl die Öffentlichkeit die moralischen Münzen nach wie vor aus dem ständig gestopften Sparstrumpf einer zweitausendjährigen Moraltheorie bezieht.

Eine irrtümliche Trennung von Inhalt und Form führte z.B, zu der untragbaren Auffassung jener tradierten Moraltheorie, daß in Texten ein Abbild der Wirklichkeit zu sehen sei, aus dem man Erbauung und Erhöhung ableiten könne. In Wirklichkeit aber haben Texte, vorausgesetzt ihre Qualität, jeweils ihre eigene "Textrealität", die sie zum Beispiel vom Leitartikel ebenso unterscheidet wie von der Predigt, wie von der Pornographie. Und so wird man bei Genet nur davon sprechen können, daß es sich bei seinen Büchern um "Existenzmitteilung" handelt, wobei Erfahrung irgendwelcher Art in Sprache eingeht, und zwar rein in Sprache eingeht, was seine Bücher gegenüber der nur beschreibenden Literatur ebenso abgrenzt wie gegen die Predigt. Jean Genet ist Krimineller, Verbrecher und Päderast. Seine Erfahrungen, an der eingangs gegebenen Genet-story leicht abzulesen, läßt er in Sprache eingehen, nicht im Stile der beliebten Memoiren ("Auch ich war ein homosexueller Verbrecher"), sondern um sie im Mittel der Sprache zu objektivieren. Sprache als Verkehrsmittel ist auch ein Mittel der Kommunikation mit sich selbst, und es ist durchaus möglich, daß es sich bei Genets Büchern ebenfalls um die Erzeugung einer Kommunikationsmöglichkeit mit sich selbst handelt, obwohl das weniger Frage der Literaturbetrachtung ist.

Jean Paul Sartre berichtet, daß Genet nicht nur stahl, sondern daß er bewußt Dieb wurde (und ebenso Hehler und Zuhälter). Das aber heißt, daß sich Genet bewußt in den Zustand des gesellschaftlichen outlaws versetzte, daß er nicht nur ausgestoßen wurde, sondern sich selbst ausschloß, daß er nicht nur mit dem Gesetz zusammenstieß, sondern sich selbst entrechtete. Und das bedeutet auch eine Art von Selbstmord, der mit "gesellschaftlich tot" interpretierbar ist, und der eindeutig als Selbstmord erscheint, wenn man Genet gründlicher liest. Albert Camus schreibt in "Le Mythe de Sisyphe": "Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere [...] kommt erst später." Genet berichtet in den "Fragmenten" von seiner Absicht, Selbstmord zu begehen, wovon ihn nur der Entschluß zu einem "Bengel" abgebracht habe, Genet spricht dann von "Selbstmord, Mord oder Wahnsinn". In diesem Zusammenhang interessiert noch eine Stelle aus "Pompes funèbres". Im Kontext wird der Entschluß zu einem Mord geschildert, dessen Durchführung sich dann so liest: "Der Finger. Der Finger am Hahn. Der größte Augenblick der Freiheit war erreicht. Auf Gott schießen, Gott verwunden und sich aus ihm einen sterblichen Feind machen. Ich schoß. Ich schoß dreimal. Ein ebenso hübscher Junge könnte auch auf mich dreimal schießen. Schließlich zählte nur der erste Schuß. Das Kind fiel, wie man in solchen Fällen fällt, indem es sich über die Beine krümmte, das Gesicht gegen die Erde" (Übersetzung E. Walther).

Fraglos handelt es sich hier noch in der Übersetzung um gute Prosa, wie sich auch sofort etwas Wesentliches klar herausstellt: Daß man nämlich das Genetsche Werk "im Zusammenhang mit gewissen philosophischen Ideen" sehen muß, und daß es u.a. auch "Überlegungen zum Problem der metaphysischen Lage des Menschen überhaupt"(Max Bense) darstellt. Gewiß gilt das am meisten für die "Fragmente", aus denen wir abschließend auszugsweise zitieren werden.

Indem die Erfahrungen der Päderastie und des Mordes in Sprache eingehen, werden sie aber auch zu reinen Erfahrungen, ein Vorgang, der den z.T. reflektorischen Charakter dieser Texte erklärt. Sehr gut ist dieser Prozeß an zwei Zitaten aus "Notre Dame des Fleurs" abzulesen. In diesem Roman berichtet Genet von "Tunten", die dem Problem des Tötens in irgendeiner Weise gegenüberstehen. Dann heißt es: "Ich will den Mord besingen, da ich die Mörder liebe. Ihn besingen ohne Schminke. Ohne etwa zu behaupten, ich wolle mit seiner Hilfe meine Erlösung erreichen, obwohl ich mich nach ihr sehne - möchte ich töten." Und jetzt das zweite Zitat: "Lieber als einen Alten möchte ich einen schönen Jungen töten; ich würde dann - mit ihm vereint schon durch das sprachliche Band, das Mörder und Ermordeten aneinander fesselt (der eine ist nur durch den anderen) - in Tagen und Nächten verzweifelten Trübsinns von einem gefälligen Gespenst heimgesucht, dessen Geisterschloß ich wäre. Und dieser Prozeß mündet in den "Fragmenten" dann in die faszinierende Vision des Henkers, dessen Gerüst man zur Hinrichtung besteigt, und an dessen Arm man nach dem Akt (der Hinrichtung) wieder herunterschreitet.

