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Reinhard Döhl | Kunst Spuren Lesen

Zu einer Ausstellung von Arbeiten Dieter Göltenboths  und Heinz H.R. Deckers  in der Möglinger Zehntscheuer

Die zweite gemeinsame Ausstellung | Ibiza als Fluchtpunkt | Von Engeln und Ratten | Das Haus des Dichters | Ahnengalerie

Die zweite gemeinsame Ausstellung

Ihr – von Gruppenausstellungen abgesehen - erster gemeinsamer Auftritt, eine Performance und Installation zum Thema: „Armut und Reichtum - hier und anderswo“, 1989 in der Mannheimer Konkordienkirche, erregte Anstoß.

„Die ausgestellte Installation“, zitiere ich aus einer späteren Ausstellungseröffnung Dieter Göltenboths, 1995 in Gauselfingen zu einem „WIR-Projekt“ Heinz H.R. Deckers,

„Die ausgestellte Installation aus 20 Anzügen, Brotlaib, Kreuzpuppe, Mehl, Holzstange, Seil sind wie Reliquien und zeugen vom Geschehen. Armut ist nicht schicksalhaft naturbedingt sondern gesellschaftlich bedingt, also hausgemacht. In dieser Ausstellung und Aktion an der ich mit einer Sperrmüll-Demonstration im Altarraum beteiligt war, und in der Decker und ich unsere Gestaltungen aufeinander abgestimmt hatten, kam es dann auch zum Eklat, als der Dekan diese Installation kurzerhand abhängen ließ. Das Interesse der Kirchen an heutiger Kunst stieß offensichtlich da an die Grenze, wo der Kirchgänger und Gläubige sich weigert, in so gestalteter Umgebung sein Abendmahl einzunehmen.“

Heute stellen beide Künstler zum zweiten Mal gemeinsam aus, nicht in einer Kirche sondern in einer Zehntscheuer und ohne Gefahr, vom Hausherrn abgehängt zu werden. Das bietet dem Interessierten die Möglichkeit, sich dem sperrigen Werk zweier Künstler zu nähern, die in ihrem Ansatz unterschiedlicher kaum sein könnten und deren Hervorbringungen sich dennoch aufregend ergänzen.

Von den Entstehungsdaten her umfassen die ausgestellten Arbeiten Deckers das Jahrzehnt von 1991 bis 2001, die Arbeiten Göltenboths, weiter ausholend, den Zeitraum fast einer Generation von 1970/71 bis 1997, wobei die Baleareninsel Ibiza den nun freilich keinesfalls touristischen Hintergrund bildet.

Ibiza als Fluchtpunkt

Ich möchte dies zunächst mit einer Anekdote belegen, und beziehe mich dabei auf eine von Dieter Göltenboth „Die Spur“, an anderer Stelle auch „Kontinent“ getitelte Arbeit von 1994/1995. Ihr ging eine gemeinsame Strandwanderung und Materialiensuche auf Ibiza voraus, auf der Decker das angeschwemmte Bruchstück einer Polyesterplatte aufhob und Göltenboth schenkte, der es dann Jahre später bearbeitete.

Vom Material her Bruchstück einer Polyesterplatte, Schuttrest, Reste von Fußbekleidung, faßt diese Arbeit gleichsam in nuce die „Wanderjahre“ Dieter Göltenboths zusammen, die Zeit nach dem Stuttgarter Akademiestudium, die ihn nach Schweden, vor allem aber nach Ibiza und Afrika führten, das als Kontinent sich denn auch im Umriß der Polyesterplatte andeutet. Wobei der gedankliche Spielraum, den alle Arbeiten Göltenboths dem Betrachter öffnen, die „Spuren“ einschließt, die der Wanderer hinterlässt, die oft nur noch andeutungsweise vorhanden sind, verschwinden oder gar verwischt werden. Spuren, die zugleich Spuren einer Reise durch die eigene Gegenwelt sind, dem unbekannten inneren Afrika in Wilhelm Raabes "Abu Telfan" vergleichbar, einem in Stuttgart geschriebenen Roman, dessen weiterer Titel bezeichnenderweise "[...] oder die Heimkehr vom Mondgebirge" lautet.

