Die Ausstellung neuer Arbeiten Christine Gläsers im Kornhaus zeigt, ausgehend von einem Fensterbild aus dem Jahre 1983, eine Reihe von Vorhangbildern und wird mit drei Türbildern abgeschlossen. Zwischen diese Bilder auf Leinwand sind einige Stilleben auf Papier eingeordnet, die auch die Funktion haben, die scheinbar begrenzte Thematik der Ausstellung aufzulockern. Vor allem aber sollen sie andeuten, in welchem größeren thematischen Umfeld die Vorhang- und Türbilder Christine Gläsers zu diskutieren sind. Eine solche Diskussion darf sich selbst in der Kurzform einer Einführung nicht auf das Gezeigte beschränken. Vielmehr muß sie, soll sie vernünftig sein, versuchen, den Ort des Künstlers in seinen Traditionen zu bestimmen, seine spezielle Position gegenüber diesen Traditionen aufzuzeigen.
Formal und inhaltlich heißt dies im Falle Christine Gläsers erstens und zweitens, daß ihre Malerei den Bildtraditionen des Stillebens und des Interieurs zuzurechnen ist. Es heißt drittens, daß sie in einem Augenblick auszustellen beginnt, in dem die sogenannten Neuen Wilden zum Spekulationsobjekt des Kunstmarktes avancierten.
Ich beginne mit der Tradition des Stillebens. Definitorisch und traditionell versteht man unter einem Stilleben die Darstellung unbeweglicher Gegenstände. Diese Gegenstände sind in der Regel vom Künstler aus ihrer natürlichen Umgebung entfernt, damit ihrer eigentlichen Funktion enthoben und zu einer, den ästhetischen Vorstellungen des Künstlers entsprechenden Ordnung arrangiert worden. Was das Stilleben wiedergibt, ist also etwas bereits Vorgeordnetes, ein synthetisierter Bildgegenstand. Sind ihm Lebewesen (Tier oder Mensch) zugeordnet, hat dies ausschließlich gegenstandsbetonende Funktion, gewinnt also keine eigene Bedeutung. Ein den Früchten, den Blumen eines Stillebens gelegentlich appliziertes Insekt betont derart allenfalls die Frische der Gegenstände, als Trompe-l'oeil-Effekt die Kunstfertigkeit ihres Malers. Eine Aufzählung möglicher Gegenstände eines Stillebens kann ich mir, da hinreichend bekannt, ersparen.
Christine Gläsers Bildgegenstände sind zunächst durchaus entsprechend ein barockisierter Handspiegel und eine Flasche auf dem Fensterbild zu Eingang dieser Ausstellung, Teller und Gläser auf den beiden folgenden Papierbildern. Es können Bücher, Pflanzen, Notenständer, Stühle, Sessel sein. Und selbst die Bademäntel und Vorhänge auf einigen Arbeiten dieser Ausstellung ließen sich mit Vorbehalt hier subsumieren. Aber alle diese Gegenstände sind bei Christine Gläser zugleich durch ihre Alltäglichkeit, als Gebrauchsgegenstände und vor allem dadurch vom traditionellen Stilleben geschieden, daß sie vor dem Malakt nicht künstlich arrangiert, vielmehr auf ihrem vorgefundenen Platz belassen wurden. Anders ausgedrückt: während beim traditionellen Stilleben der entscheidende ästhetische Schritt vor dem Malakt liegt, in dem lediglich noch die Vorkomposition abgebildet wird, gewinnt für die alltäglichen bis banalen Stilleben Christine Gläsers der Malakt selbst zentrale Bedeutung. Nicht also Komposition von Gegenständen, sondern ihre Selektion aus der Umgebung, der Umwelt der Künstlerin sind Ausgangspunkt der Bilder Christine Gläsers. Daß und warum beim folgenden Malakt der selektierte Gegenstand als äußerer Anlaß immer weiter zurücktritt, wird noch zu erörtern sein.
Daß Christine Gläser den Begriff des Stillebens nicht nur in seinem engen Sinne verstanden wissen will, macht eine Werkstattnotiz deutlich, die unter ihm auch große Objekte im (Innen-) Raum, also "Interieurs" zusammenfaßt und damit eine zweite Tradition benennt. Unter Interieur versteht die Kunstgeschichte Bilder, die einen Innenraum, oft mit in ihm anwesenden Personen darstellen. Gleichgültig, ob dies ein Schlafzimmer, eine Küche, ein Arbeitszimmer oder Atelier mit oder ohne anwesende Person(en) ist, in. jedem Fall gewinnt der Betrachter Einblick in eine private Sphäre, wird ihm ein Blick gleichsam in die Intimität gestattet. Und dies aus einem Blickwinkel heraus, als sei er selbst in den Raum eingetreten. Nicht also das künstlich Arrangierte, sondern das persönlich geprägte Ambiente, nicht die kunstvolle Komposition funktionsloser Gegenstände, sondern die Funktion eines in seiner Räumlichkeit betonten Raumes sind Gegenstand des traditionellen Interieurs. Zeigt das Stilleben Kompositions- und Kunstfähigkeit seines Malers, läßt das Interieur Einblicke in seine private Umwelt, bei möglicher psychologischer Exegese sogar in sein Innenleben zu.
