Reinhard Döhl | Gruppe 47

Die Kritik schießt um die Ecke | Fingerübungen? zus. mit Helmut Heissenbüttels Bericht über eine Tagung der Gruppe 47 | Zur Tagung der Gruppe 47 | Es war einmal ein Mann, der Eduard hieß zus. mit Ludwig Harigs Die Zwitschermaschine

Die Kritik schießt um die Ecke - Herbsttagung der Gruppe 47

Vom 3. bis 6. November fand in Aschaffenburg im Sitzungssaal des neuen Rathauses (einen "expressionistischen Bau" nannte es der ortsansässige Kunstunsachverständige) die diesjährige Herbsttagung der Gruppe 47 statt. Es waren mehr Teilnehmer als sonst gekommen, die eingeladen waren, die nicht eingeladen waren. Auch Professoren waren da, Feuilletonisten, Nichtschreiber, Kritiker, Verleger, Herausgeber, Ehefrauen, Schriftsteller und einige Dichter. Mehrere Schriftsteller und Dichter lasen vor. Die Feuilletonisten, Professoren und andere besprachen sich, manchmal die Texte, meistens gegenseitig. Unter denen, die vorlasen, waren viele neue. Manche lasen gut vor, manche lasen nur vor, manche konnte man schlecht verstehen. Es gab auch welche, die schwiegen.

Wenn man die Eindrücke der Tagung registriert, muß man zwei Gruppen von Eindrücken unterscheiden: den Eindruck, den die Vorlesenden hinterließen, und den Eindruck, den die Besprecher hinterließen. In beiden Fällen fiel manches auf.

Unter denen die vorlasen, gab es zwei Gruppen: diejenigen, die in der Sprache etwas machten, und diejenigen, die mit der Sprache etwas machten. Letztere waren in der Minderheit und kamen am meisten im Anfang vor, vereinzelte später. Zwischen beiden Möglichkeiten gab es Zwischenfälle. Unter denen, die mit der Sprache etwas machten, sind folgende zu notieren: Jürgen Becker ("Septembertext"; "colonia alive"), Ludwig Harig ("Foetusfatum"), Dieter Wellershof (ein Text) und Walter Höllerer (ein weiteres Kapitel aus seinem neuen Roman). Unter denen, die in der Sprache etwas machten, waren zu notieren: Günter Grass (ein Kapitel aus dem Roman "Kartoffelschalen"), Ruth Rehmann (ein Kapitel aus einem neuen Roman), Gabriele Wohmann (2 neue Texte), Uwe Johnson ("Beschreibung einer Beschreibung" in Auswahl) und Elisabeth Borchers (Gedichte, die - da die Sprache wörtlich benommen wurde - zu beachten waren und etwas für die Zukunft versprechen).

Unter denen, die das und dies und sich besprachen, waren solche, die während der öffentlichen Diskussion etwas sagten und solche, die hinterher oder in den Pausen oder beim Essen etwas sagten. Letztere waren in der Mehrzahl aber nicht besser. Diejenigen, die während der Diskussion etwas sagten, maßen mit einerlei Maß. Wenn es aber zwei Arten von Texten gibt, ist das nicht richtig. Weil es zwei Arten von Texten gab, war das falsch. Diejenigen, die während der Kritik etwas sagten, maßen sich manchmal und häufiger aneinander.

