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Ralf Sziegoleit | Hof und die neue literatur

Zum fünften Male haben im Oktober Tage für "neue literatur in hof" stattgefunden. Möglicherweise ist es das letzte Mal gewesen. Denn die Öffentlichkeit hat Claus Hennebergs, des Veranstalters, Bemühungen nicht honoriert, sie ist der Konfrontation mit moderner Kunst ausgewichen, sie ist zu Hause geblieben vor dem Fernsehschirm.

Vielleicht wird aus der "neuen literatur in hof" eine "neue literatur in nürnberg" werden. Die Stadtväter der mittelfränkischen Metropole haben mit Henneberg bereits Kontakt aufgenommen. Sie meinen, in Nürnberg werde das Interesse größer sein, sie meinen, für Nürnberg wäre das eine echte Attraktion.

In Hof ist ein Gejammer, daß die Stadt immer öder werde, daß eine Einrichtung nach der anderen abwandere, verschwinde. Was aber tut man, um sie zu halten?

Mit knapper Mehrheit hat sich der Stadtrat heuer wieder dazu durchgerungen, dem Veranstalter der Literaturtage einen Zuschuß zu geben. Bei der Diskussion darüber sprach einer, der mal zu den Besuchern gehört hat, er habe eine "pornographisch-schizophrene" Darbietung miterlebt.

Bei den Tagen für "neue literatur in hof 1970" ist allerhand geboten worden. Die Veranstaltungen konnten Spaß machen und zum Nachdenken anregen. Aber es sind kaum Leute dagewesen, so daß kaum jemand Spaß haben oder zum Nachdenken angeregt werden konnte. Henneberg in einem Statement: "Nach fünf Jahren 'neue literatur in hof' könnte man resümieren: Ein Sohn der Stadt veranstaltete unter wohlwollendem Schulterklopfen - gepaart mit einer Art sensationeller Neugier der sozialen Schicht seiner Herkunft - Lesungen seiner Freunde, die gleich ihm, irritiert von einer Vielzahl der Erscheinungsweisen moderner Gesellschaftsformen, versuchen, diese Irritation zu artikulieren. Das kindergartentantenähnliche Wohlwollen mußte in dem Augenblick umschlagen, in dem das anfängliche Publikum der Hofer Literaturtage sehen konnte, daß die Autoren in diesem Sinne keine braven Kinder sind, sondern durchaus sehr eigenwillige Gedanken und Vorstellungen entwickelten. Ein wirklich interessiertes Publikum aber stieß sich andererseits erklärlicherweise an den Darbietungsformen dieser Artikulationsversuche im Rathaussaal, im Haus der Jugend, im Katholischen Vereinshaus etc., weil sich gesellschaftliche Irritation, auch wenn sie nur sprachlicher Natur ist, und subventionierter Kulturbetrieb beziehungsweise gesellschaftliches Ereignis nicht zusammenbringen lassen."

H. Bebber in den "Nürnberger Nachrichten": "Alleiniger Nutznießer dieser Tage war das gebildete Bürgertum von Hof, das Poeten und kalte Platten mit gleichem Genuß verspeiste."

Henneberg: "Versuche, von der falschen Zielgruppe sich zu lösen, waren eine Lesung in der Fabrik, eine Ausstellungseröffnung auf der Straße, die allerdings aus verschiedenen Gründen nicht fortgeführt wurden."

Ich glaube allerdings, daß Henneberg es sich zu leicht macht, wenn er diese Versuche als Erfolg wertet. Gewiß, in der Fabrik und auf der Straße ist ein Publikum dagewesen. Die Leute haben halt, weil die Kunst zu ihnen kam, nicht einfach ausweichen können, sie haben sehen und hören müssen. Aber akzeptiert, so ist zu befürchten, haben sie nichts. Gerade in diesen Tagen hat man im "Spiegel" über eine Untersuchung lesen können, die ergeben hat, daß der sogenannte Mann von der Straße noch viel konservativer ist als der sogenannte Bürger der besseren Gesellschaft, daß er noch viel weniger bereit ist, sich für das Neue zu öffnen.

