Ausstellungen bestimmen das Gesicht einer Galerie. Und es sieht so aus, als ob sich das Kunstkabinett Bacher mit der Zeit vor allem auf das Thema der Landschaft konzentrieren, seinen Freunden anschaulich demonstrieren will, in welcher Breite ein scheinbar unaktuell gewordenes Thema nicht nur modern, sondern höchst aktuell ist. Beginnend mit der Ausstellung der "Farblandschaften & -ereignisse" Ulrich Zehs, über die Landschaftsprojektionen Hans Schreiners, die sublimierten Landschaften Helmut Schusters zu den Landschaftsausschnitten Manfred Kärchers hat das Kunstkabinett Bacher innerhalb eines knappen Jahres eine Vielfalt dessen angeboten, was die künstlerische Auseinandersetzung mit Landschaft gerade heute wieder spannend macht.
Aus dem sinnlichen Erleben der Natur, hatte Wilhelm Gall im März dieses Jahres pointiert, komme Helmut Schusters Landschaftsmalerei, die sich - so Gall - weder mit der realistischen Wiedergabe der Landschaft noch mit einer impressionistischen Fixierung des stimmungsvollen Augenblicks begnüge, sondern den äußeren optischen Eindruck durch das innere Gefühl und durch die Kontrolle der Reflexion zum Typischen verdichte. Kann man - wie Gall - die Landschaftsbilder und -gouachen Helmut Schusters als Inbilder von Landschaft bezeichnen, entfernen sich die Arbeiten Ulrich Zehs von ihrem Ausgangspunkt, entwerfen die Arbeiten Hans Schreiners ideelle Landschaften. Geht Ulrich Zeh, hatte ich anläßlich der Schreiner-Ausstellung im Oktober letzten Jahres zu unterscheiden versucht, geht Ulrich Zeh von (fotografierten) realen Landschaften aus, die sich im Atelier zu Farblandschaften abstrahieren, schreibt Ulrich Zeh seinen Farblandschaften und -ereignissen Strudel und Untiefen ein, um das Trügerische vermeintlicher Idyllik zu signalisieren, verfährt Hans Schreiner praktisch umgekehrt. Denn seine Landschaften entstehen ausschließlich im Atelier aus abstrakt-materialen Malvorgängen. Und sind als Ergebnis dieser Malvorgänge eher landschaftliche Ideation.
Wiederum ganz anders erscheint Landschaft auf den Fotolithografien Manfred Kärchers, die den Landschaftradierungen Ulrich Zehs durchaus nicht unverwandt sind, sich jedoch von Ulrich Zehs Landschaftszeichnungen und -bildern entschieden entfernen durch die - gemessen an der Freiheit von Farbstift und Malpinsel - eingeschränkten technischen Bedingungen.
Manfred Kärchers Inhalte sind, den Titeln der hier ausgestellten Arbeiten ablesbar, Landschaften der Bretagne, Kanadas, Jugoslawiens, Schottlands, Wales', der Türkei oder Spaniens. Und es sind Landschaften in Ausschnitten, die ein Tourist so nie wählen und belichten würde. Sie sind typisch und werden im gewählten Ausschnitt zugleich in einer Weise abstrakt, die sich dem Betrachter zu einer Urlandschaft zwischen dem zweiten und dritten Schöpfungstag synthetisiert. Man kann es aber auch anders ausdrücken und sagen: es sind Landschaften noch oder schon wieder ohne den Menschen, von dem in ihnen nicht einmal die Spur zu finden ist. Selbst ihr gelegentlicher Pflanzenbestand wirkt ausgesprochen leblos, hat allenfalls eine für das Bildganze strukturelle Funktion.
Dieser Abstraktion entspricht die von Manfred Kärcher bevorzugte Reduktion auf Stein und Wasser in ihrer wechselseitigen Bedingtheit. Der Stein (das Ruhende, das Statische) setzt dem Wasser (dem Bewegten, dem Dynanischen) Widerstand entgegen. Das Wasser (das Bewegte, das Dynamische) zerstört den Stein (das Ruhende, das Statische). Aber auch anderes wird sichtbar: unruhige oder sich beruhigende, scheinbar beruhigte Wasserfläche; bizarr gehäufte, bedrohlich gefaltete Felsen, Felswände, von denen Wasser herabstürzt, womit auch in der Vertikalen das Wechselspiel beginnt, das ich für die Horizontale bereits skizziert habe.
