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Reinhard Döhl | Siedeln an Abbruchkanten

Dieter Göltenboth hat seine Ausstellung ein wenig rätselhaft und scheinbar paradox "Siedeln an Abbruchkanten" überschrieben, rätselhaft auch deshalb, weil sich "Abbruchkanten" in keinem Lexikon nachweisen lassen.

Das Einladungsfaltblatt bildet eine kreuzförmige Arbeit ab, die "Strandkreuz" getitelt ist, mit der Materialangabe "Strandgut, Sand", und ein "Steinobjekt" mit der Materialangabe "Jurakalkstein, Roßhaar, Gips". Das Einladungsfaltblatt bildet also keinesfalls ab, was man immer noch als Kunststück, als Kunstwerk erwartet, sondern es verweist von vornherein deutlich auf Material und Fundstück, die sich durch die Arbeit des Künstlers zu etwas Neuem formen. Ich zitiere ergänzend aus einem kleinen Statement des Künstlers:

Nichts anderes will - in einer ersten Leseschicht - auch der Titel der heutigen Ausstellung besagen, wenn er die Exponate als Belege begreift für eine Kunst, die von Dieter Göltenboth als "Siedeln" an "Abbruchkanten" verstanden wird, als künstlerische Arbeit mit ausschließlich dem Material, das die Abbruchkanten dem Siedler zur Verfügung stellen.

Das ist im Konzept nicht einmal so neu, sondern - wobei auf die Reihenfolge zu achten ist - bereits antizipiert in Hans Arps Forderung, der Dichter solle den Leser vor ein "sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge" stellen. Dieser Formel vom "Sterben und Werden" korrspondiert an anderer Stelle die Formel von "Verwandlung und Werden", wenn Hans Arp für seine bildende Kunst festhält:

Der Unterschied zu Hans Arp besteht darin, daß Dieter Göltenboth seine Fundstücke nicht mehr abzeichnet und in der Zeichnung vereinfacht, sondern daß er sie zusammensetzt und dergestalt verwandelt.

Was macht nun das Besondere, das Eigene der hier und heute gezeigten Materialkunst Dieter Göltenboths aus, der, wie Heinz Hirscher, zu den in diesem Lande nicht seltenen, wenn auch viel zu wenig beachteten Doppelbegabungen zählt?

Ich beginne meinen Versuch, dieses Eigene und Besondere zu erklären, mit einem lakonischen Gedicht aus dem Jahre 1981, das Dieter Göltenboth, "Zum Mythos vom Ursprung" überschrieben hat. Es ist im Katalog zu dieser Ausstellung erstmals abgedruckt und lautet:

Adam kriecht aus seiner Höhle.
Er wälzt einen Felsbrocken
an die Stelle
wo einer seiner Söhne
erschlagen liegt.

Dann sammelt er die weißen Steine
und pflastert mit ihnen
den Platz vor der Hütte.

Durch den Nachthimmel
fallen Meteore.

Adam errichtet einen Schutzwall
aus großen Blöcken
während ihm Eva die Grütze kocht.

Später überlegen sie
wie es weitergehen soll.

Man könnte von diesem Gedicht direkt zur heutigen Ausstellung übergehen. Die Ausstellung "Siedeln an den Abbruchkanten" versammelt also Werkgruppen aus den 50er, 80er und 90er Jahren, die zwar für sich betrachtet werden können, die aber zugleich im Zusammenhang gesehen werden wollen und dabei auch auf die biographisch-künstlerische Existenz ihres Hersteller verweisen.

Die Ausstellung setzt ein mit Arbeiten aus den 50er Jahren, als Dieter Göltenboth noch Schüler Willi Baumeisters an der Stuttgarter Kunstakademie war, den schon genannten "Zentren", die bereits ablesen lassen, daß es ihm von Anfang an um Betonung des Materials bzw. des Materialen und um Welt in einem umfassenderen Sinne ging.

Die folgenden 2 Jahrzehnte sind in nuce durch ein Exponat zusammengefaßt, dem Dieter Göltenboth den Titel "Kontinent" gegeben hat. Vom Material her eine angeschwemmte Polyesterplatte, Schuttreste, Reste von Fußbekleidung, faßt diese Arbeit in nuce die Aufenthalte der folgenden Jahre in Schweden, vor allem auf Ibiza und in Afrika (das sich denn auch im Umriß der Polyesterplatte andeutet), mit anderen Worten die 'Wanderjahre' zusammen, die der Zeit an der Akademie folgen und zur Selbstfindung führen werden. Wobei der gedankliche Spielraum, den alle Arbeiten Dieter Göltenboths dem Betrachter öffnen, die "Spuren" einschließt, die der Wanderer hinterläßt, die oft nur noch andeutungsweise vorhanden sind, verschwinden oder gar verwischt werden.