Auch hier wird Christine
Gläsers eigenwillige Position schnell deutlich. Zunächst einmal
gilt, was schon bei den Gegenständen ihrer Stilleben auffällig
ist - die Preisgabe der Dreidimensionalität. Werden dort die Volumen
der Sessel, Gläser, Teller undsoweiter zur Bildfläche hin gestreckt
und gedreht, um derart eine maximale Bildspannung zu erreichen, wird hier
die traditiorrell betonte Räumilichkeit auf den Tür- oder Fensterausschnitt
verkürzt und damit
praktisch aufgegeben. Wobei Tür- oder Fensterausschnitt oft zusätzlich
noch iri der Bildfläche deformiert erscheinen. Ferner fehlt den Interieurs
Christine Gläsers grundsätzlich die anwesende Person, so daß
auch dadurch der Eindruck des Privaten, gar Intimen durchaus vermieden
wird. Das Anschneiden der Türen und Fenster ließe sich vordergründig
aus der Tatsache erklären, daß Christine Gläser ihre Vorlagen
bevorzugt im Verhältnis 1 zu 1 umsetzt; kompositorisch bedeutet dies
für sie den Gewinn eine maximalen Bildspannung. Analvtisch gesprochen
und auf die Gegenstände der Stilleben bezogen, handelt es sich wiederum
um eine Selektion, genauer sogar um die Selektion (Türausschnitt)
einer Selektion (Tür). So bestjinde der Unterschied zwischen den Gegenständen
der Stilleben und den Gegenständen der Interieurs für Christine
Gläser lediglich darin, daß ihre Stilleben Gegenstännde
zeigen, die in der Umwelt der Künstlerin, dem Innenraum eine Funktion
haben (die allerdings nicht gezeigt wird), während die Gegenstände
der Interieurs mögliche Öffnungen dieser Umwelt, dieser Innenräume
nach draußen sind. Wobei interpretatorisch bedeutend wird, daß
sie die selektierte Umwelt, den selektierten Innenraum nicht nach außen
öffnen. So verhindert im ersten der drei Türbilder ein Blumentopf
das denkbare Öffnen der Tür, sperrt im Ausgangsbild ein auffällig
roter Fensterladen trotz geöffneten Fensters den Blick in die Außenwelt.
Dieser sicherlich nicht zufällig
aggressiv rote Fensterladen führt neben der auffälligen Farbigkeit
der Türen und Vorhänge zum dritten Ausgangspunkt zurück,
der zeitlichen Nachbarschaft zu den sogenannten Neuen Wilden Dabei ist
angesichts der Gedankenlosigkeit und des Lejchtsinns, mit der Kunstmarkt
und Kunstkritik Schubladen bereit halten, besondere Aufmerksamkeit geboten.
Diese betrifft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zunächst die Neuen
Wilden selbst, die zwar vielbeachtetes Spekulationsobjekt des Kunstmarkts,
nicht aber neu sind. Mit gewissem Recht als neu wären ihre Väter
zu bezeichnen, vor allem die Gruppe Cobra in den 50er Jahren. Was diese,
und ich nenne hier stellvertretend die Namen Karel Appel, Ansgar Jorn,
aber
auch Willem de Kooning außerhalb
der Gruppe - was diese in der Malerei trieben, war eine Radikalisierung
von Tendenzen, die zum ersten Mal in den Bildern der Fauvisten, aber auch
deutscher Frühexpressionisten, speziell im Umkreis der "Brücke"
provozierten. Wenn ich schon Gegenständliches auf meinen Bildern zeige,
argumentierten etwa die hierher zu rechnenden Künstler, zeige ich
zwar Gegenstände, aber ich bilde sie nicht ab. Wenn ich nicht abbilde,
besteht auch kein vernünftiger Grund, irgendwelchen Vorbildern farblich
zu entsprechen.
Genau diese expressive Qualifizierung der Farben aber hat Christine Gläser, wenn überhaupt, nicht bei den Neuen Wilden, denen man sie leichtfertig zuzuschlagen versuchte, sondern bei den eigentlichen Wilden, den Fauvisten im Ansatz studieren können. Man muß sich, um dies zu sehen, allerdings der kleinen Mühe unterziehen, die hier einschlägigen, übrigens nicht einmal zahlreichen Stilleben und Interieurs zum Beispiel eines André Derain, Henri Matisse, Kees van Dongen oder Maurice Vlaminck zu vergleichen. Der Kritiker, der sich im letzten Jahr anläßlich eines in ein Bild Christine Gläsers hineinragenden Pflanzenzweiges an Matisse erinnert fühlte (= R. Wurster), war also durchaus auf dem rechten Wege. Aber ein Vergleich mit den hier einschlägigen Stilleben und Interieurs der Fauves macht auch die Unterschiede schnell augenfällig.
