Neben "Der Tod des Vergil" von Hermann Broch, "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musl ist Hans Henny Jahnns Roman-Trilogie "Fluß ohne Ufer" fraglos den bemerkenswerten Beiträgen deutschsprachiger Epik im 20. Jahrhundert zuzurechnen. Alle drei Autoren waren zu Lebzeiten wenig bekannt, Jahnn ist es eigentlich heute noch nicht, und ihre Meisterwerke sprachen sich allgemein erst nach ihrem Tode herum. Hier ist nun der dritte und band der Jahnnschen Trilogie anzuzeigen, der unter dem Titel "Epilog" und als Fragment aus dem Nachlaß von Walter Muschg herausgegeben und mit einem lesenswerten Nachwort versehen wurde.
Schon 1929 hatte der inzwischen neu aufgelegte Roman "§Perrudja" den Blick einiger Literaturkritiker und -kenner auf den Epiker und nicht ganz zu Unrecht vom Dramatiker Jahnn weggelenkt. In einem interessanten Essay über Jahnn stellte Edgar Lohner fest, daß eine Zuordnung Jahnns zum Expressionismus fraglich und daß dem Erzähler Jahnn mehr Aufmerksamkeit zu schenken sei (Expressionismus. Heidelberg 1956, S. 314 ff.). An einer Zuordnung zum Expressionismus hatte man ja auch bei Musils "Verwirrungen des Zöglings Törleß" gedacht, doch entziehen sich "Der Mann ohne Eigenschaften" als die Trilogie "Fluß ohne Ufer" einer daraus resultierenden Deutung, vielmehr lassen sich die Aspekte des literarischen Einzelgängers geltend machen. Der endlose Roman wird konzipiert und in beiden Fällen als Fragment hinterlassen. Hans Henny Jahnn konnten außer an noch zu Lebzeiten vorabgedruckte Passagen keine verbessernde Hand mehr an den "Epilog"-Text anlegen. Einzelne Kapitel brechen ab. Der Anhang gibt einzelne Fragmente und Entwürfe. Das schon erwähnte Nachwort Walter Muschgs leistet behutsame Lotsendienste.
Hans Henny Jahnn schließt den Epilog dort an, wo "Die Niederschrift des Gustav Anias Horn" abbricht, und kehrt zum chronologischen Stil d3es ersten Teile ("Das Holzschiff") zurück. Berichtet wird das Geschehen, das durch die Nachricht von Horn Tod in Fastaholm ausgelöst wird, berichtet wird die Geschichte von Horns Sohn Nikolaj. Ajax von Uchri, der Mörder Horns, kehrt nach Fastaholm zurück und übernimmt die Rolle Tuteins, um nicht entdeckt zuwerden, aber auch Nikolaj gegenüber, dem er sich unterwirft und so eine künstlerische Entwicklung ermöglicht, wie sie der echte Tutein seinerzeit dem Musiker Horn ermöglicht hat. Ajax nimmt die Rolle Tuteins dabei so überzeugend ein, daß der Leser dessen wahre Existens zu vergessen Gefahr läuft. Jedoch resultiert das nicht aus dem schriftstellerischen Unvermögen Jahnns, vielmehr scheint es in der Gesamtkonzeption der Trilogie zu funktionieren, indem sich einerseits gewissermaßen der Ring des Geschehens schließt, andererseits es uferlos so weitergehen könnte (also entsprechend dem Gesamttitel: Fluß ohne Ufer). Die heidnische Terminologie Jahnns ist auch in diesem Nachlaßband evident: Vorsehung, Schicksal, Zufall u.a. Schon Horn erkannte ja in seiner "Niederschrift", "daß das Schicksal das Gesetz der Wiederholung ist, sie scvheinbar sinnlos immer wieder kehrt, bis sich eine Schuld aufgelöst hat" (W. Muschg). Manches der alten nordländischen Sagas scheint unterschwellig mitzulaufen.
Jahnnkenner Muschg hat in seinem Nachwort den dankenswerten Versuch einer Interpretation und Einordnung des "Epilogs" in den Gesamtrahmen der Trilogie unternommen, was wegen der philologischen Behutsamkeit zu erwähnen und dem Leser als Vorlektüre zu empfehlen ist. Im Nachwort werden überdies auch noch editorisch wichtige Angaben zum Zustand des Manuskripts, gelegentlichen Eingriffen des Herausgebers u.a. gemacht. Allerdings können wir der abschließenden Feststellung Walter mMuschgs, der "Epilog" wirke "auch nach auf des Notwendigste beschränkten Retuschen noch unausgefeilt genug" nur bedingt zustimmen, entspricht doch die Tatsache des Bruchstücks unseres Erachtens auch der Gesamtkonzeption, werden so doch doe notzwendig stilistischen Mängel, das Fragmentarische und nicht Ausgefeilte zu einer in diesem Zuasammenhang wesentlichen ästhetischen Komponente. Es handelt sich um Abbrüche und Unzulänglichkeiten eines Epilogs eines Meisterwerks.
[Die Kultur, 1961]