Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet | Hansjörg Mayer
reinhard döhl | hansjörg mayer. typoaktionen

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ein alphabet ist eine laut fremdwörterduden in bestimmter ordnung stehende buchstabenreihe, buchstabenfolge. der große brockhaus versteht als alphabet die gesamtheit der buchstaben eines schriftsystems in ihrer eigentümlichen anordnung. historisch geht die überlieferte anordnung der europäischen alphabete auf das älteste semitische alphabet zurück, wobei der ursprüngliche bildwert der zeichen eine rolle spielte, indem die bilder aus demselben sachgebiet zusammengestellt wurden. neben der durch den ursprünglichen bildwert der zeichen bestimmten anordnung gibt es aber auch der form der buchstaben nach (zb das arabische) oder nach dem lautwert (zb das indische) geordnete alphabete. mit anderen worten: die anordnung der buchstaben (zeichen) zu einem alphabet ist ursprünglich entweder visuell (bild, form) oder akustisch (laut) bestimmt.

der ursprüngliche bildwert der zeichen ging in den europäischen alphabeten verloren. er ist durch das individuelle der handschrift, durch immer neu entwickelte schriften in vergessenheit geraten. das führte seit erfindung des buchdrucks zu einer von francis ponge in proklamation und petit four beklagten uniform der type und, daraus resultierend, gleichsam zu einer neuen verbildlichung der type im nachherein, wenn zb in einem text über die aprikose das a der gewählten type so sehr wie möglich der gewählten frucht ähnelt, wenn in einem text über die ziege chèvre dem accent grave eine gleichsam bildliche rolle zugeschrieben wird. der in diesem zusammenhang von ponge gegebene hinweis auf den gebrauch der typographischen künste, um zu mehr oder weniger bedeutsamen effekten zu gelangen (mallarmé, apollinaire, die surrealisten), bezeichnet im grunde dasselbe phänomen.

bis etwa ende des 19. jahrhunderts wurden die lettern, die buchstaben überdies fast ausschließlich dazu verwendet, wörter, wortfolgen, sätze, satzfolgen, texte wiederzugeben, dienten sie vor allem der mitteilung von inhalten wie auch immer. seit grob gerechnet ende des 19. jahrhunderts hat man aber auch den graphischen reiz, den formwert des buchstabens, der letter entdeckt, deutlich zeigbar etwa an den alphabeten des jugendstils. neben der typographisch raffinierten, dem inhalt oft inadäquaten realisation von texten begegnet auf der anderen seite die reduktion auf das alphabet, etwa in den alphabettexten schwitters oder aragons, und darüber hinaus die auffassung des alphabets als eines materialen ensembles vorgegebener graphischer formen (vgl. etwa kurt schwitters gesetztes bildgedicht). die eigenform der buchstaben, der lettern, nicht das mit ihrer hilfe sichtbar zu machende wort bestimmte ihren gebrauch bei der typographischen gestaltung. an stelle des ursprünglichen bildwertes des einzelnen zeichens, der längst in vergessenheit geraten war, war eine ästhetische neubesinnung auf den formalen eigenwert des buchstabens getreten. der typograph, bis dahin berufener und geschickter hersteller anspruchsvoller textwiedergaben, wurde zum künstler sui generis. die graphisch formale interpretation des alphabets führte im 20 jahrhundert zur entwicklung einer allerdings ein wenig mißverständlich so genannten poesie aus dem setzkasten

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hansjörg mayer nützt für seine produktion diese beiden möglichkeiten der typographie aus. als verleger, herausgeber, setzer und drucker in einer person ist er an der wiedergabe experimenteller literatur interessiert, etwa in seiner reihe futura. als künstler sui generis bedruckt er blätter und blattfolgen. in beiden fällen hat er sich auf eine schrift beschränkt, die futura, der er als der ungestaltetsten schrift vor allen anderen den vorzug gibt. (ein sich auch hier andeutender weiterer bezug zu kurt schwitters sei wenigstens erwähnt.) auf der einen seite, um bei der wiedergabe von texten die texte nicht mit unnötigem typographischem ballast zu beladen, auf der anderen seite, um das ungestaltetste alphabet als ausgangspunkt seiner typographischen gestaltungen zur verfügung zu haben. 1962 hat hansjörg mayer dabei programmatisch so etwas wie ein privatalphabet entwickelt, in dem er jeden einzelnen buchstaben auf seine iterierbarkeit in den verschiedensten konstellationen prüfte, ihn gewißermaßen zu einem superbuchstaben zusammentreten ließ und so die ihm jeweils eigenen formal graphischen möglichkeiten sichtbar machte. dieses aus 26 buchstabenkonfigurationen bestehende alphabet wurde 1963, verkleinert, als rot 13 publiziert und 1965 von max bense in einem dem stuttgarter ausstellungskatalog vorangestellten aufsatz, lettern, ausführlich beschrieben und interpretiert
 