Ich sehe diese Unterschiede und damit die auch in dieser Traditionslinie durchaus selbständige Position Christine Gläsers vor allem im bewußt Alltäglichen bis Banalen ihrer Bildgegenstände, in der bewußten Aufgabe von Räumlichkeit und Volumen, vor allem aber in ihrer sehr eigenen Farbigkeit, die sich auf den hier ausgestellten Arbeiten schneller studieren als von mir beschreiben läßt.
Nicht übergehen darf man schließlich die jeweils anders gerichtete Opposition der Bilder und ihrer Maler. Erfolgte die Befreiung der Farben von ihrer Analogie zur Wirklichkeit bei den Fauves in Opposition zum Naturalismus, grenzt sich Christine Gläser in Farbwahl und Handhabung ihrer Mischtechniken aus Acryl und Eitempera gegen jeden Realismus neueren Datums entschieden ab, seien dies die Oberflächlichkeit der Pop-Art, des Fotorealismus oder die Plattituden einer angeblich kritischen Malerei. Betont einerseits die sehr eigene Farbwelt ihrer Arbeiten den entscheidenden Abstand Christine Gläsers zur Farbigkeit der Fauvisten, trennt sie andererseits von der wilden Malerei der Cobra-Künstler und ihrer Epigonen eine Entwicklung, die von vielen kleinen Farbflecken und -flächen über größere Farbfelder zu einer inzwischen annähernd ruhigen und flächigen Gegenständlichkeit führte. Nie ein Ort psychischer Entleerung, war für sie dabei die Leinwand, der Malgrund von Anfang an der Ort, an dem sich ein in alltäglicher Umwelt aufgefundener Gegenstand in malerischem Prozeß, d.h. unter den Bedingungen des Malens zu einem Bildgegenstand mausert, den es in dieser Form und Bedeutung nur auf dem jeweiligen Bild gibt. Erst wenn der Bildgegenstand seine ästhetische Konkretion erfahren hat, d.h. mit nichts mehr für die Wirklichkeit außerhalb des Bildes steht, ist der Malakt abgeschlossen.
Was das unter anderem meint, wie ernst für die Bewertung der Arbeit Christine Gläsers dieser Malakt, der zugleich ein Prozeß der Abstraktion und der Konkretion ist, genommen werden muß, möchte ich stichwortartig an den beiden Türbildern erörtern, auf die hin die Exponate dieser Ausstellung ausgesucht und gehängt wurden. Ich habe diese Türbilder ruehrfach, vor allem auch in einer entscheidenden Zwischenstufe gesehen. Damals war der gelben Tür zum Beispiel noch ein farbiges Papier collagiert, material durchaus überzeugend. Nur: das Papier hellte durch Lichteinwirkung zu sehr auf, die Komposition der Farbe stimmte nicht mehr. Das Papier mußte (wieder) durch eine gemalte Fläche ersetzt werden. Bei der blauen Tür klappte es damals mit dem unteren Abschluß noch nicht, vor allem wohl deshalb, weil ihr Vorbild noch zu sehr dominierte.
Dieses Vorbild ist eine Schwingtür, durch die Christine Gläser hindurch muß, will sie ihr Atelier in einer alten Zuckerfabrik in Bad Cannstatt betreten. In Wirklichkeit ist diese Tür schmutzig weiß, unten gegen Fußtritte, denen Schwingturen stets ausgesetzt scheinen, mit Blech beschlagen, oben verglast. Von beidem ist auf dem endgültigen Bild nicht die Spur mehr zu sehen, denn selbst bei freizügigster Assoziation ist, bedingt durch die unter ihm liegenden, immer wieder durchscheinenden Farben, der Sprung von Blau zu Glas nicht mehr zu machen. Anders steht es um die Größe. verlängert man den Türausschnitt des Bildes nach links und nach oben bis zu einer ganzen Tür, würde man sich durchaus einem Verhältnis von 1 zu 1 nähern. Allerdings würden dann die Proportionen nicht mehr stimmen, wäre der vom Betrachter aus gesehen rechte Türflügel zu schmal.
Ausschnitt, Disproportioniertheit gegenüber dem Vorbild, eine andere Farbigkeit weisen hinreichend deutlich aus, daß es nicht um Abbildung einer realen Tür, eines realen Türausschnitts geht, sondern um eine Bildtür, die nicht Gesetzen der Funktionierens, sondern ästhetischen Gesetzen gehorcht.