Die meisten Äußerungen der Kritik begannen mit "Ich glaube" oder "meiner Meinung nach". Von hundert Wortmeldungen waren das dreiundneunzig. Wenn Professor Mayer (Leipzig) sich zu Wort meldete, bekam die Diskussion ein Gesicht, weil die Kritik wissenschaftlich funktionierte und die Termini nicht mehr jedermanns eigene Angelegenheit waren. Wenn es einen treffenden Instinkt für gute Literatur gab, hatte ihn Günter Grass. Manchmal redete ein Autor und die Kritik aneinander vorbei, zum Beispiel nach dem neuen Kapitel aus Walter Höllerers Roman. In diesem Kapitel wurde in der Sprache etwas gemacht und mit der Sprache. Es gab also ästhetische und semantische Information. Ein Schlüsselwort dieses Kapitels lautete "Ensemblespiel". In der Sprache nun gibt es ein Ensemble von Buchstaben oder Lauten oder Wörtern oder Zeichen. Die kann man codieren, die Bedeutung nicht. Weil man aber ein Ensemble von wasauchimmer codieren kann, ist Ensemble auch ein Wort, das man darauf anwenden kann. In der Kritik wurde es nicht verwendet. In dem Kapitel gab es auch Iteration, die semantischer oder materialer Art war; ferner Redundanz, die aufgewendet wurde, um Innovation wahrnehmbar zu machen. Die Sprache, die in diesem Roman von einer Figur dieses Romans erfunden wurde, ist semantischer Unsinn. Weil die Kritik dies nicht einsah, wurden die kritischen Anmerkungen Walter Jens' zu einer Demaskierung der Wortbedeuter vor den Wortgebrauchern. Ensemble und Spiel, Redundanz, Iteration undsoweiter sind wichtige Wörter für eine Textbeschreibung nach Wittgenstein (Vgl. auch Max Bense: "Die Programmierung des Schönen", 1960). Die Kritik sollte sich darin unterweisen, wenn sie nicht leer laufen will.

Eine überraschende Verteilung in der syntaktischen und semantischen Dimension der 8prache war auch den Texten von Jürgen Beckers, Ludwig Harig, Dieter Wellershoff ("Durchaus ein Durchaus") und anderen eigentümlich. Diese Texte waren z.T. höchst artifizielle Gebilde. Die Kritik sprach von Fingerübungen, weil sie in der Sprache blieb. Manchmal wurde Bedeutung auch mit "Abbild der Wirklichkeit" verwechselt, während die guten Texte, um nicht vorzugeben, Abbild der Wirklichkeit zu sein, ihre eigene Textrealität erreicht hatten, die Erfahrung rein in Sprache eingegangen und so reine Erfahrung geworden war.

Manchmal fragte ein Kritiker, was der Autor gewollt habe, statt sich an den Text zu halten. Wenn man zum Beispiel bei dem bemerkenswerten Romankapitel Walter Höllerers auf den Text geachtet hätte, hätte man gute und schlechte Stellen bemerkt und, daß die Übergänge in der Sprache zu mit-der-8prache nicht immer funktionierten. Wenn man aus diesem Text und den Texten von Becker, Harig, Wellershoff u.a. einen Schluß ziehen will, dann den, daß es Texte innerhalb eines Horizontes des Machens sind, wo es Bedeutungen geben kann aber nicht muß. [Die Sprache ist daß Repertoire. Die Wörter der Sprache sind die Materialien des Textes. Der Text ist ein Ensemble von Wörtern (von Zeichen). Das Ensemble bedeutet seine eigene Textrealität.]

Neben diesen und anderen Texten gab es auch Umgangsdeutsch und schlechtes Deutsch. Neben ästhetisch-artistischer Prosa wurde auch tendenziös-kritische Prosa vorgelesen(Günter Grass, Uwe Johnsonn). Bei Günter Grass notierte sich der Rezensent, daß auch Grass mehr in den Horizont des Machens eintaucht als bisher. Der erzählende Sprachfluß geht in dem vorgelesenen Kapitel der "Kartoffelschalen" über eine sehr geschickte Störung des Contextes in eine Beschreibung körperlicher Bewegungen mit fast mathematischer Exaktheit über und wieder in den Erzählfluß zurück. Auch bei den puren Erzählern tritt also der artifizielle Moment deutlicher in den sprachlichen Vordergrund, gerät der Horizont des Machens ins nähere Blickfeld. Wenn man allerdings bei Uwe Johnsons "Beschreibung einer Beschreibung" die Textschichten voneinander abträgt, die die künstliche Dunkelheit seines Stils ausmachen, und die Fabel einfach erzählt, dann bliebe wenig zurück, was nicht schon die "Mutmaßungen über Jakob" ausgemacht hätten. Weniger engagiert aber gut gemacht war die Prosa von Ruth Rehmann.