Henneberg weiter: "Ein abrupter Zielgruppenwechsel ist in einer so verfahrenen Situation nicht möglich. Unter anderem aus diesen Gründen halten wir eine Fortführung der Hofer Literaturtage für sinnlos, zumal ein neuerlicher Entschluß, mit der Literatur auf die Straße zu gehen, das Dilemma nur verschleiern würde. Die sinnvolle Konsequenz scheint dagegen eine Klausurtagung von Autoren, Kritikern und Publikum möglichst noch in diesen Jahr zu sein, die grundsätzlich die Widersprüche zwischen literarischem Artikulationsversuch und öffentlicher Rezeption zu klären versucht."

Man darf gespannt sein, was dabei herauskommt. Und man sollte hoffen, daß es nicht mit einem feierlichen Begräbnis der Hofer Literaturtage endet.

Zur gegenwärtigen Situation ein paar Stimmen von auswärts:

Jörg Drews in der "Süddeutschen Zeitung": "Man hätte die Stellung 'Literatur in der Provinz', wenn man's mit aller Gewalt gewollt hätte, auch halten können; Idealismus, ein paar Interessenten, ein Mäzen hätten sich schon noch gefunden. Aber das wäre dann privatistischer Trotz gewesen. Und man kann Henneberg auch verstehen, wenn er sich mit geringem Erfolg das ganze Jahr die Hacken ablaufen und den Mund fusselig reden muß, um mit gnädiger Billigung der Stadtväter im Herbst ein paar Literaten der Spitzenklasse einladen zu dürfen. Und da spielen dann schließlich auch atmosphärische Veränderungen eine Rolle: Die Stadt hat keinen SPD-Bürgermeister mehr, der noch Ernst Toller gekannt hat und Lesungen im Stadtratssaal wünschte, weil die Literatur so öffentlich sein solle wie die Politik; und wenn die Lokalpresse obendrein noch berichtet, es habe 'Claus Brehm' (statt Claus Bremer) gelesen, und zwar 'engagierte Texte' (statt 'engagierende Texte'), dann kann einem schon die Lust vergehen."

H. Bebber in den "Nürnberger Nachrichten": "Es gibt zu denken, daß in einer Stadt mit mehreren höheren Schulen kein einziger Deutschlehrer zu den Lesungen erscheint, in denen sich der Weg der Literatur abzeichnet."

Eine Anmerkung: Zwei oder drei junge Lehrer sollen denn doch dagewesen sein.

Harald Gröhler im Kölner Stadt-Anzeiger": "Wohin es mit den Hofer Literaturtagen gekommen ist, dafür liefert der Autor Ludwig Harig Vergleichsmaßstäbe: 1966 hatte er 280 Leute im Saal. Diesmal hörten ihm 47 zu. Und die 47 aufgeschlüsselt: der Veranstalter selbst, seine Frau, seine Tochter, sein Schwager mit Angehörigen, als Fabrikbesitzer der Hauptmäzen, die anderen Autoren-Kollegen, der Übersetzer Perecs, die Buchhandlungs-Stifte, die hier verkaufen sollten, vier Presseleute teils mit Familienanhang, der Kulturbund-Vertreter plus Frau. Und so weiter. Anzahl der Leute, die ohne solche Ingroup-Bindungen gekommen waren: nicht mehr als fünf."

Rainer Wagner in der "Saarbrücker Zeitung": "Literatur als Provokation? Nur gut, daß es Provinzstadträte gibt, die sich so verhalten, wie man es von Provinzstadträten erwartet: provinziell."

Wer noch wissen will, was bei den Tagen für "neue literatur in hof 1970" los war, dem sei kurz erzählt:

Am Eröffnungsabend präsentierte Reinhard Döhl, Akademischer Rat aus Stuttgart, "visuelle Poesie" - Poesie zum Anschauen. Die Ausstellurg in der Galerie Bootshaus machte Spaß: Zerschnipselte Kataloge, unentzifferbare Briefe, Spiegel-Gedichte und Buchstabenbilder stellten den vertrauten Umgang mit der Sprache in Frage. Amüsantestes der 47 Ausstellungsstücke: ein Apfel, in dem der Wurm ist - buchstäblich, denn aus nichts anderem als den Wörtern "Apfel" und "Wurm" besteht die Lesefrucht. Zur Eröffnung der unkonventionellen Schau stellte Döhl per Tonband sein Sprechstück "Man" vor, das virtuos mit der Sprache umgeht, den Phrasendrusch aufs Korn nimmt und den Zuhörern die alltäglichen Sprachklischees förmlich um die Ohren schlägt.

