Im Februar 1964 schrieb Haroldo de Campos über die Malerei Kirchbergers, speziell seine 1963/64 entstandenen dialektischen Bilder:
Was mich bei den Bildern G. C. Kirchbergers von Anfang an beeindruckte, war das klare Konzept des dialektischer Prozesses in der Entwicklung seiner Malerei. Sie ist zunächst eine Konfliktmalerei. Auf der einen Seite der Konflikt zwischen Licht und Farbe, auf der anderen Seite ein suprematistisches Empfinden für Leere, leere Fläche, Raum innerhalb eines Raums in Richtung des Umraums. Dann gibt es den Konflikt zwischen den, was Kirchberger Bildumraum (surrounding) und Bildereignis (happening) nennt, zwischen geometrischem Modell und der dialektischen Negation dieses Modells durch freie malerische Geste. Diesem Konflikt sind andere untergeordnet, denn diese Malerei baut sich notwendigerweise auf einer Vielzahl von Konflikten auf. So bilden exakte geometrische Formen einen Kontrapunkt zu anderen Formen aus freier Hand. Ferner gibt es Dialoge oder Zwischenspiele verschiedener Materialstrukturen: innerhalb einer klar angesetzten Form erscheint oft halb verschleiert die Andeutung einer anderen und - oder - klare monochrome Flächen treten mit anderen in ein kontrapunktisches Verhältnis, wobei die Farbskala mit äußerstem Finqerspitzengefühl variiert und differenziert wird. Diese Eigenart, die wir in Kirchbergers Malerei finden, ist vielleicht auch der Ausgangspunkt zu seinen Experimenten mit Grafik-Text-Intergrationen, die in Zusammenarbeit mit einem jungen Autor entstehen. Aber es muß ebenso der Wille zur Konstruktion herausgestellt werde, der in Kirchbergers formaler Vorstellungswelt vorhanden ist, und der auf eine nichtdiskursive Materialität der malerischen Fakten zielt. Für ihn bedeutet ein Triptychon nichts als die Zahl 3. Und so kann er ein Triptychon malen, indem Farbe und Form, entsprechend der simplen Grundidee: 3 = 3, seriell gehandhabt werden. Bei den neuesten Arbeiten Kirchbergers kann man sehen, daß das Moment der Konstruktion, des disziplinierten Bewußtseins schrittweise die informelle organische Geste zu überwiegen beginnt: der Maler ist dabei, eine dritte Phase seiner dialektischen Malerei zum Abschluß zu bringen.Die Zunahme dieses Moments der Konstruktion entspricht Kirchbergers künstlerischer Tendenz, auf seinen Bildern etwas sichtbar zu machen, nicht Gefühlsimpulse zu vermitteln, vielmehr etwas zu zeigen, das der Betrachter rational nachvollziehen soll. Das führte 1965/64 konsequenterweise zur Versachlichung der Syntax, zur Reduktion der Farbskala auf ungebrochene Töne, zur Beschränkung auf einfache, banale (geometrische Formen wie Kreis, Halbkreis, Bogen, Band, Balken, Rechteck, Dreieck usw. Damit aber hat Kirchberger zugleich auch das andere Extrem zu seinem malerischen Ansatzpunkt erreicht. Wenn ich hier noch einmal daran erinnere, daß sein malerischer Einsatz verstanden werden kann als eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Farbe (und weniger mit dem Problem der Form), so beobachtet man auf den Bildern der letzten Zeit genau das Gegenteil. Nicht mehr die Farbe determiniert die Struktur und in der Folgezeit also die Form, sondern genau umgekehrt: die Form determiniert die Farbe. Die emotional bestimmte Farbqualität noch der dialektischen Bilder bis 1963/64 spielt für Kirchberger jetzt keine Rolle mehr. Dieser Verzicht auf die Möglichkeit vager, unkontrollierbarer Emotionen wird nun aber nicht etwa durch einen metaphysischen Überbau sozusagen von hinten herum wieder aufgehoben, wie z.B. historisch bei den vergleichsweise interessanten Arbeiten von Mondrian, Arp, Taeuber-Arp, aber auch von Malevitsch, die etwa - um Arp zu zitieren - Sinnbilder für das göttlich gebaute Geschäft, geistige Übungen, Exerzitien, Meditationstafeln, Mandalas, Wegweiser sein sollten in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit. Es geht Kirchberger gerade nicht um eine solche mystische Wirklichkeit, auch nicht - um Mondrian zu zitieren - darum, reine schöpferische Schönheit zu offenbaren. Kirchbergers neue Bilder sind mögliche Konstellationen aus Form und Farbe, aus farbigen Formen. Form und Farbe haben für ihn keinen emotional indifferenten, mystisch vagen Beigeschmack, sie stehen um ihrer selbst willen und vermitteln ihren ästhetischen Reiz durch ihre