Nach Beendigung der Herbsttagung machen rückblickend neben der Erinnerung an erfreuliche Texte eine Menge Fragen ein zwiespältiges und etwas ungutes Gefühl beim Rezensenten aus. So bleibt zum Beispiel zu fragen, warum nur so wenig Literatur engagiert war und wenige Autoren überhaupt von etwas sprachen. Warum, wenn die Gruppe 47 nicht mehr das ist, was sie war, warum dann nicht die Konsequenzen daraus gezogen werden. In Aschaffenburg wurde Literatur in breitestem Maße vorgelesen, ohne die zugehörige Kritik mitzuliefern. Wo sich aber Literatur nicht mehr adäquat zu werdender Literatur verhält, fängt Literaturgeschwätz an. Literatur ist ein Prozeß. Eine literarische Gruppe, ist sie auch noch so lose verknüpft, muß in diesen Prozeß hinein, oder sie ist erledigt. Wenn der Rezensent diese Fragen stellt, befürchtet er, daß die Gruppe 47 auf der Kippe steht und in das Wasser fällt, das schlechte Kritik und nicht informierte Besprecher nicht reichen können. Die Autoren sind nicht Schuld, wenn die Literaturkritik versagt.

Die Kultur, Jg 9, Nr. 157, November 1960, S. 11

#

Fingerübungen?

Vom 3. bis 6. November fand in Aschaffenburg die diesjährige Herbsttagung der Gruppe 47 statt. Die Beteiligung war größer als gewohnt; und nicht jeder war geladen, der gekommen war. Auch stellen sich rückblickend dringlicher als bisher Fragen, die - will die Gruppe 47 ihr repräsentantes Gesicht wahren - geklärt werden müssen, ehe es zu spät ist. - Ohne Frage ist die Gruppe 47 nicht mehr das, was sie war, als sie anfing: eine Vereinigung von Schriftstellern und Dichtern, die sich und ihre neuen Texte kritisch besprachen. Die letzte Tagung hatte den deutlichen Anstrich einer Börse. Kritik wurde zum Großteil von den Feuilletonisten großer Tageszeitungen in einer dem vorgelegten Material inadäquaten Weise geübt. So geschah es denn auch, daß all diejenigen Texte, die nach neuen ästhetischen Überlegungen gearbeitet waren, dort als "Fingerübung" abgetan wurden, wo eine sachgemäße Interpretation zu anderen Ergebnissen geführt hätte. Um so erfreulicher war das wiederholte Eingreifen Professor Mayers, das jene Wenn-auch(gutgemeinte)-Diskussion als Literaturgeschwätz demaskierte: ein Privatissime in wissenschaftlicher Literaturkritik. Dies und ein tatsächliches Anwachsen von Literatur, die künstlich-künstlerisch einen größeren Anspruch auf die Bezeichnung Dichtung hat als aufgeblähtes Erzählen, gehören zu den wesentlichen Beobachtungen auf dieser Fastliteraturmesse. Zwischen diesem (Höllerer; Harig, Becker, Wellershoff) und den Erzählern purer Handlungsabläufe gibt es natürlich Zwischenstufen, so die Gedichte Elisabeth Bochers. Und auch bei den Erzählern tritt der Horizont des Machens ins nähere Blickfeld. So fielen bei Grass, Rehmann, Johnson fast mathematisch exakte Beschreibungen von Bewegungen, Wortketten, Montage, Iteration u.ä. auf. Auffallend und vielleicht charakteristisch für die gegenwärtige literarische Situation war das vollständige Fehlen guter tendenziös-kritischer Literatur (von Grass und Johnson einmal abgesehen). Einerseits mag die Angst vor dem Engagement überhaupt die Ursache sein, andererseits mag die Arbeit "mit der Sprache" noch nicht weit genug fortgeschritten sein, als daß man sich schon der Zerreißprobe eines Engagements aussetzen will. Das ist noch nicht zu entscheiden. Ansätze aber dazu zeigten schon jetzt Harigs "Foetusfatum" und Beckers "colonia alive". Tendenziös-kritisch oder artistisch-ästhetisch scheinen aughenblicklich die beiden Möglichkeiten. Dafür brachte Aschaffenburg einen guten Überblick mit viel Beispielmaterial. Daß dabei die Literaturkritik versagte, ist nicht Schuld der Autoren. - Wie gesagt: die Gruppe 47 ist nicht mehr, was sie mal war. Die Herbsttagung bot Literatur in großem Maße ohne eine dazugehörige Kritik mitzuliefern. Literatur entwickelt sich. Eine literarische Gruppe aber muß, so lose sie auch geknüpft ist, in diesen Prozeß mit hinein, oder sie ist erledigt.

notizen, Studentenzeitung für Stuttgart und Tübingen, Jg 5, Nr 29, November 1960, S. 24;

#

Mit Erlaubnis des Luchterhand-Verlages lassen wir im Folgenden Helmut Heissenbüttel - einen langjährigen Kenner dieser Gruppe und der speziellen Problematik derartiger Gruppenbildung - mit einem eigenen Text zu Wort kommen, der "Grundsätzlicheres" dazu zu sagen hat, als wir es nach einem einmaligen Besuch vermöchten.

