13 Sätze über Poesie 1 Sprache ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß sie die Tendenz hat, Poesie zu sein. 2 Poesie ist ein Zustand der Sprache. 3 Poesie erweckt nicht einen Zustand mithilfe von Sprache (Poesie dient nicht der Erleuchtung mithilfe der Sprache; wenn es solche Erleuchtung gibt, ist Poesie sie selbst). 4 Sprache im Zustand der Poesie hat den Charakter eines unauflösbaren Code. In ihm wird die Aufbewahrungsfunktion der Sprache als das Wesen der Sprache realisiert. (Alle anderen Zustände der Sprache sind Vermittlungen, Abschwächungen, Brechungen.) 5 Die Form dieses Zustandes ist die syntaktische Sonderform. (Vers, Straophe, metrische Regulierung usw. sind syntaktische Sonderformen; aber auch sogenannte Satzauflösungen, Satzreduzierungen zur Vokabel, Wortverschleifungen usw. sind als syntaktische Sonderformen zu verstehen, als Aktualisierungen der syntaktischen Sonderform.) Auch der grammatische Satz kann zur syntaktischen Sonderform erklärt werden. 6 Die syntaktische Sonderform des Satzes verleiht dem Satz den Charakter des Wahrsatzes. 7 Alles, was die Sprache benennbar aufbewahrt oder neu benennbar macht, ist Stoff der Sprache im Zustand der Poesie. Das aufbewahrte Benannte ist Stoff der Sprache im Zustand der Poesie. Was nichts nennt oder wessen Nennwert nicht erkannt werden kann (Laute, Interjektionen, unbekannte Sprachen), ist nur solange Stoff, als es auf Nennendes durchscheint oder Kontrastfunktion dazu hat. 8 Sprache im Zustand der Poesie (im Charakter des Wahrsatzes) hat die Tendenz zur Verengung des Sprachschatzes. Diese Tendenz zur Verengung in einen sogenannten poetischen Wortschatz ist nicht absolut, sondern historisch gebunden und fluktuierend. Der Rythmus der Fluktuation ist epochal symptomatisch und nicht umkehrbar. Die Fluktuation ist nicht unmittelbar Folge anderer historischer (politischer, gesellschaftlicher usw.) Veränderungen. 9 Sprache im Zustand der Poesie hat an der historischen Veränderung des gesamten Sprachschatzes, des gesamten Wortmaterials, des gesamten Sprachfeldes Anteil. In der Fluktuation des sogenannten poetischen Wortschaftes zeigt sich dieser Anteil. 10 Was die Sprache aufbewahrt, zeigt, was die Sprache an Gemeinsamkeit der Sprechenden besitzt (aufbewahren in Sprache heißt gemeinsam haben). Im Zustand der Poesie enthebt sich die Gemeinschaft des Aufbewahrten der Gemeinsamkeit. In dieser Enthebung realisiert sich die Gemeinsamkeit. 11 Die Verschiebung des Sprachfeldes ist abhängig von den materiellen Bedingungen der Sprechenden. Sprache als Aufbewahrungsort des Benennnbaren (Bekannten) hat diese materiellen Bedingungen zum Gegenüber (in Sprache wird die Erinnerung an die materiellen Bedingungen aufbewahrt, die Gemeinsamkeit der materiellen Bedingungen erklärt). Sprache im Zustand der Poesie versucht, die Erinnerung an die materiellen Bedingungen über sich selbst zu erheben. 12 Sprache im Zustand der Poesie versucht, die Erinnerung an die materiellen Bedingungen, sie von sich selbst erlösend, in den Zustand materieller Bedingungen zu überführen. Der >Zustand der Poesie im Versuch der Überführung in den Zustand materieller Bedingungen bedeutet Halluzination der Sprache. 13 Religion und Philosophie haben versucht, die materiellen Bedingungen zu rechtfertigen, ohne sie zu verändern. Wissenschaft als Erbin von Religion und Philosophie versucht die Rechtfertigung der materiellen Bedingungen allein in ihrer Veränderung und Veränderbarkeit zu begründen. Rechtfertigung und Veränderung sind in der Wissenschaft identisch und permanent. Sprache im Zustand der Poesie hat einmal die Rechtfertigung der materiellen Bedingungen durch Religion und Philosophie in den Charakter des Wahrschatzes zu überführen versucht. In der Identität von Rechtfertigung und Veränderung erscheint das in Sprache Aufbewahrte als Vorrat des Veränderbaren. Der Wissenschaft antwortet Sprache im Zustand der Poesie mit neukombinierender Halluzination von Möglichkeit. HH für einen gemeinsamen Arbeitskreis mit RD im Studium Generale der THS, SS 1967. - Aus gleichem Anlaß entstanden >13 Sätze über Erzählen<.
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