Dieser „Kontinent“, bzw. „Die Spur“ getitelten Arbeit Göltenboths an die Seite stellen möchte ich einige ebenfalls in Ibiza konzipierte und entstandene Buchobjekte Deckers aus dem Jahre 1991, dokumentiert im Katalog des Projekts „Erde-Zeichen-Erde“. Sieben von ursprünglich 20 „Erdbüchern“ sind hier ausgestellt unter dem Titel „In der Erde kann man lesen wie in einem Buch“. Wobei zunächst offen bleibt, was denn in diesem Buch „Erde“ zu lesen ist.

Deckers Bücher sind keine realen Bücher, auch keine Attrappen, sondern aus Holz für diesen Zweck hergestellt, in Erde gepackt und mit gefundenen Steinen bestückt in einem doppelten Kontrast zum reichverzierten Bucheinband, den Prachtausgaben, die wir, aufgebahrt in den Museen und Bibliotheken als Teil unserer Kulturgeschichte hinter Panzerglas bewundern dürfen.

In doppeltem Kontrast, weil die Hüllen aus Stein und Erde zum einen den kunstvollen Bucheinband radikal banalisieren, zum anderen, weil sie als Material älter und langlebiger sind als das an den Menschen als seinen Hersteller gebundene Buch und damit eine Welt symbolisieren, in der der Mensch mutmaßlich eines Tages nichts weiter mehr sein wird als eine Ablagerung, Teil einer geologischen Schicht. So jedenfalls hat es Göltenboth in der schon genannten Ausstellungseröffnung gelesen bzw. in anderem Zusammenhang der in deutscher Sprache schreibende Tuwa-Nomade Galsan Tschinag unlängst auf den Punkt gebracht:

„[...] Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die menschliche Zivilisation sehr schnell zu Ende gehen könnte. Das Erzunglück der Menschheit besteht in ihrer Passivität angesichts der vielen Vorbereitungen zur Selbstzerstörung des eigenen Planeten. Als Verfechter des Schamanentums, als an das ganze Universum Glaubender könnte ich diesen Selbstmord des Menschen in Kauf nehmen. Der Mensch ist nur eine Gattung unter den Lebewesen. Wenn diese Gattung aus dem Leben verschwindet, werden dafür tausende anderer Gattungen weiterexistieren. Das klingt zwar grausam, enthält aber die letzte Wahrheit.“

Wenn auch die beiden Künstler Ibiza als „Refugium“ und zeitweiligen Arbeitsplatz gemeinsam haben, nutzen sie ihn durchaus unterschiedlich. Bezeichnenderweise stammt der Sand/die Erde der Deckerschen Buchobjekte nicht nur aus Ibiza sondern ist um Sand/Erde, die ihm von Freunden aus aller Welt zugeschickt wurde, ergänzt, während sich Göltenboth auf den inseltypischen Muschelsand und das Strandgut beschränkt, das das Meer ihm anschwemmt.

Viele seiner auf Ibiza entstandenen Arbeiten ließen sich zunächst unter "Strandgut" subsumieren. Zerbrochenes, vom Meer Ausgeworfenes, am Strand Angespültes bilden das Material dieser Arbeiten, die in der heutigen Ausstellung in exemplarischen Beispielen vertreten sind.

„In diesen [...] Arbeiten [...]“, hat Göltenboth schon 1969 in einer Ausstellungsnotiz festgehalten,

„In diesen [...] Arbeiten [...] war das Ausgangsmaterial angeschwemmter Zivilisationsschutt aller Art, Bretter, Keile, Kreisformen, Bleche, Puppenteile, zusätzlich verarbeitet mit Gips. Ich habe diese Dinge zu Ordnungen arrangiert, die meiner Vorstellung von Welt und Dasein entsprechen. Alles weitere läßt sich nicht sagen. Sie können es den Arbeiten entnehmen.“

Das Anordnen der Fundstücke, des aufgelesenen „Zivilisationsschutts“ wäre demnach die Sprache, in die der Künstler seine „Vorstellung von Welt“ übersetzt. Wieweit dieses Übersetzen zugleich ein Transformationsprozeß ist, wird deutlich an einer Vielzahl von kleinen Objekten, die Göltenboth unter dem Titel „Aus Tanits Wunderkammer“ im Nebenraum der Zehntscheuer wie Blätter eines Strand-Tagebuchs gereiht hat.