Ein künstlerisches Ergebnis dieser Wanderjahre ist der endgültige Verzicht auf Malerei, die Entscheidung für das Fundstück, das Aufheben und neu Zusammenstellen, das - wenn man so will - Herstellen einer neuen Ordnung.

Was dies in Konsequenz bedeutet, zeigen die "Steinbilder" der 80er Jahre, bei denen einmal die Risse bzw. Sprünge in den Steinen als Grundgerüst der Komposition genommen werden, die zum anderen die gefundenen Steine unbehandelt neu miteinander komponieren zu Mauern oder Scheintüren oder Feuerstellen, nicht unähnlich den Arbeiten Adams in dem zitierten Gedicht, das nicht zufällig zur gleichen Zeit entsteht.

Ganz erschließt sich diese Werkgruppe allerdings erst, wenn man einen weiteren, den biographischen Bezug herstellt. Dieter Göltenboth wurde in Eybach geboren. Die "Abbruchkanten" des Ausstellungstitels sind geologisch gelesen der Albtrauf, die Abbruchkanten der Alb, von der denn auch die Steine nicht nur dieser Werkgruppe stammen. Biographisch gelesen sind die Arbeiten der 80er Jahre der Versuch einer Wiedervergewisserung von Heimat, einer Heimat freilich, von der wir in den Worten Ernst Bloch wissen, daß sie etwas ist, "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war".

Fast wie ein Spiegel dieses Versuchs der Wiedervergewisserung ließe sich einer der großen gesellschaftskritischen, überdies in Stuttgart geschriebenen Romane lesen: Wilhelm Raabes "Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge" (1867), die Geschichte der Heimkehr des  gescheiterten Theologiestudenten Leonhard Hagebuchers, nach langen Jahren  irgendwo in Afrika, in seine Heimat nach Bumsdorf und dem benachbarten Residenzstädchen Nippenburg. Jahre später - und nicht mehr in Stuttgart lebend -  läßt Wilhelm Raabe im "Stopfkuchen" den Romanhelden Eduard (Goethes "Wahlverwandtschaften" lassen grüßen) auf einem Schiff namens "Hagebucher" wieder nach Afrika zurückkehren, wo er von seinen Kindern empfangen wird mit der Frage, was er ihnen denn aus seinem Vaterland mitgebracht habe:

Ich will diese auffällige Parallele hier nicht weiter vertiefen sondern wende mich wieder der Ausstelllung und ihrem Künstler zu. Wie wichtig Dieter Göltenboth der biographische Bezug seiner Kunst war und ist, belegte erst kürzlich ein Raum und Zeit verbindender Kubus zum 900jährigen Jubiläum Vaihingens, dem heutigen Wohnort des Künstlers, der sich aus 900 Findlingen von der Alb ordnete.

Bloch hat in seinem "Prinzip Hoffnung" das Paradies, als vom Menschen selbst zu schaffen, in einer nicht näher bestimmten Zukunft angesiedelt. Was einmal auf Dieter Göltenboths Gedicht, seinen Schluß zurückverweist -

Später überlegen sie
wie es weitergehen soll -
zugleich aber andeutet, daß jede Vergewisserung von Heimat nur ein Durchgangsprozeß sein kann und immer zugleich einen neuen Aufbruch bedeutet. Auch hier ist es wieder ein Gedicht Dieter Göltenboths, das sich in diesem Sinne lesen läßt: Manchmal frag mich einer
was ich hier mache
und ich antworte:
ich bin eben hier.

Vor kurzem angekommen
bereite ich mich
auf die Abfahrt vor.

Man versteht weder
daß ich hier bin
noch daß ich aufbreche.

Vielleicht sollte ich
mit einem Fluch antworten.

Die Arbeiten der 90er Jahre lassen sich zunächst unter "Strandgut" subsumieren. Vom Meer Ausgeworfenes, am Strand von Ibiza, dem Fluchtpunkt Dieter Göltenboths seit den 60er Jahren, Angespültes, Zerbrochenes bilden das Material dieser Arbeiten, die in der heutigen Ausstellung in exemplarischen Beispielen vertreten sind, wobei das auf dem Einladungsfaltblatt wiedergegebene "Strandkreuz" ein erstes Mal das Thema Tod nachdrücklich ins ästhetische Spiel bringt.