Helmut Heissenbüttel: Bericht über eine Tagung der Gruppe 47

Eine Tagung ist eine Tagung. Eine Tagung der Gruppe 47 ist eine Tagung der Gruppe 47. Warum ist eine Tagung der Gruppe 47 eine Tagung der Gruppe 47? Weil es die Gruppe 47 gibt. Es hat einmal angefangen sie zu geben: es gibt sie immer noch.

Zu einer Tagung der Gruppe 47 versammeln sich die Mitglieder der Gruppe 47. Einwand: Es gibt keine Mitglieder der Gruppe 47. Gegenargument: Mitglied der Gruppe 47 sein heißt, eine Einladung zur Tagung der Gruppe 47 bekommen. Frage: Wer verschickt die Einladungen? Antwort: Hans Werner Richter. Folgerung: Es gibt nur ein Mitglied der Gruppe 47: es gibt Listen, die dieses eine Mitglied der Gruppe 47 verwahrt hütet, in Einladungen verwandelt.

Wenn es keine Mitglieder der Gruppe 47 gibt, so gibt es Teilnehmer an Tagungen der Gruppe 47. Der Bestand der Teilnehmer fluktuiert. Es gibt solche, die einmal eingeladen werden und solche, die wieder eingeladen werden. Es gibt solche, die eingeladen werden und kommen und solche, die eingeladen werden und nicht kommen. Manche schicken Telegramme während der Tagung, in denen sie ihre Nichtteilnahme bedauern. Es gibt eine kleine Gruppe von telegrafisch bedauernden Nichtteilnehmern.

Die Teilnehmer an einer Tagung der Gruppe 47 sind grundsätzlich in zwei Untergruppen zu teilen: in Autoren und Kritiker. Autoren lesen vor. (Anmerkung: es gibt auch Autoren, die nicht vorlesen.) Kritiker kritisieren. (Anmerkung: es gibt auch Autoren, die kritisieren: es gibt auch Kritiker, die Autoren sind. [Anmerkung zur Anmerkung: selten.])

Es gibt auch eine dritte Untergruppe von Teilnehmern: das sind die Rundfunk- und Verlagsvertreter. Die Mitglieder dieser Untergruppe wären am besten als Parasiten der Tagung zu bezeichnen. Sie suchen Sende- bzw. Verlagsobjekte. Sie machen Verträge, Abschlüsse oder nur Versprechungen. Manchmal kommt auf jeden Autor ein Vertreter. (Anmerkung: Es gibt auch Autoren, die Rundfunk- oder Verlagsvertreter geworden sind. Es gibt auch Rundfunk- oder Verlagsvertreter, die Autoren sind. [Anmerkung zur Anmerkung: Gelegentlich.])

Eine Tagung der Gruppe 47 besteht grundsätzlich aus zwei Teilen, den Vorlesungen und den Nachtsitzungen. Die Vorlesungen werden als Arbeit: die Nachtsitzungen als Vergnügen bezeichnet

Die Vorlesungen bestehen wieder aus zwei Teilen: den eigentlichen Vorlesungen und den Kritiken dieser Vorlesungen. Zur eigentlichen Vorlesung setzt sich der Autor auf einen abgesonderten Platz und liest vor. Die Absonderung von den übrigen Mitgliedern bezeichnet ihn für die Zeit seiner Absonderung als Objekt. Das Objekt darf geschlachtet, dekoriert, eingestuft, zerlegt, wieder zusammengesetzt werden. Diejenigen, die diese Tätigkeiten ausüben, sind die Kritiker. Sie sind nicht abgesondert. Sie treten zu mehreren auf. Das Objekt wird ihnen offiziell ausgeliefert. Es darf sich: soll sich aber nicht wehren. Die Gesamtheit dessen, was die Kritiker an Sätzen, Meinungen und Überzeugungen über den objektivierten Autor zusammentragen, wird als Objektivität der Kritik bezeichnet. (Anmerkung: Manche Kritiker versuchen nachzuvollziehen. Sollen sie aber nicht.)

