Die folgenden Notizen und Marginalien aus dem Zusammenhang eines ungedruckten Vortrags über Wirklichkeit und Modell bei Frisch und Dürrenmatt mögen dazu beitragen, den im Hofer Podiumsgespräch über Provinz und Literatur vertretenen Standpunkt weiter zu verdeutlichen und zu konkretisieren. -
"Die ardorranische Angst, Provinz zu sein, wenn man einen Andorraner ernst nähme: nichts ist provinzieller als diese Angst" (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949, Frankfurt a. M. 1950, S. 12)
Man könnte diese Bemerkung verallgemeinern zu dem Satz, das Wesen der modernen Provinz sei durch die Angst bezeichnet. provinziell zu sein.
"Aber ich kann mir noch einen ganz anderen Schriftsteller denken. einen Schriftsteller, der mit ungeheurem Vergnügen Liechtensteiner ist... Für diesen Schriftsteller wird Liechtenstein zum Modell der Welt werden, er wird es verdichten, indem er es ausweitet, aus Vaduz ein Babylon und aus seinem Fürsten meinetwegen einen .Nebukadnezar schaffen." (Friedrich Dürrenmatt, Amerikanisches und europäisches Drama. Vortrag, gehalten in New York, 1960, jetzt in: Theaterschriften und Reden, Zürich 1966, S. 162)
"Das Andorra dieses Stücks hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens, gemeint ist auch nicht ein andrer wirklicher Kleinstaat; Andorra ist der Name für ein Modell." (Max Frisch, Vorbemerkungen zu dem Stück "Andorra" von 1961)
Was besagt, in solchen Feststellungen, der in der Literaturkritik inzwischen schon modisch gewordene Begriff "Modell"? Die geläufige Bedeutung (Vorbild, Muster) scheidet aus. Nichts liegt Frisch und Dürrenmatt ferner als die biedermeierliche Absicht, den Kleinstaat und seine Gesellschaft als Vorbild anzupreisen. Eher scheint die andere Bedeutung den Sachverhalt zu retten, wonach ein Modell ein verkleinertes Abbild der Wirklichkeit ist (so sprechen wir etwa von einer Modelleisenbahn). Wozu dann aber das Ausweichen nach Andorra und Babylon? Weil die Welt gar nicht in einem naiv-realistischen Sinn abbildbar ist. So bildet auch das Atom-Modell der modernen Physik nicht das Atom ab, "wie es wirklich ist", sondern hat die bescheidenere und wichtigere Funktion einer Hilfestellung in einem Bereich, der sich der Anschauung entzieht.
Die Chance des Schriftstellers, der in einem Kleinstaat zuhause ist, ergibt sich daraus, daß in diesem scheinbar unversehrten Refugium die Spannung deutlicher fühlbar wird zwischen der gesicherten Fassade und dem, was in unserer Welt, der Kontrolle durch den einzelnen entzogen, geschieht oder sich anbahnt.
Frisch und Dürrenmatt brauchen das Modell, um an ihm die Doppelbödigkeit der Situation zu zeigen. Ein einfaches Beispiel: in seinem frühen Stück "Der Blinde" läßt Dürrenmatt als Titelhelden einen blinden Herzog aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges auftreten, dessen Besitztum verwüstet ist, der aber durch einen Hofstaat von Landstreichern, die sich um ihn versammelt haben, im Glauben erhalten wird, alles sei noch in bester Ordnung. Der blinde Herzog weiß, daß es sinnlos wäre, die Aussagen seiner Umgebung anzuzweifeln - er kann sie ohnehin nicht nachprüfen. Der Zuschauer, der als Bühnenwirklichkeit ein Ruinenfeld vor sich hat, wird gezwungen, wenn er der Handlung folgen will, die Imagination einer heilgebliebenen Weil nachzuvollziehen. Er ist in die permanente Spannung gestellt zwischen dem gegenwärtigen und dem vergangenen Zustand, zwischen dem, was ihm vor Augen steht, und dem, was er auf Grund des Dialogs in diesen Augenschein hineinprojizieren muß. Kein Zweifel, daß Dürrenmatt ihm damit kein historisch-dramatisches Gemälde aus dem 17. Jahrhundert vorlegen will, sondern eben das Modell einer Welt. die mit den Begriffen von gestern sich in einem (für den blinden Helden) der Anschauung entzogenen Heute zurechtfinden muß.
Man könnte versucht sein, diese Funktion des Modells auf die einfache und althergebrachte Formel zu bringen. hier werde an einem Einzelfall etwas Allgemeingültiges demonstriert, der modellhafte Vorgang sei im weitesten Sinne symbolisch zu nehmen. Aber damit würde man nur jenen Zeitgenossen die Gegenargumentation leicht machen, die einem Frisch und noch mehr einem Dürrenmatt vorwerfen. ihre Situationen und Spielanlagen seien zu ausgefallen, zu farcenhaft, unwahrscheinlich und grotesk, um unsere alltägliche Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln verständlich zu machen. Tatsächlich ist das Modell kein Exemplum mit einer naheliegenden Nutzanwendung. Das Alltägliche und Gewohnte ist in ihm von vornherein bis ins Abstruse verfremdet. Exemplarisch ist das Modell nur von seiner Struktur her, nicht auf Grund der in ihm präsentierten Fakten.
Es entspricht diesem Sachverhalt, daß im Modell selbst das Faktische mehrdeutig und variabel wird. Stiller leugnet seine Identität mit dem von früher her unter diesem Namen bekannten Menschen. Andri in "Andorra" ist nicht der, für den die andern und schließlich er selbst ihn [sich] halten. Dieses Prinzip der Variabilität des Faktischen hat seine bisher komplexeste Gestaltung in "Mein Name sei Gantenbein" gefunden, einem Roman, der seinen hypothetischen Charakter schon im Titel offen herausstellt. Wieder begegnen wir dem Motiv des Blinden, aber im Gegensatz zum blinden Herzog in Dürrenmatts frühem Stück stellt sich hier der Held nur blind, um besser zu sehen. Die vorgespiegelte Blindheit ist ein verzweifelter Versuch, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Spannung zwischen "Wirklichkeit" und Imagination hat sich nochmals um eine Stufe potenziert. Die Erinnerungen des Ich-Erzählers haben die Form eines Mosaiks von Variationen. Er probiert sich "Geschichten an wie Kleider". Der Held selbst wird zur variablen Größe in einem Ausmaß, wie es auf der Bühne kaum denkbar ist, - was aber nicht besagt, daß den dramatischen Modellen Frischs und Dürrenmatts nicht dasselbe Prinzip zugrunde liegt.
Nur von diesen Voraussetzungen her gewinnt der Satz einen heute vertretbaren Sinn, daß "Liechtenstein" zum Weltmodell ausgestaltet sein wolle.
neue literatur in hof. Sonderheft der Kulturwarte, Jg 12, S. 23-25