 

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das alphabet von 1963 ist auch ausgangspunkt des vorliegenden buches. für seine herstellung wurden die 26 buchstabenkonfigurationen auf eine fotosatzscheibe übertragen und mit hilfe des starsettograph jede dieser buchstabenkonfigurationen auf einer vorgegebenen fläche von 24 auf 32 cicero bei horizontaler und vertikaler verschiebungsmöglichkeit in einer zeitlich auf 13 minuten begrenzten aktion zufällig im blindsatz möglichst schnell immer wieder gesetzt. die ergebnisse dieser aktionen hat hansjörg mayer erst noch der entwicklung der filme gesehen. sie sind also in keiner weise durch durch den optischen eindruck bedingte entscheidungen gesteuert.

das vorliegende buch zeigt also einmal ergebnisse derartiger aktionen, wenn man es nach rechts durchblättert, bzw. wenn man es ganz aufklappt, in der oberen reihe. man könnte im falle dieser abbildungen von typographischer zufallsgestaltung von flächen, von zufallsstrukturen sprechen, deren ästhetischer reiz nicht zuletzt in den zufälligen nachbarschaften in der jeweiligen spannung zwischen zufälliger dichte und leerstelle, zwischen ungeordneter weißer fläche und zufälliger buchstabenanordnung liegt. dann würde man, wenn man das buch nach links durchblättert bzw., wenn man das buch vollständig aufklappt, in der unteren reihe von einem prozeß zunehmender dichte bzw. verdichtung, von einem prozeß der auffüllung sprechen können. diese auffüllung geschieht, indem die beschriebenen zufallsstrukturen in einer zunehmenden folge a, a plus b, a plus b plus c bis a plus b [usw] plus z übereinandergedruckt werden. dabei nehmen nicht nur die leerstellen umfangmäßig ab, es treten vielmehr auch die einzelnen buchstaben zu teilflächen zusammen, so daß man sich über die wiedergegebene folge hinaus und als folge weiterer übereinanderdrucke eine total eingeschwärzte und damit wiederum ungeordnete fläche vorstellen könnte. zeigt also das buch beim durchblättern nach rechts eine folge vergleichbarer zufallsstrukturen, deren ästhetischer reiz, wie man auch sagen könnte, in der vergleichbaren jeweiligen gewinnung von ordnung aus unordnung besteht, zeigt das buch, wenn man es nach links durchblättert, einen prozeß, in dem der gewinn von ordnung aus unordnung schließlich umschlägt in eine tendenz zu einer neuen allerdings künstlich erzeugten unordnung.

da man das buch sowohl nach links wie nach rechts durchblättern, es aber auch, wie bereits angedeutet, völlig aufklappen kann, scheint überdies so etwas wie ein neuer buchtyp gegeben. fraglos sind die einzelnen seiten dieses buches auch als einzelblätter vorstellbar. sie könnten als einzelblätter und als serie gezeigt werden. dieses zeigen wäre abhängig von den gegebenheiten einer ausstellung und entsprechend zeitlich begrenzt. anders ist dieses buch auch so etwas wie eine permanente privatausstellung, in die man eintreten kann, wo man will, die man besichtigen kann, in welcher reihenfolge man will, in der man das einzelstück, einzelne stücke ebenso wie den zusammenhang beachten kann, die man schließlich als buch schließen und öffnen kann, wann immer man will.

[stuttgart februar 1967; die typografischen besonderheiten der vorlage sind nur z.t. berücksichtigt]