Wenn Göltenboth die Wunderkammer Tanit zuordnet, ordnet er sie der weißen Göttin Ibizas zu.

Wenn Göltenboth seine hier einschlägige Materialskulptur aber Tanit und nicht korrekt Tinnit titelt, belegt das für mich auch, daß es ihm nicht wie vielen zeitgenössischen Esoterikern um die Wiederbelebung eines alten Mythos geht.

Natürlich ist Göltenboths Materialskulptur der Weißen Göttin auch indianischen Totempfählen vergleichbar, jenen geschnitzten und bemalten Pfählen, wie sie sich am eindrucksvollsten wohl bei den Tlingits ausgebildet haben, deren hierarchische Gesellschaftsstruktur sich auf matrilineare Klane stützte. Denn Ibizas "Weiße Göttin" weist gleichfalls in die Zeit des Matriarchats zurück.

Wenn Dieter Göltenboth seine "Weiße Göttin" aber nicht mehr originär schnitzt und bemalt, wenn er gefundenes hölzernes Material so ordnet, daß es nurmehr in Fund- und Bruchstücken an Totempfahl oder hölzernes Götterbild erinnert, demonstriert er in diesem Vorzeigen zugleich einen unwiederbringlichen Verlust.

Von Engeln und Ratten

Dieser aus zerbrochenem „zivilisatorischen Material“ „neu [...} figurierten“„Tanit“ Göltenboths kontrastiert auf der Einladungskarte und in der Ausstellung ein mehrteiliges ‚realistisches’ Ensemble Deckers: „Sie war ein Engel“ (1996), für das, in modifizierter Form, immer noch gilt, was Decker 1974 für seine Material-Objekte festschrieb:

„Das Material-Objekt ist für meine Arbeit das geeignetste Ausdrucksmittel zur Darstellung einer realistisch gesehenen Umwelt.“
Denn „Sie war ein Engel“ spielt keinesfalls die Welt der alt- bzw. neutestamentarischen Engel samt ihrem volkstümlichen Bodenpersonal der Schutzengel in wie auch immer gebrochener Form an, sondern will ganz säkular und umgangssprachlich beim Wort genommen werden.

Was mich bei diesem aus den Realien Brautkleid, Blei, Röntgenbilder, Spiegel und Schwarzlicht gefügten Ensemble zusätzlich interessiert, ist ein Text Deckers, den ich zunächst zitieren darf:

zarter stoff und blei
HOCHzeit und tod

ein weisses brautkleid frivol
gepanzert durch eine bleierne korsage

röntgenbilder – krankheitsbilder

oben spiegel in denen sich keiner sieht
schwarzes licht das schattenlos verbindet.

Es ist dies ein Text, der beim ersten Hinhören lediglich die Realien zu rekapitulieren scheint, dem beim genaueren Lesen aber durch Wörter wie „zarter stoff“, „weißes brautkleid“, „frivol“, durch die „spiegel in denen sich keiner sieht“ und das „schwarze licht das schattenlos verbindet“ eine indexikalische Funktion bekommt. Auch um die Gefahr der Überspitzung möchte ich nämlich behaupten, dass diese scheinbar geringfügigen Erweiterungen reiner Materialangaben einen Kontext herstellen, in dem der Betrachter die von Künstler ausgewählten und arrangierten Materialien betrachten soll oder kann.

Wie auch immer erinnert dann der Dreischritt, die Dreiteiligkeit von Titel („Sie war ein Engel“), ausgestelltem Objekt und zugehörigem Gedicht an die Tradition der Emblematik, in der einem Lemma, einer Überschrift eine ausdeutende Pictura (in der Regel ein Holzschnitt oder Holzstich), und der wiederum eine Subscriptio, ein ausdeutender Text folgten.

Decker hat mir den Gefallen nicht getan, mehrere solcher Arbeiten auszustellen. Aber in einem übertragenen Sinne funktioniert meine These auch dann, wenn man bei Arbeiten wie „Der Tanz ums...“, bei „San Marco oder die Ratten des Himmels“ dem Betrachter die Arbeit zumutet, zu bzw. aus Lemma und Pictura seine Subscripto, seinen Text herauszulesen.