Es gibt einen Mittelpunkt der Tagungen: sichtbar während der Vorlesungen: das ist der Diskussionsleiter. Er wird ebenfalls abgesondert. Jedoch nicht als Objekt, sondern als höheres Subjekt: als das subjektive Bewußtsein: als das auf sich selbst reflektierende Selbstbewußtsein der Gruppe 47. Es lenkt, lenkt ein, leitet, leitet über, vermittelt, subsummiert, ruft zur Ordnung und macht grundsätzliche Bemerkungen. Wenn das Ganze ein Schiff ist, ist er der Kapitän. Wenn das Ganze ein Schachspiel ist, ist er der König.

Die Vorlesungen füllen den Tag aus: die Nachtsitzungen die Nacht. An den Nachtsitzungen nehmen nicht alle Teilnehmer teil. Es soll Teilnehmer geben, die die ganze Nacht schlafen. Nachtsitzungen fangen an und enden meist als Splittergruppenverschwörungen. Die Anfänge zeichnen sich durch stummes Trinken und Wortkargheit aus: Die Abschlüsse durch Gesangsdarbietungen und akrobatische Übungen. Es kann: soll aber nicht: zu Exzessen kommen. Im Mittelteil wird gelegentlich getanzt.

Der Abschluß der Tagung ist dadurch gekennzeichnet, daß einige Teilnehmer früher abreisen. Das offizielle Ende der Tagung besteht in dem von Hans Werner Richter gesprochenen Satz: Die Tagung der Gruppe 47 ist hiermit beendet. Abreisende kursieren um Nochnichtabreisende. Die Tagung der Gruppe 47 ist eine gewesene Tagung der Gruppe 47. Die gewesene Tagung der Gruppe 47 bedeutet eine Erinnerung an die Tagung der Gruppe 47. Die Erinnerung an die Tagung der Gruppe 47 bedeutet eine Erinnerung an die Gruppe 47.

notizen, Studentenzeitung für Stuttgart und Tübingen, Jg 5, Nr 29, November 1960, S. 24

#

Gegen diese Kritik R.D.s plazierte die Tübinger Redaktion der "notizen" ohne Rücksprache mit dem Verfasser in der Februar-Nummer des folgende Jahres  folgende Pressestimmen:

Zur Tagung der Gruppe 47

Als Ergänzung zu dem Artikel "Fingerübungen" von R. Döhl in NOTIZEN Nr. 30, in dem der Verfasser von seinen Eindrücken bei der
letzten Tagung der literarischen Gruppe 47 in Aschaffenburg berichtete, an der er als Debutant teilnehmen durfte, bringen wir noch
zwei Pressestimmen. So schreibt Marcel Reich-Ranicki in der WELT vom 9. November 1960:

"Wer ist für die Lesung des jungen Mannes [Ludwig Harig, R.D.] verantwortlich, der eine schwulstige Schilderung der äußeren
und inneren Geschlechtsteile für Literatur ausgab? Er wurde von einem der bedeutenderen Dichter der jüngeren Generation
empfohlen, der keine einzige Zeile von diesem Kandidaten kannte, aber wenigstens bei der Lesung anwesend war. Wie konnte jene
Dame [Elisabeth Borchers?, R.D.] vorgelassen werden, deren Text bestenfalls als Beispiel des absoluten Dilettantismus dienen
konnte. Sie wurde von einem alten Mitglied der Gruppe empfohlen, einem Meister seines Fachs. Er selber ist freilich nicht nach
Aschaffenburg gekommen.

Das erschreckend niedrige Niveau der Debutanten hat besonders viel Unheil angerichtet, weil die verärgerten Kritiker bei der
Beurteilung der Arbeiten wirklicher Schriftsteller mitunter zu übertriebener Begeisterung neigten, was wiederum übertrieben negative
Erwiderungen zur Folge hatte. Die Hand des Feinmechanikers, der mit seinem Werkzeug Kartoffeln schälen muß, ist
wahrscheinlich, wenn er zu seiner eigentlichen Arbeit zurückkehrt, zunächst auch etwas unsicher."