Auf den Stellenwert dieser Werkgruppe im Gesamtwerk habe ich bereits in den "Vermutungen über Schiffe, Feuerstellen, Inseln und die Materialbilder Dieter Göltenboths" (1996) hingewiesen, darauf, daß sich z.B. die aus Strandgut gefügte "Weiße Göttin", "Tanit", indianischen Totempfählen vergleichen läßt.

Ergänzen möchte ich diesen eher ethnologischen Hinweis jetzt mit einen kunsthistorischen Bezug. Um den Titel der Ausstellung - "Siedeln an Abbruchkanten" - ein wenig aufzuhellen, hatte ich einleitend aus einem  Statement Dieter Göltenboths zitiert, dem zufolge "das Absterben des Alten [...] die Voraussetzung für das Auferstehen in einem schöpferischen Akt" ist, und ich hatte in einer ersten Leseschicht auf vergleichbare Überlegungen in der Kunstrevolution verwiesen.

Nach einer sicherlich von Hegel beeinflußten Unterscheidung des englischen Kunsthistorikers Lawrence Alloway verlaufen Kunstperioden in einer stets gleichen Abfolge: einer ersten Phase der Landnahme folgt als Zweites die Phase der "colonisation" (W.H. Auden), die schließlich und drittens in eine epigonale Phase mündet. Nehme ich Lawrence Alloway und Dieter Göltenboth beim Wort und übersetze - in einer zweiten Leseschicht - "colonisation" mit "Siedeln", würde sich Dieter Gölthenboth selbst der zweiten Phase einer Kunstperiode zurechnen, deren Wurzeln in der Kunstrevolution zu suchen wären. Auffällig sind dann freilich die "Abbruchkanten", denn sie markieren den Ort des Siedelns als gefährdet. Doch fände auch dies in der Kunstrevolution seine Parallele, indem die Avantgarde ihre Zeit als eine Zeit des Zusammenbruchs, ihre künftig gedachte Kunst als Vorstoß in eine terra incognita begriff.

Dies vorausgesetzt lassen sich Göltenboths "Weiße Göttin", sein "Strandkreuz" durchaus einigen dadaistischen Holzreliefs vergleichen, die von ihren Herstellern, Kurt Schwitters und Hans Arp, z.B. "Der breite Schnurchel"  oder  "Das Bündel eines Schiffbrüchigen" oder lakonisch "Bündel eines Da" genannt wurden. Diese witzigen Auslegungen dessen, was die Reliefs aus Fundstücken angeblich zeigen, sind aus der damaligen Zeit zu verstehen als provokative Adresse an den Betrachter, der auch angesichts dieser Arbeiten noch nach konventionellen Inhalten gründelte. In Wirklichkeit ging es aber vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen, als wahnsinnig empfundenen Zeit um Sinngewinn, um die sinnliche Qualität der gefundenen Materialien, um die ästhetische Erfahrung des Alterns und des Verfalls. Jedes der verwendeten Materialien hatte seine eigene Geschichte, brachte diese in das Relief und damit in einen neuen übergreifenden Kontext ein, ohne daß der Betrachter diese Geschichten konkret hätte entschlüsseln können. Von "Meditationstafeln" hat Arp in ähnlichem Zusammenhang gesprochen, von "Mandalas, Wegweisern", die "in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen" sollten, während die weniger anspruchsvolle Kunstgeschichte von "Gedenktafeln" spricht, "die in unverständlicher Sprache von vergessenen Schicksalen erzählen" (Willy Rotzler).

Genau das scheint aber auch die entscheidende Erfahrung Dieter Göltenboths zu sein bei der Lektüre der Spuren, welche Zerstörung, Abnützung und Zeit auf dem Holz oder anderem Strandgut hinterlassen haben. Was die Werkgruppe der frühen 90er Jahre dann leisten soll, ist, diese im Grunde unlesbaren Spuren, Mitteilungen und Geschichten des alten Holzes und anderer Fundsachen aufzunehmen und an den Betrachter weiterzuvermitteln in neuem Kontext und veränderter Form.

In veränderter Form meint dabei, daß es Dieter Göltenboth, wie übrigens schon Hans Arp und Kurt Schwitters, nicht um das surrealistische Objet trouvé geht. Wer seine Materialkunst für eine Ansammlung von Objets trouvés hält, verfehlt sie. Denn entscheidend ist, was er mit seinen Fundstücken macht, wie er sie zu einem Ganzen und damit zu seiner Lesart fügt. wobei der Zufall, was wiederum auf Hans Arp zurückverweisen würde, gelegentlich eine größere Rolle spielen kann.