Wobei der gewissenhafte Betrachter sehr bald feststellen wird, daß sich die Exponate nicht schlackenlos auflösen lassen, daß sie widersprüchlich und unverhältnismäßig sind, z.B. zwischen Titel („Lied der Wölfe“) und Exponat (Sägeblätter für eine Kreissäge), zwischen einer angespielten Episode jüdischer Geschichte, einer angedeuteten Menora und den arrangierten Materialien des „Tanz[es] um...“

Vor allem bei „San Marco oder die Ratten des Himmels“ läßt sich dies gut zeigen, wenn der Betrachter erst bei zweiten Hinsehen zu den lebensgroßen ausgestopften Tauben auf bzw. am Fuße der Orgelpfeife auf dem Tabernakel den unverhältnismäßig kleinen Löwen von San Marco entdeckt und sich vielleicht erinnert, dass der „König der Tiere“ als Symbolfigur des AT vom Christentum übernommen wurde, wobei der geflügelte Löwe aus der Vision des Ezechiel zur Symbolfigur des Evangelisten Markus mutierte.

Diese zur Nippesfigur und zum Reisesouvenir verkommene Symbolfigur kontrastiert in der Installation mit zwei ihrer mythologischen Bedeutung völlig enthobenen Tauben, die als „Ratten des Himmels“ jedem, der je Venedig besucht hat, so oder so wohlvertraut sind, Hochzeitreisenden vor allem durch das obligatorische Erinnerungsfoto ans gemeinsame Taubenfüttern. Daß die „Ratten des Himmels“ eine weitere, antiklerikale Lesart zulassen, sei wenigstens angemerkt.

Das Haus des Dichters

Auch wenn Decker in erster Linie nur (bildender) Künstler ist, hat er für seine Perfomances gelegentlich Texte geschrieben oder in ihnen sogar funktionabel gemacht. Ich beschränke mich, um dies anzudeuten, auf die Waiblinger Performance „Uri Dhai – Die Rekonstruktion des Vergessenen“ aus dem Jahre 1992. In ihrem Fall sind auf einem Faltblatt den skizzierten Figurinen/Akteuren der Performance in Form von Subscriptiones ihre Rollen zugeschrieben, z.B. dem „durch den Kopf Reitenden“:

Der durch den Kopf Reitende ist einerseits
der unterdrückte tierhafte Verstand –
der deine Haut zu Markte trägt, oder sich
eintönig im Kreise dreht –
andererseits ist er das reduzierte rationale Bewusstsein –
vermeintlich alles überschauend;
oder der „Priesterin der vier Winde“, die zugleich die „Bewahrerin des Vergessenen“ ist. Sie befindet
sich in einem endlosen Sterben.
Zu allen Zeiten ist sie unwillkommen und
wird geächtet, denn sie bringt Vergänglichkeit,
aber auch das Vergessene zurück.
Sie ist kein Wesen aus Fleisch und Blut ihr
Körper manifestiert sich als Nebel, Dunst, oder Kraftfeld –
sie transzendiert die Grenzen der materiellen Welt.
In einem Kommentar hat Decker für seine Performance[s] die Traditionslinie über die Happening-Bewegung zurück bis zu den Auftritten der Dadaisten gezogen [Staufer-Kurier, 27.8.1992]. Direkt auf die Programme des Cabaret Voltaire in Zürich, auf Hugo Balls berühmte Verse ohne Worte verweisen, in wenn auch anderem Kontext, die von Decker im Verlauf der Performance selbst gesprochenen „vier Posaunen / (Apokalypse)“
1
en duri trant end donte, tra tu blod
regante drein, on dra lon
e grabon et ta lon, eg dra de wul
eg dra lo ras

2
e lando gron dol dasta din ronnla
gergi, in wonkra gill

3
da rando gifla so ka hilja, e lekko
dasja kischu on dra tilja

4
do kuru wan de oh, en la
jant du vu, en la jant du stra.

Kann man bei Decker vom Text zu Installation oder Performance kommen, denen er zugeordnet ist oder denen er als Bestandteil zugehört, führen Göltenboths Texte ein Eigenleben, auch wenn sie sich gelegentlich durchaus auf das künstlerisches Werk beziehen lassen. Ich möchte dies an einem Beispiel belegen, dem „Haus des Dichters“.