Ein weiterer Text aus der Basler "National-Zeitung" vom 12. Dezember 1960 wurde uns von Prof. Walter Jens zur Verfügung gestellt;
dort schreibt Walter Widmer u.a.:

"Vom Morgen bis teilweise spät in die Nacht wird gearbeitet, hart gearbeitet. Anerkannte, werdende und Möchtergern-Autoren lesen
ihre Arbeiten und müssen es sich nachher gefallen lassen, von der Kritik, die grausam und schonungslos geübt wird, zerzaust zu
werden. 'Seid nett zueinander' gilt hier nicht. Schlechte Texte werden gar nicht zu Ende gehört, der Verfasser wird unterbrochen und
in der Luft zerfetzt. Mitleid kennt man nicht, nur sachliches Lob und objektiven Tadel.

Ein Gremium von Star-Kritikern sitzt vorn in den ersten Reihen, dahinter, bunt gemischt, die Autoren, Verleger und übrigen Hörer.
Kritisieren kann jeder, vorausgesetzt, daß er etwas zu sagen hat. Walter Jens, Hans Magnus Enzensberger, Klaus Wagenbach,
Joachim Kaiser, Christian Ferber, dazu Hanns Mayer und Marcel Reich-Ranicki sind die Star-Kritiker.Die beiden letzten, Marxisten
und Dialektiker mit östlichem Drall, Mayer aus Leipzig, Ranicki aus Warschau, jetzt aber im Westen assimiliert, haben es darauf
angelegt, ihren Geist brillieren zu lassen, selbst wenn das, was sie sagen, oft nur ein kaltes Feuerwerk von Bonmots, paradoxen
Geistesblitzen oder provokativen Finten und Ausfällen ist. Glänzend, sachlich, unbestechlich klar, am Schluß das Ganze in einem
herrlich formulierten Satz resümierend, Walter Jens, über dessen stupend klares Denkvermögen und prägnante Formulierungsgabe
man immer wieder staunte; desgleichen Enzensberger mit seiner gelassen unbeirrbaren analytischen Methodik, Kaiser
temperamentvoll und witzig, Wagenbach originell, geistvoll und untertreibend. Von den Autoren Grass, immer wieder Günter Grass,
blitzgescheit, immer wieder den Nagel auf den (zuweilen hohlen) Kopf treffend, auch im Angriff auf diejenigen Kritiker groß, die
überspitzten oder sich dann und wann verhauen mochten. Die ganze Zuhörerschaft war im grundsätzlichen so einig, daß schlechte
Machwerke gar nicht aufkommen konnten: sie wurden gleich von Anfang an niedergelacht und gingen im Unisonogelächter unter."

notizen, Jg 5, H. 31, Februar 1961, S. 19

#

Es war einmal ein Mann, der Eduard hieß. Anmerkungen zur Herbsttagung der Gruppe 47

Vom 3. bis 6. November fand in Aschaffenburg im Sitzungssaal des neuen Rathauses die diesjährige Herbsttagung der Gruppe 47 statt. Es waren mehr Teilnehmer als sonst gekommen (die eingeladen waren, die nicht eingeladen waren. Auch Professoren waren da, Feuilletonisten, Nichtschreiber, Kritiker, Verleger, Herausgeber, Ehefrauen, Schriftsteller und einige Dichter. Mehrere Schriftsteller und Dichter lasen vor. Die Feuilletonisten, Professoren und andere besprachen sich, manchmal die Texte, meistens gegeneinander. Unter denen, die vorlesen waren, mehrere neue. Manche lasen gut vor. Manche lasen nur vor. Manche konnte man schlecht verstehen. Es gab auch welche, die schwiegen). In deutlicherem Maße als bisher stellen sieh rücklickende Fragen, die - will die Gruppe 47 ihr repräsentantes Gesicht wahren - geklärt werden müssen, ehe es zu spät Ist. Die letzte Tagung hatte den unübersehbaren Charakter einer Börse. Will man darüber hinaus die Eindrücke der Tagung registrieren, muß man zwei Gruppen von Eindrücken unterscheiden: den Eindruck, den die Vorlesenden hinterließen und den Eindruck, den die Besprecher hinterließen.