Spielen in der Werkgruppe des "Strandguts" gefundene und gefügte Materialien eine Rolle, ist es in der letzten großen Werkgruppe der "Sternbilder"  von der Erde genommenes / auf der Erde bereitgehaltenes organisches und anorganisches Material, mit dem Dieter Göltenboth jetzt seine Bilder 'malt': Blut, Erde, Sand.

Begonnen hatte dies bereits 1991 auf dem von Dieter Göltenboth zusammen mit einer Ethnologin geleiteten Symposion "Erde - Zeichen - Erde", an dem Wissenschaftler der Münchner Universität und bildende Künstler teilnahmen. Tagungsort war ein kurz zuvor aufgelassener Schlachthof in Straubing. Im Rahmen dieses Austauschs entstanden Arbeiten Dieter Göltenboths, deren Material zunächst Blut und Lehmerde war.

Wenn eine dieser Zeichnungen, eine seltsam skurrile Figur, die im Sprung so etwas wie ein Ei verliert, "Der kleine Schöpfer" getitelt ist, bekommt ihr Material, Blut und Erde, einen eigentümlichen Hintersinn. Einen Hintersinn, der noch einmal "Zum Mythos vom Ursprung" zurückweist, der sich aber auch als Manifestation ihres Künstlers verstehen läßt in dem Sinne, daß künstlerisches Arbeiten, daß spontane Kreativität stets etwas aus sich heraus wirft.

Vielleicht auch deshalb werden auf den Arbeiten von Dieter Göltenboth in den letzten Jahren die Spuren ihrer Herstellung nicht mehr getilgt, lassen die Formfindungen den Prozeß ihres Entstehens immer deutlicher erkennen. Gleichzeitig werden die Arbeiten zunehmend zeichenhafter und figürlicher, wofür ich als Beispiele neben dem "Kleinen Schöpfer" noch den "Großen Sämann" oder den an Baumeister, den einstigen Lehrer, gemahnenden "Ballspieler" nenne.

Diese Zunahme an Zeichenhaftigkeit und Figürlichkeit geschieht nun freilich nicht so, daß jetzt zwischen Zeichnung und Bezeichnetem, zwischen Figur und Bedeutung die Gleichung einfach aufginge. Dagegen enthalten die Arbeiten immer noch zuviel an Anspielung, an tradierter Ikonographie, die gekannt sein wollen. Ja, die Arbeiten verlangen vom Betrachter gelegentlich sogar nachzuleistende Lektüre, sei es bei dem der Werkgruppe des "Strandguts" zugehörenden "Mobby Dick" [nicht in der heutigen Ausstellung], sei es in der heutigen Ausstellung das erst kürzlich entstandene "Heart of Darkness". Eine Arbeit, für deren Verständnis die Kenntnis von Joseph Conrads gleichnamiger Novelle unerläßlich ist, vordergründig einer autobiographisch untermauerten Reise Kongo aufwärts ins "Herz der Finsternis", psychologisch gesprochen und auf das mehrjährige Umherstreifen Dieter Göltenboths auf dem afrikanischen Kontinent bezogen, einer Erkundungsfahrt durch die eigene Gegenwelt, die Dunkelheit seelischer Abgründe.

Das alles schließt sich wechselseitig nicht aus sondern belegt, allem ersten Anschein, jedem oberflächlichen Kurzschluß zum Trotz, Dieter Göltenboths Materialkunst in ihrer Entwicklung als komplex, konsequent und geschlossen. Und noch einmal erweist sich ein kunsthistorischer Rückblick als hilfreich.

Diese Verkürzung des Weges vom Einfall zur Ausführung, die Unmittelbarkeit künstlerischer Produktion hat auch Hans Arp wiederholt betont und von einer "elementaren Kunst" gesprochen, die "den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen", und in "eine(r) neue(n) Ordnung [...] das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle" wieder herstellen solle. Oder an anderer Stelle: Das bringt mich zu meinen anfänglichen Überlegungen zurück. Und ich möchte, um diesen Bezug noch einmal anzudeuten und zugleich die eigene Position Dieter Göltenboth in dieser Tradition zu markieren, mit drei Aphorismen Göltenboths schließen, die zugleich als Motti der heutigen Ausstellung voranstehen könnten: [Südwestbank Stuttgart, 28.3.2001. Druck einer gekürzten Fssg. im Ausstellungskatalog]