„Das Haus des Dichters“ gehört zu einer Reihe von Materialskulpturen, die 1970/71 auf Ibiza entstanden sind, einer Reihe, der bezeichnenderweise auch „Ein völlig leeres Gehäuse“ (nicht in dieser Ausstellung) zugehört. Die Materialien sind Holz, Drahtziegelgewebe, Gips, Spiegel, Bleiblech, Lack und Dispersionsfarbe, also nicht nur angeschwemmter „Zivilisationsschutt“ und Strandgut. Auch wirken beide Objekte (verglichen z.B. mit dem Exponaten „Aus Tannits Wunderkammer“) eher konstruiert als komponiert. Auf Göltenboths Biographie bezogen sprechen sie vom Antagonismus des Behaustseins und gleichzeitiger Unbehaustheit.

Diesem „Haus des Dichters“ lässt sich als später Kommentar ein in der Handschrift „Jan. 88 / Ibiza“ bezeichnetes Gedicht zuordnen:

Mein Meer,
ein stählernes Halbrund
das die Wellen zur Küste hinführt.

Mein Feld,
ein Turm im Meer,
von wo die Sirenen
noch immer
Odysseus locken.

Mein Haus,
das der Sonne zugewandte
und das mit der Nachtseite
in dem Sisyphus
gegen den Berg ankämpft.

In einem Dreischritt nähert sich der Text über das Meer („mein Meer“) der Insel („Mein Feld“) auf auf ihr („Mein Haus“) dem gefundenen Tusculum mit einer Tag- aber auch mit einer „Nachtseite“, jenem „unbekannten inneren Afrika“ vergleichbar, von dem schon die Rede war und in dem dann „Sisyphus gegen den Berg ankämpft“.

Göltenboth spricht nicht, was vielleicht näher läge, von seiner Kunst als Sisyphusarbeit, meint auch nicht, was vom alten Mythos umgangssprachlich noch geblieben ist: die sinnlose Anstrengung. Er spricht, wenn er vom Kampf gegen den Berg spricht, ausdrücklich den Mythos an, wie ihn Homer erzählt, für den Normalverbraucher Gustav Schwab in seinen "Sagen des klassischen Altertums"  nacherzählt hat.

Seine moderne Auslegung hat dieser Mythos in einer kleinen aber gewichtigen Schrift Albert Camus', "Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l'absurde" [Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde], erfahren in der Forderung, daß der von Gott verlassene und deshalb hilflos auf sich selbst zurückgeworfene Mensch trotzdem in [...] bewußtem Hinnehmen der absurden 'condition humaine' glücklich sein müsse“ [Gero von Wilpert, Lexikon der Weltliteratur].

„Ich sehe“ [schreibt Camus], „wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen“ [rde, S 99]. Und Camus folgert: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ [rde, 101].

Das gibt auch einigen Aphorismen Göltenboth in diesem Zusammenhang einen weiteren Sinn, wenn dort zu lesen ist:

„Feste undurchsichtige Wände, Flächen, scheinen etwas Endgültiges zu sein, schwer wegzuhacken. Hinter ihnen stehen wieder Wände.“ Oder: „Viele Räume nebeneinander, übereinander, hintereinander: unsere Gefängnisse im Raum.“

Die Rede ist vom „Haus des Dichters“. Das aber bewohnt in Personalunion auch der Künstler Dieter Göltenboth als Vertreter einer absurden Kunst, wie sie Camus in seinem Essai gefordert hat, wenn er „von dem absurden Kunstwerk“ das verlangt, was er „vom Denken“ verlange:

„Auflehnung, Freiheit und Mannigfaltigkeit. Dann wird es [das absurde Kunstwerk, R.D.] die tiefe Nutzlosigkeit manifestieren. In dieser täglichen Anstrengung, in der sich Geist und Leidenschaft mischen und gegenseitig steigern, entdeckt der absurde Mensch seine Disziplin [korr. aus „Zucht“, R.D.], die das Wesentliche seine Kräfte ausmacht. Der Fleiß, den er dazu braucht, der Eigensinn und der Scharfblick vereinigen sich so mit der Haltung des Eroberers. Auch Schaffen heißt: seinem Schicksal Gestalt geben. Alle diese Gestalten erklärt ihr Werk mindestens ebenso sehr, wie es durch sie erklärt wird. Der Komödiant lehrt uns: zwischen Schein und Sein gibt es keine Grenze“ [rde, 97]

Ich breche das Zitat hier ab, der Interessierte kann es selbst nachlesen, möchte aber wenigstens darauf hinweisen, daß sich weitere, z.T. recht konkrete Querverbindungen ziehen lassen z.B. über den „Moby Dick“ Melvilles, den Camus zu den „wahrhaft absurden Werken“ zählt [rde, 93] und dem Göltenboth im Jahre 1993 eine Arbeit widmet.