Unter denen, die vorlasen, gab es zwei Gruppen: diejenigen, die mit der Sprache etwas machten und diejenigen, die in der Sprache etwas machten, Wenn man der modernen Literatur unterstellt, daß sie entweder "mit der Sprache" oder "in der Sprache" (M. Bense: "Die Programmierung des Schönen", 1960) etwas macht, und man muß ihr das, wenn nicht alles täuscht, unterstellen, kann auch die Kritik nicht mehr mit einerlei Maß messen. So las z. B. Walter Höllerer ein weiteres Kapitel aus seinem Roman "Die Elephantenuhr" vor, einen Text, für den beides gilt: daß in der Sprache etwas gemacht wird und mit der Sprache. In der folgenden Diskussion nun stellte Walter Jens sich und damit die Wortbedeuter vor den Wortgebrauchern bloß, wie überhaupt die spärlichen kritischen Versuche zu diesem Text eine erschreckende Demaskierung einer unfähigen Kritik waren.

So geschah es dann auch, daß all diejenige Literatur, die mit neuen ästhetischen Kategorien arbeitete (Informationsästhetik), von der Kritik dort mit "Fingerübung" abgetan wurde, wo eine sachgemäße Interpretation (Textstatistik, Textlogik, Texiphänomenologie, Textäthetik) zu völlig anderen Ergebnissen geführt hätte. Dies und das starke Anwachsen einer Literatur, die künstlich-künstlerisch größeten Anspruch auf die Bezeichnung Dichtung verdient als aufgeblähtes Erzählen, gehören zu den wesentlichen Beobachtungen auf dieser Festliteraturmesse. (Hier wären folgende Namen zu notieren: Jürgen Becker, Ludwig Harig, Dieter Wellershoff und Walter Höllerer).

Zwischen diesen und den Erzählern purer Handlungsabläufe (die aufgewendete Redundanz stand in keinem Verhältnis zur wahrnehmbar gemachten Innovation, die es nicht gab) gab es natürlich Zwischenstufen. So z.B. die Gedichte Elisabeth Borehers. Auch bei den Erzählern trat das artifizielle Moment deutlicher in den sprachlichen Vordergrund, geriet der Horizont des Machens ins nähere Blickfeld; man "schreibt, wenn man schreibt, anfällig für Störungen". Die Textatur enthält Randomelemente. Das gilt in geringem Maße für Günther Grass' Kapitel aus dem neuen Roman "Kartoffelschalen", das gilt schon eher für Ruth Rehmanns Romanabschnitt, wo Wortketten, Iteration und Montage aufhorchen ließen.

Registriert man dies als erfreuliche Entwicklung, verhält es sich bei Uwe Johnsons "Beschreibung einer Beschreibung" wesentlich schwieriger. Denn wenn man hier die Textschichten voneinander abträgt, die die künstliche Dunkelheit seines Stils ausmachen, und die Fabel einfach erzählen würde, dann bliebe wenig zurück, was nicht schon die "Mutmaßungen über Jakob" ausgemacht hätte; also kaum Innovation. Andererseits gelingt es Uwe Johoson, aktuelle Problematik und das "Dilemma der erzählerischen Fiktion und Abkürzungen" (H. Heißenbüttel) so zu verbinden, daß von hier eine weitere Entwicklung des Erzählens sich abzeichnet (keine Krise also).

Auffallend und vielleicht charakteristisch für die literarische Situation ist das fast voliständige Fehlen tendenziös-kritischer Literatur (von Grass und Johnson einmal abgesehen). Andererseits scheint es durchaus möglich, daß sich die angezeigten Stilrichtungen erst weiter entwickeln müssen, bevor man sie der Zerreißprobe eines Engagements aussetzen kann. Ansätze dazu waren auch hier schon zu registrieren bei Ludwig Harigs "foetusfatum" oder Jürgen Beckers "colonia alive".