In diesem Wechselspiel erscheinen die Steine oft in zufälligen Formen oder Formausschnitten, die den Betrachter das eigentlich Materiale immer mehr vergessen lassen, die ihn zunehmend Organisches, Körperliches assoziieren lassen. Und diese organischen Formen erinnern gelegentlich sogar an Plastiken Hans Arps, vor allem an jene, die Hans Arp wieder in die Natur aussetzen wollte, überzeugt, sie würden sich natürlich in die Natur einfügen und erst bei genauerem Hinsehen erkennen lassen, daß sie von Menschenhand geformt seien.
Ein kleines Bruchstück einer meiner Plastiken, an der mich eine Rundung, ein Gegensatz reizt, beschrieb Arp ihre Entstehung, ist oft der Keim einer neuen Plastik. Ich verstärke die Rundung oder den Gegensatz. Neue Formen sind dadurch bedingt. Unter den neuen Formen wachsen zwei besonders stark. Ich lasse diese zwei weiterwachsen, bis die ursprünglichen Formen nebensächlich und beinahe ausdruckslos geworden sind. Schließlich unterdrücke ich eine der nebensächlichen ausdruckslosen, damit die übrigen wieder sichtbarer werden.
Eine solche Kunst nannte Arp konkrete, gelegentlich auch elementare Kunst, und er verstand darunter eine Kunst, die nicht abbilden sondern bilden wollte. Die nicht die Natur nachahmen, sondern wie die Natur bilden sollte. Und dies nicht mittelbar sondern unmittelbar.
Das aber ist zugleich der zentrale Unterschied zwischen den von Kärcher in der Natur vorgefundenen Steinformen und den in die Natur ausgesetzten geformten Steinen Arps. Waren letztere unmittelbar wie die Natur gebildet, zeigen Manfred Kärchers Fotolithografien, welche Steinformen die Natur unmittelbar bildet. Handelt es sich im Falle Hans Arps um in der Natur ausgesetzte definite Formen, sind die von Manfred Kärcher in der Natur gefundenen Formen indefinite Zustände eines Prozesses, aus dem die Kamera einen augenblicklichen Moment herausgelöst hat, dem jetzt die Fotolithografie Dauer verleiht, wobei sich der gezeigte Gegenstand und seine Präsentation gleichsam tautologisch entsprechen. Denn Manfred Kärcher präsentiert die gefundenen Steinformen mit Hilfe der Zinklithografie, die im Grunde nichts weiter ist als eine Varietät der klassischen Lithographie, des Steindrucks.
Ein derartiges Zusammentreten von Gegenstand und Präsentation, von Stein und Steindruck, von Kunstgegenstand und Kunstmittel ist kein Zufall, wenn man die Biographie Manfred Kärchers in Anschlag bringt. Manfred Kärcher ist nämlich zunächst als Reproduktionsfotograf ausgebildet worden und lehrt heute - nach einem Studium an der Ingenieurschule für Druck in Stuttgart - als Dozent für Satz, Druck und Reproduktion an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. Und dieses Fach schließt einige ästhetische Fragen ein, auf die Walter Benjamin in seiner "Kleinen Geschichte der Fotografie" (1931) und dem berühmteren Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936) als erster nachgedacht hat. Benjamins Überlegungen ordnen die Fotografie dabei ein in die Geschichte der Reproduktionstechniken, in der mit der Lithografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Stufe [...] erreicht werde.
Ihr viel bündigeres Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheide, habe der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Grafik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum erstenmal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte.
Die Degeneration vom Landschaftsbild zum -stich, von der lithografierten Landschaft der Illustrierten, dann der Ansichtskarte, dem Ferienfoto und -film illustrieren für einen Fall Benjamins historische Skizze. Zugleich verhalten sich die Fotolithografien Manfred Kärchers hier gleichsam rückläufig:
1. in der Verbannung des
Menschen aus der Ferienlandschaft,
2. in der unüblichen
Präsentation von Landschaft und
3. in der historisch älteren
Reproduktionstechnik.