Eine Sternstunde hatten die Literaturtage, als der Theatermann und Schriftsteller Claus Bremer kommentierte Poesie las. Seine Montagetexte fordern den Leser auf, aktiv mitzumachen, die Sprache zu benutzen, sich in ihr auf Entdeckungsreise zu begeben. Was er erreichen will, erklärte Bremer so: "Konkrete Poesie lädt den Leser zu sich selber ein." Es gelte, "selbst in den fremdesten Texten den eigenen Text zu entdecken".

Ein weiterer Höhepunkt war eine Lesung des 43jährigen Saarländers Ludwig Harig. Da kreischte das Publikum vor Vergnügen über eine herrliche literarische Clownerie. Harig las aus seinem entstehenden Roman "Familienähnlichkeiten", dessen Geschehen nicht mitten aus dem Leben, sondern mitten aus der Sprache gegriffen ist. Ionescos klassisches absurdes Stück "Die kahle Sängerin" gehört zu den Vorbildern des Werks, dessen baldige Veröffentlichung zu wünschen ist.

Vergnügen bereitete auch der Franzose Georges Perec, der Auszüge aus Erzählungen las und dann sein Stereo-Hörspiel "Die Maschine" vorführte. Ein Computer spielt die Hauptrolle; er nimmt Goethes berühmtes Gedicht "Über allen Gipfeln ist Ruh" auseinander, verändert und verdreht es auf aberwitzige Weise. Allen
Permutationen ist eines gemeinsam: die Poesie, deren "inneren Mechanismus" das Hörspiel aufzeigen will.

Zum Abschluß konnte man einen Vorläufer der modernen Sprach-Artisten kennenlernen. Auf einem Tonband sprach der in Vergessenheit geratene expressionistische "Malerdichter" Otto Nebel seine in den zwanziger Jahren entstandene Dichtung "zuginsfeld". Sie setzt an bei der Sprache eines Systems, das Menschen organisiert, um Krieg zu führen. Sprachkritik und Systemkritik gehen Hand in Hand, mit Wortspielen werden Hiebe ausgeteilt, das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

Talentproben gaben drei Nachwuchs-Autoren ab. Der 32jährige Schönwalder Harald Gröhler las heiter-hintergründige Miniaturen und einen Text über fränkische Kumpels, eine Mischung aus Erzählung, historischem Abriß und Essay. Michael Benke aus Münster, der seine Kindheit in Selbitz verbrachte, stellte sich mit Auszügen aus einem Kurzroman vor, und der aus Haßlach im Frankenwald stammende, sehr begabte Gabbo Mateen löste mit prächtig bösen Satiren eine Diskussion aus, die in der Frage mündete: Was ist moderne Literatur und was will sie?

Über diese Frage hätte man bei der "neuen literatur in hof" wohl öfter reden müssen. Daß sie kaum zu beantworten ist, versteht sich. Verschiedene Autoren haben verschiedene Ansatzpunkte. Claus Bremer immerhin verstand es, seine Ansätze klarzumachen.

Reinhard Döhl in einem Statement: "So legitim es ist zu fragen, was Literatur eigentlich sei, so illegitim scheint mir die Dummheit der Frage: Was solls? Karl Marx hat geschrieben, daß der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache übersetzt, aber den Geist der neuen Sprache sich nur angeeignet hat und frei in ihr zu produzieren vermag, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt. Die Klausurtagung würde zu fragen haben, wieweit das Hofer Modell sowohl den Autor als auch das Publikum in diesem Sinne als Anfänger ausweist."

Man sollte versuchen, weiter miteinander und voneinander zu lernen.


[kulturwarte. nordostoberfränkische monatsschrift für kunst und kultur, Jg 16, h. 12, Dezember 1970]