Mit tendenziös-kritisch und ästhetisch-artistisch scheinen die augenblicklichen Extreme und Alternativen nach dem Aschaffenburger Überblick bestimmt. Zu beiden wurde genügend gutes Beispielmaterial (unter erstaunlichem Mist) zusammengetragen. Daß die Literaturkritik dabei versagte, ist nicht Schuld der Autoren. (Unter denen, die das und dies und sich besprachen, waren solche, die während der öffentlichen Diskussion etwas sagten und solche, die hinterher oder in den Pausen oder beim Essen etwas sagten. Die meisten Äußerungen der Kritik begannen mit "Ich glaube" oder "Ich finde" oder "Meiner Meinung nach". Von hundert Wormeldungen waren das 93. Manchmal wurde semantische Information mit "Abbild der Wirklichkeit" verwechselt. Manchmal fragte ein Kritiker, "was der Autor gewollt habe", statt sich an den Text zu halten. Ein Kritiker wartete auf einen Text, der anfing: "Es war einmal ein Mann, der hieß Eduard" (M. Reich-Ranicki). Häufig war das Eingreifen Prof. Mayers (Leipzig) ein Privatissime in wissenschaftlicher Literaturkritik für eine wenn auch gutgemeinte Kritik, die Literaturgeschwätz war. Meistens redeten der Autor und die Kritik aneinander vorbei).

Nach Beendigung dieser Herbsttagung bleibt manches zu fragen, z.B.: warum so wenig Literatur überhaupt engagiert war und wenige Autoren überhaupt von etwas sprachen? Warum, wenn die Gruppe 47 nicht mehr das ist, was sie einmal war, als sie anfing, warum dann nicht die Konsequenzen daraus gezogen werden? Die Tagung bot Literatur in breitestem Maße, ohne die zugehörige Kritik mitzuliefern, Wo sich aber die Kritik nicht mehr adäquat zu werdender Literatur verhält, fängt Literaturgeschwätz an: wie gehabt. Die Literatur entwickelt sich. Eine literarische Gruppe, mag sie auch noch so lose geknüpft sein. muß in diesen Prozeß hinein, oder sie ist erledigt. Wie gesagt: die Autoren sind nicht schuld, wenn die Kritik versagt. Oder soll es für die Zukunft zum Renommee eines ehrlichen Dichters gehören, außer Erhalt des Industriepreises wenigstens einmal bei der Gruppe 47 durchgefallen zu sein? fragte eine anwesende Journalistin. Unter anderem.

Prisma, Studentenzeitschrift für Göttingen und Hannover Jg 5, Nr. 7, Dezember 1960, S. 25

#

Ludwig Harig: Die Zwitschermaschine

"Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen! Bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird; aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt! Man kann es erklären, man kann ihn öffnen und dem Menschen begreiflich machen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen, und wie das eine aus dem anderen folgt!"

Eines Abends jedoch, als der Kunstvogel am besten sang, und der Kaiser im Bett lag und darauf hörte, sagte es inwendig im Vogel "Schwupp". Da sprang etwas! "Schnurr!" alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still.

(Hans Christian Andersen)

MISCHTEXT

Es kann keiner singen von dem, was nicht singt von uns, der neue Bechstein ist elektrisch und das Jahr zu alt für Lerchen - Lärmen, demgemäß besprach Prof. J.B. Wiesner vom Laboratorium für Elektronik des M.I.T. die Erfindung eines mechanischen Gerätes, das die Synthese menschlicher Stimmen durch Kombination einer gewissen Anzahl fester Töne produziert, dann warte, ob der Vogel sich entschließt zu singen. Unter den möglichen Variationen glitzern die Kastagnetten des Schweigens, ein Ton von krankem Violett stößt an den Raum, hinter den Fensterscheiben weint PAUL KLEE, dieser neue Baustein, sagt er sich, ist zunächst wohl etwas schwer, und zieht mir die Geschichte zu sehr nach links, er sitzt mit sich in einem Kreis, der Kreis sitzt mit dem eignen Leib. Stimmen kamen, frostfern, durch die Nacht, auf tausend Geigen verborgen im Faltenwurf des Porphyrs, ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer, und ein Klang, rein lang und bebend, langsam ersterbender Klang, immer und ewig nach irgendwo und noch einmal nach irgendwo und noch einmal nach irgendwo, dunkel und ohne Ende nach irgendwo. Kein Unten, kein Oben, die Mitte lädiert, Magnetnadel und Windrose außer Kurs; dort wo sich belebt und wächst und sich zu wenden beginnt die obszöne Rose des Gedichts. Das Wesen der Kunst ist die Tautologie, muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns und das Nichten des Nichts.

Prisma, Studentenzeitschrift für Göttingen und Hannover Jg 5, Nr. 7, Dezember 1960, S. 25