In "Notre Dame des Fleurs" ist eines der auffallendsten Wörter das Wort "Gebärde". Diese Gebärde, das erdachte Liebesspiel der "Tunten", der erfundene Dialog und die ständige Konfrontation mit dem Problem des Tötens führen fast notwendig zu Genets erstem Theaterstück "Haute Surveillance" (Unter Aufsicht), indem hier in einer Gefängniszelle die Figuren der Phantasie in vier wirklichen Figuren über die Gebärde und den Dialog ins Spiel bis zum tragischen Ausgang gebracht werden. In seinen weiteren Stücken "Le Balcon" (Der Balkon), "Les Nègres", dies vor allem, und "Les Paravents" (Wände überall) kommt Genet über die Metapher "Die Welt ist ein Bordell" zu einer Art Welttheater, zu einem Mysterienspiel großen Stils, von der Kritik allerdings eingeschränkt als "eine Art schwarzes Mysterium" (S. Melchinger), "Mordweihespiel" und "Teufelsmesse" (G. Schlocker). Interessant wie die großangelegten Bordellszenen ist auch die Tatsache, daß es sich bei den Figuren der beiden letzten Stücke vornehmlich um Neger bzw. Araber handelt, deren Völker im Um- und Aufbruch sind, und denen Genet die Zukunft erteilt, nicht der Gesellschaft der weißen Rasse, aus der er sich ausschloß.

Diese Stücke sind mimisches Theater, "Zeremonien", in denen der Schauspieler sich "in eine andere Möglichkeit seines Menschseins verwandelt". Genet erklärte anläßlich der Aufführung von "Les Nègres" im Théâtre de Lutece: "Ein Zeremonienspiel könnte sich dem Unsichtbaren nähern. Wenn man sich entschlossen hat, seinem eigenen Sterben mit Genuß zuzusehen, muß man konsequent die Symbole des Todes heraufbeschwören." Dem Schauspieler aber kommen zwei Rollen zu: er selbst und die Rolle, die er spielt, in der er nur als Zeichen einer Handlung funktioniert, eine Maske trägt und nahezu zelebriert. G. Schlocker notierte, dies erinnere von fern an die Messe. Und die ist gewiß mitgemeint, wenn auch im Sinne Genets als schreckliche gekürzte Messe.

Die Kritik hat unter der Überschrift "Das Obszöne in der Literatur - Wer Tabus mißachtet, ist nicht dadurch allein schon ein großer Schriftsteller" davon gesprochen, daß Genet die Homosexualität hymnisch lobpreise, sie hat "Notre Dame des Fleurs" gegenüber Henry Miller und Lawrence Durrell als "schriftliche Schweinerei" abgegrenzt und gewertet. (Paul Hühnerfeld). Davon scheint aber jetzt kaum mehr die Rede möglich. Auch handelt es sich gewiß nicht darum, daß Genet "dem Bereich seines Unterleibes nirgendwo entgehen kann". Damit aber wirft sich die Kritik zu moralischen Urteilen auf, die weder ihr noch den anderen Machern einer öffentlichen Meinung zukommen. Auf die Frage: Was ist also für Sie die Moral?, antwortete Andre Gide sehr bezeichnend: "Ein Ableger der Ästhetik". Genet hat in den Büchern Baudelaires, des Marquis de Sade und anderer seine literarischen Vorgänger, wie spätestens Nietzsche für diese Literatur die theoretischen Voraussetzungen formuliert hat, indem er das Problem "Moral und Ästhetik" neu formulierte (z. B. im "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft"). Genets Theaterstücke (seine Bücher überhaupt) spielen nicht mehr auf dem Theater Schillers als moralischer Anstalt. Sie predigen nicht und erheben nicht, und auch das ist ein Gesetz. Und wir erinnern an das Vorwort zu "Mademoiselle de Maupin", in dem Théophile Gautier sagt: "Ich weiß nicht, wer wo gesagt hat, daß die Literatur und die Kunst einen Einfluß auf die Sitten haben. Wer dies auch gesagt haben mag, er ist unzweifelhaft ein großer Narr. Es ist, als ob man sagte: die Erbsen lassen den Frühling entstehen."

[notizen, Jg 6, Nr 32, Mai 1961, S. 14 ff.]

Kleine Bibliographie zu Jean Genet
Haute Surveillance,Tragödie (Gallimard, Paris, 1949)
Journal du Voleur (Gallimard, Paris, 1949)
Oeuvres complètes (Gallimard, Paris, 1952)
- Band 1: Jean-Paul Sartre: Saint Genet, Comedién et Martyre
- Band II: (Notre-Dame des Fleurs - Le Condamné à mort - Mirade de la Rose - Un Chant d'amour)
- Band III: (Pompes Funèbres - Le Pécheur du Suquet-Querelle de Brest)
Les Bonnes, Tragödie (Jean Jaques Pauvert, Paris, 1954)
Les Nègres (Uraufführung 1959, Théâtre de Lutéce, Paris)
Unter Aufsicht / Die Zofen / Der Balkon (Lizenzausgabe des Merlin-Verlages, Hamburg. Fischer-Bücherei Nr.311, 1960).
Die Werke sind auch einzeln im Merlin-Verlag erhältlich.
Notre-Dames des Fleurs (Merlin-Verlag, Hamburg 1960)
Wände überall (Merlin-Verlag, Hamburg 1960)
Die französische Ausgabe "Les Paravents" ist noch nicht erschienen.
Fragmente, rot 3 (Verlag der "augenblick", Siegen, 1960, als Sonderdruck aus "augenblick" 1960).
Die Mütter (Merlin-Verlag, Hamburg 1961)
Tagebuch eines Diebes (Merlin-Verlag, Hamburg, in Vorbereitung)