jeweilige Konstellation Das wird ganz deutlich, wenn man an die letzten Arbeiten Kirchbergers, an die sogenannten Spiel- und Do-it-yourself-Bilder denkt. Die aus zwei und mehr Teilen zusammengesetzten Spielbilder können z.B. vom Betrachter neu und anders geordnet werden, ihre Konstellation ist jeweils veränderbar zu neuen Konstellationen. Sie besteht gewissermaßen aus ästhetisch vorgeformten Bausteinen, mit deren sich der Betrachter die mit einer vorgegebenen Syntax (Farb- und Formkonstellation der einzelnen Bausteine) möglichen, ästhetischen Welten (Konstellationen) selbst zusammensetzen kann Der Betrachter wird zum Mitspieler. Ahnlich verhält es sich mit den Do-it-yourself-Bildern, bei denen Teile des Bildes, Farbkomplexe oder besser Farbformen nur unvollständig, als Leerform vorhanden sind, in der die Farbe durch den eingedruckten Worthinweis ersetzt ist. Hier wird der Betrachter provoziert, in die Leerstelle des Bildes einzutreten, die ihm der Maler hinterlassen hat, ja er könnte das Bild sogar realiter weitermalen. Um es im Extrem zu verdeutlichen: Es ist der Fall vorstellbar, wo der Maler nur noch die für eine Konstellation ihm erwünschte Syntax (Formen und Farben) angibt, wo die endgültige Konstellation aber dem mitspielenden Betrachter und seinen ästhetischen Vorstellungen und Entscheidungen freisteht. Eine Kunst dieser Art ist - weit entfernt vom tierischen Ernst ganzer Bereiche gegenwärtiger Malerei, aber auch weit entfernt von einer traditionellen Tendenz zum metaphysischen Überbau und mystischer Selbstinterpretation wesentlich zunächst ästhetisches Spiel. Sie ist konkretes 5piel in einem strikten Sinne. Daß sie es ansatzweise bereits bei den dialektischen Bildern der Jahre 1962/63 war, erklärt das Interesse Haroldo de Campos', des Theoretikers der südamerikanischen Konkreten, und er hat ja bereits angedeutet, daß diese dialektische Malerei auf dem Wege ist zur puren Konstellation, zum ästhetischen Spiel mit der Konstellation.
Aber noch etwas wäre zu Kirchhergers neuen Bildern anzumerken: wenn man bei den anfänglichen zugemalten Flächen ohne eindeutige Farbigkeit, der engen Struktur und beschrankten Chromatik der früheren Arbeiten Kirchbergers in der Terminologie der Gestalttheorie Christian von Ehrenfels' von Gestaltung im Sinne von Struktur sprechen würde, könnte man bei den späteren Arbeiten Kirchbergers - ebenfalls in der Terminologie Ehrenfels' - von zunehmender Reinheit als dem Prinzip ästhetischer Produktion sprechen und von den letzten Arbeiten gar als Demonstrationen dieses Prinzips so sehr, daß man weiter fragen könnte, ob Bilder dieser Art nicht beliebig herstellbar seien von irgendjemand, der die Technik hat und die Regeln kennt. Daß diese Frage umso leichter zu stellen ist, je festgelegter, je kalkulierbarer Farbe, Form und ihre Konstellationen sind, liegt auf der Hand. Das macht aber deutlich, daß die bisherige Vorstellung vom Original in der bildenden Kunst nicht mehr gilt. An Stelle der traditionellen Fiktion vom Bild als einem originalen einmaligen Gebilde tritt die Erfindung von Mustern oder Modellen möglicher ästhetischer Konstellationen. Man könnte Kirchberger so als einen Erfinder von Mustern und Modellen bezeichnen, der seine Bildinhalte auf kalkulierte geometrische Formen, Figuren und Linien, die farbig sind, reduziert hat. Jedoch dürfen die unter dem Gesichtspunkt der Reinheit so konstruierten Muster oder Modelle um ihrer ästhetischen Botschaft willen die vorstellbare Grenze der Reinheit nie erreichen. Vermutlich auch deshalb provoziert Kirchberger den Betrachter zum Mitspielen, indem er ihm entweder eine Leerstelle hinterläßt, wenn die Do-it-yourself-Bilder nicht fertig gemalt sind, unvollständige Stellen enthalten oder indem auf der anderen Seite die Konstellation der Spielbilder nicht einmalig ist, sondern veränderbar, offen der Entscheidung des Betrachters überlassen bleibt. Die Leerstelle also, das mög1iche Spiel zeichnen vor allem die konkrete Malerei Kirchbergers ästhetisch aus, bilden sozusagen ihre wesentlichen Spielregeln. Sie sind Spielregeln einer Kunst, von der Max Bill gesagt hat, sie diene der Erzeugung von Gegenständen zum geistigen Gebrauch. Die Arbeiten dieser Ausstellung mit ihren Konstellationen elementarer Polyqone sind solche Gegenstande.