Die Ahnengalerie

Was ich abschließend noch zu belegen habe, ist die Annahme, daß bei aller Verschiedenheit ihrer Arbeiten Heinz H.R. Decker und Dieter Göltenboth dennoch aus derselben Wurzel kommen.

Ich habe bereits zitiert, daß Decker für seine Performance „Uri Dhai“ in einem Kommentar die Traditionslinie über die Happening-Bewegung zurück bis zu den Cabaret-Auftritten der Dadaisten gezogen hat. Direkt auf Marcel Duchamp Bezug nimmt das „Holzkleid“, das, als „Relikt“ in Möglingen ausgestellt, Duchamps berühmtberüchtigten „Akt, eine Treppe herabschreitend“ von 1911/12 zitiert und 1999 im Rahmen der Eßlinger Veranstaltung „Art à la mode“ in einer Performance von einem Model sogar vorgeführt wurde. Daß Elemente der Deckerschen Installationen gelegentlich an die ready mades Duchamps gemahnen, verwundert also kaum.

Bei Göltenboth wären vor allem Kurt Schwitters und Hans Arp als Ahnen zu nennen. Wobei sich dann Göltenboths "Weiße Göttin", die Fundstücke „Aus Tanits Wunderkammer“ durchaus einigen dadaistischen Holzreliefs vergleichen ließen, die von ihren Herstellern z.B. "Der breite Schnurchel"  oder  "Das Bündel eines Schiffbrüchigen" oder lakonisch "Bündel eines Da" genannt wurden.

Diese witzigen Auslegungen dessen, was die Reliefs aus Fundstücken angeblich zeigen, sind aus der damaligen Zeit zu verstehen als provokative Adresse an den Betrachter, der auch angesichts dieser Arbeiten noch nach konventionellen Inhalten gründelte.
In Wirklichkeit ging es vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen, als wahnsinnig empfundenen Zeit um Sinngewinn, um die sinnliche Qualität der gefundenen Materialien, um die ästhetische Erfahrung des Alterns und des Verfalls. Jedes der verwendeten Materialien hatte seine eigene Geschichte, brachte diese in das Relief und damit in einen neuen übergreifenden Kontext ein, ohne daß der Betrachter diese Geschichten konkret hätte entschlüsseln können.

Von "Meditationstafeln" hat Arp in andrem Zusammenhang gesprochen, von "Mandalas, Wegweisern", die "in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen" sollten, während die weniger anspruchsvolle Kunstgeschichte von "Gedenktafeln" spricht, "die in unverständlicher Sprache von vergessenen Schicksalen erzählen" (Willy Rotzler). Beides ließe sich nach dem weiter vorne Ausgeführten auch für Göltenboth in Anwendung bringen.

In veränderter Form meint dabei, daß es Dieter Göltenboth, wie übrigens schon Hans Arp und Kurt Schwitters, nicht um das surrealistische objet trouvé geht, Heinz H.R. Decker nicht um das einzelne ready made. Wer Göltenboths Materialkunst für eine Ansammlung von objets trouvés, wer Deckers Arbeiten für eine Versammlung von ready mades hält, verfehlt sie. Denn entscheidend ist, was Göltenboth mit seinen Fundstücken macht, wie Decker mit seinen ready mades umgeht, wie sie sie zu einem Ganzen und damit zu ihrer Lesart, zum Lesevorschlag für den Betrachter fügen. wobei bei Deckers ‚Prosa’ das Kalkül, was wiederum auf Duchamp zurückverweisen würde, bei Göltenboths ‚Poesie’ der Zufall, was wiederum auf Hans Arp zurückverweisen würde, gelegentlich eine größere Rolle spielen können.

[Möglingen 23.11.2001]