Diesen ästhetischen Gesetzen läßt sich auf die Sprünge kommen, wenn man zum Beispiel nach dem Verhältnis von geschlossener zu offener Farbfläche, von Blau zu Grün, nach ihren Mischungen undsoweiter fragt. Wenn man zum Beispiel nach einem, dem Bild zugrunde liegenden Raster, nach seinem Mittelpunkt sucht. Dabei ließe sich vieles entdecken und beschreiben. Um hier vom Interessantesten, dem Mittelpunkt des Bildes zu sprechen: er findet sich genau im linken oberen Eck des unteren Farbfeldes des rechten Türflugels, eines Farbfeldes, das durch seine farbliche Vielschichtigkeit aber auch Indifferenz besonders auffällt. Ähnlich auffällig ist der Verlauf der beiden Mittelachsen, die das Farbfeld am oberen und linken Rand begrenzen, Wobei die vertikale Mittelachse ähnlich auffällig durch den rechten Turgriff verläuft. Würde man die untere Hälfte des Bildes noch einmal halbieren, verliefe diese Achse etwa unterhalb der beiden Turflügel. Die untere durchgängige dunkle Farbfläche macht danach etwa ein Viertel der gesamten Bildfläche aus. Würde man entsprechend die obere Bildhälfte noch einmal halbieren, würde dort die Achse genau unterhalb des linken Türgriffs verlaufen, der gemessen sowohl an dem realen Vorbild wie am Bildgriff des rechten Türflügels zuweit nach unten gezogen ist. Natürlich ließen sich auch rechte und linke Bildhälfte noch einmal unterteilen, so daß sich insgesamt sechzehn, am linken und rechten Bildrand offene Felder ergäben, von denen jedes für sich einer gesonderten Betrachtung wert wäre. Wer sich dafür interessiert, kann dies ja auf der der Einladung beigelegten farbigen Abbildung dieser Tür einmal versuchen.
Ich muß mich auf den Hinweis beschränken, daß dieses scheinbar so naiv dahingemalte Bild eine Arbeit hohen Ordnungsgrades darstellt (was selbstverständlich auch für die anderen in dieser Ausstellung gezeigten Exponate gilt). Und ich möchte abschließend - von diesem Hinweis ausgehend - auf einen Vorwurf antworten, der neuerdings den Bildern Christine Gläsers gemacht wurde: sie seien affirmativ.
Natürlich ist dieser Vorwurf so unberechtigt wie absurd. Denn daß, wie angedeutet, Christine Gläsers Vorhänge, Fenster oder Türen die Außenwelt auffällig aussperren, muß erst einmal verstanden werden. Desgleichen ihre zum Teil aggressive, zum Teil ausgesprochen schäbige Farbigkeit. Speziell im Falle der blauen Tür fällt nicht nur ins Auge, daß die beiden Türflügel weder unten noch gegeneinander schlüssig, sondern auch, daß sie am oberen Bildrand gleich mehrfach verschlossen sind. Um die - wenn man so sagen darf - existentielle Bedeutung dieser geschlossenen Bildtüren einsichtig zu machen, bedarf es einer kleinen Versuchsanordnung. Dazu müßte man das Bild abhängen und auf den Boden stellen, was der Malsituation im Atelier entspräche. Würde man jetzt noch die Malerin vor ihrer Tür plazieren, zeigt sich, daß sich die Türgriffe genau in der für sie richtigen Höhe befinden. Ich möchte daraus folgern, daß die ihrer realen Funktion (Durchgang zum Atelier) enthobene, in die ästhetische Konkretion (Bild) überführte Tür für die Malerin noch eine weitere Bedeutung, einen psychischen Aspekt besitzt, eine Öffnungsmöglichkeit darstellt, die zu durchschreiten ihr verwehrt ist. Das aber kann auf zweifache Weise gedeutet werden. Entweder hat Christine Gläser die Erkundung ihrer Umwelt, die ja auch so etwas wie die Außenwelt ihrer Innenwelt ist, noch nicht abgeschlossen, so daß sie sich selbst den Ausgang versperrt. Oder die Außenwelt jenseits von Vorhang, Fenster und Flur verwehrt ihr den Zugang, weist sie zurück auf eine Innenwelt, die so gesehen auch eine Innenwelt der Außenwelt ist. Gerade diese Ambivalenz von Außenwelt der Innenwelt (aus der Sicht der Künstlerin) und Innenwelt der Außenweit (aus der Sicht des Betrachters) macht über das Ästhetische hinaus den Reiz der letztjährigen Stilleben und Interieurs Christine Gläsers aus, ihre Spannung und nicht zuletzt auch ihre Qualität.
[Kornhaus Kirchheim/Teck, 3.3.1985]