Zugleich öffnen sie die Perspektive auf einen von Walter Benjamin übersehenen oder nicht weiter beachteten Berührungspunkt zwischen Steindruck und Lichtbild in der Geschichte der Fotografie. 1816 begann nämlich Joseph Nicéphore Niepce in der Absicht, Lithografien mechanisch herzustellen [...], mit fotografischen Versuchen auf Chlorsilberpapier.
Ich darf im folgenden einer neueren Enzyklopädie folgen und fortsetzen, daß Niepce nach Scheitern dieser Versuche dazu überging, dünne Bitumenschichten zu verwenden, die durch Licht erhärten und deren unbelichtete Teile in Terpentinöl löslich sind. 1822 gelang ihm auf Glas eine heliografische Reproduktion eines Stiches im Kontaktverfahren. In den folgenden Jahren machte er heliografische Versuche auf lithografischem Stein und auf Metall (Zinn, Zink und versilberte Kupferplatten); für den Papierabzug benötigte Niepce Metallplatten, die sich ätzen ließen und von gewisser Härte waren. 1826 gelang ihm die erste befriedigende Kameraaufnahme (der Hof seines Landhauses) auf Zinn bei etwa acht bis zehnstündiger Belichtung. Im gleichen Jahr entstand im Kopierverfahren die einzige Heliografie, die er von Augustin François Lemaître ätzen ließ und von der zwei Drucke gezogen wurden. Niepce wurde somit 1826 zum Erfinder der Fotografie und des ersten fotomechanischen Reproduktionsverfahrens.
1974 - also knapp 150 Jahre später, beginnt Manfred Kärcher mit seinen ersten Fotolithografien zu experimentieren, treten Foto- und Lithografie, deren Wege sich nach den Versuchen Niepce's getrennt hatten, wieder zusammen, bekommen ein Produktionsschritt und ein Produktionsvorgang, die in der Entwicklungsgeschichte der Fotografie lediglich experimentellen Wert hatten, ihren ästhetischen Sinn. Indem er die Entwicklung der Reproduktionstechniken praktisch umkehrt, gelingt Manfred Kärcher der produktive Schritt von einer Reproduktionstechnik, der Fotografie zur Grafik.
Wie konsequent dieser Schritt, wie ernst Manfred Kärcher diese Experimente waren, belegen eindrucksvoll die diesjährigen Arbeiten. Denn sie erheben in ihrer Verbindung von lithografisch umgesetztem Fotofragment und fast tachistisch anmutenden Farbflächen und -flecken, von Realitätszitat und ästhetischer Realität so eindeutig grafischen Anspruch, daß ein früheres Mißverständnis sich jetzt völlig ausschließt: Manfred Kärchers Fotolithografien seien immer noch mehr Foto als Grafik. Daß sie dieses nie waren, sondern ein erster konsequenter Schritt vom Foto zur Graphik, habe ich mit meiner Einführung deutlich machen wollen. Wie konsequent dieser Schritt war und in welche Richtung er zielte, lassen, sagte ich, die neuen Arbeiten jetzt unmißverständlich ablesen. Wichtig dabei ist, daß es auch bei diesen Lithografien, also Steindrucken wiederum der Stein ist, der Manfred Kärcher als Gegenstand interessiert. Diesmal nicht mehr der von der Natur geformte Stein, sondern der von Menschenhand gestaltete, nicht Landschaft, sondern Architektur. Daß auch er, wenn auch nicht der natürlichen, so doch der zivilisatorischen Erosion ausgesetzt ist, wird im fragmentarischen Zitat deutlich. So bestätigen die neuen Arbeiten, was bereits die frühen Fotolithografien enthielten, eine Melancholie, die allen Arbeiten Manfred Kärchers eigen ist, gleichgültig, ob es sich um eine Landschaft noch oder schon wieder ohne Menschen handelt, um ein altes lykisches Grab oder einen romanischen Flötenbläser, an dem Auspuffgase und saurer Regen nagen. Es ist das Moment der Vergänglichkeit, dem Manfred Kärchers Arbeiten Dauer zu verleihen versuchen.
[Kunstkabinett Bacher Horb a.N., 17.5.1987]