Stuttgarter Zeitung, 5. November 1968
Y.P.: Jedem sein Paul
Claus Henneberg liest in Stuttgart

Von den Strapazen der "Tage für [neue] Literatur in Hof" kaum erholt, kam Claus Henneberg jetzt nach Stuttgart, um sich im unorthodoxen Buchladen Wendelin Niedlichs als ebenso unorthodoxer Erzähler vorzustellen. Er las aus seinen Romanen "David Gimmel" und "Leben Pauls" jeweils den Anfang. Diese Kombination war trotz dem großen Stilunterschied zwischen beiden Texten glücklich: sie zeigte deutlich, wie Henneberg nach seiner erzählerischen und sprachlichen Auseinandersetzung im "David Gimmel" mit der Tradition, die neben anderen mit dem Namen Thomas Mann verbunden ist, im "Leben Pauls" eine Möglichkeit jenseits der Krise des Erzählens gefunden hat.

Im "David Gimmel" ist die Krise der modernen Prosa offensichtlich: die Problematik des nicht mehr möglichen Erzählers traditioneller Provenienz. Der Autor erzählt nicht mehr, sondern er montiert Notizen aus dem Tagebuch des "halb fiktiven, halb autobiographischen" Dichters David Gimmel. Die so gewonnene Distanz zum Erzählen ermöglicht die ironische Brechung des Erzählstils. An die Stelle des Erzählens tritt das zitierte Erzählen, das als solches immer wieder reflektiert wird: der Autor möchte den Ereignissen nicht vorgreifen, sondern den Dichter David Gimmel erzählen lassen.

Was in diesem Buch eine Auseinandersetzung mit der Erzähltradition ist, vollzieht sich im "Leben Pauls" durchaus als Bruch mit eben dieser Tradition. Nicht das wirkliche Leben Pauls ist der Gegenstand, sondern sein "literarischer" Nachlaß, worunter alles Geschriebene zu verstehen ist: Gaststättenrechnungen, abgerissene Zeitungsränder, Verpackungspapiere und Tüten, Drucksachen aller Art, ein Kalender von 1963, ein selbstgemachter Block, auf die Paul seine Notizen, Gedichtfragmente geschrieben hatte. Der Autor, der den Paul gut kannte, rettet diesen Haufen geschriebenen Materials nur durch einen Zufall vor dem Aschkasten, sichtet und ordnet es regellos und verwendet es für sein neues Buch "in einem Satz", der immer wieder von wirklichen Notizen Pauls unterbrochen wird. Mit diesem einen linearen Satz kommentiert er die Notizen und hält sie formal zusammen, was beim Lesen nicht klar herauskam. "Leben Pauls" ist eine literarische Collage, ein Mosaik des Wirtschaftswunders in den fünfziger Jahren, reflektiert in der "geistigen Verwirrtheit und Verhohlung des Deutschen - des Pauls - nach dem Zusammenbruch seines dritten Reiches".