Und noch ein Letztes muß zu dieser Ausstellung gesagt werden. Die heutige Kunstkritik neigt gerne zu zwei scheinbar unausrottbaren Fehlern: sie unterschlägt die historische Rückgebundenheit des Kunstwerks; und sie spiegelt eine jeweilige Phase künstlerischer Entwicklung nicht auf dem Gesamtrepetoire des Künstlers, beides ist aber als Koordinentensystem notwendig, um den ästhetischen Ort eines Künstlers einzusehen und abzustecken. Was den historischen Ort Kirchbergers anbetrifft, so sagte ich, daß ihn sein Verzicht auf einen metaphysischen Überbau von den vergleichbaren Tendenzen der Zwanziger Jahre deutlich abhebt. Auch war die damalige konstruktive Malerei noch nicht auf Muster oder Modelle möglicher ästhetischer Welten, sondern immer noch auf originale Kunstwerke aus. Selbst bei der erheblich sachlicheren Gruppe der "abstrakten" in Hannover begegnete ja bekanntlich die konstruktivistische Vision von der Harmonisierung der Welt, einer konstruktiven Verbindung von Wahrheit, Klarheit und Schönheit; - eine Vorstellung, die heute etwa bei den einer sogenannten Malerei des Hard-edge zugerechneten Veteranen bevorzugt noch anzutreffen ist (vgl. den Katalog der qleichnamigen Ausstellung in der Galerie Denis René, Juni-Oktober 1964). Gewiß steht Kirchberger in dieser Tradition. Aber seine gegenwärtigen Arbeiten sind keine Illustrationen mystischer Vorstellungen mehr, seine Bilder bedeuten nichts außerhalb ihrer selbst. Sie sollen nur zeigen, was auf ihren drauf ist, mit ihren Konstellationen mögliche ästhetische Welten sehbar machen, die nur um ihrer selbst willen und ohne zusätzliche Weltanschauung da sind, als Gegenstände zum geistigen Gebrauch. Als Anregung zum ästhetischen Spiel, als intellektuelle Herausforderung des Betrachters.
Auf der anderen Seite wird man diese Ausstellung nun nicht so verstehen dürfen, als habe Kirchberger mit diesen Bildern jetzt den Stein der Weisen gefunden, als bildeten sie das Nonplusultra seiner Malerei, als seien sie ihr chef d'oeuvre. Wo in einer malerischen Entwicklung das wirkliche Chef d'oeuvre vorliegt, läßt sich immer erst retrospektiv entscheiden, wenn ein Lebenswerk abgeschlossen ist. So gesehen erscheinen die Bilder dieser Ausstellung als Demonstration einer Phrase der künstlerischen Entwicklung Kirchbergers. Es läßt sich vielleicht die Vermutung anknüpfen, daß Kirchberger mit diesem Schritt in die pure Konstruktion, mit seiner Lösung des Problems einer konkreten Malerei das andere Extrem seines Malstils, seiner Möglichkeiten gefunden und damit sein Repertoire endgültig abgesteckt hat. Man sagt, daß die Arbeiten eines Künstlers bis etwa zu seinem vierzigsten Lebensjahr der Vergewisserung seines Repertoires und der Entwicklung neiner eigenen ästhetischen Grammatik und Syntax dienen. Es scheint, als habe Kirchberger in der Tat sein Repertoire weitgehend abgesteckt, seine Grammatik und Syntax entwickelt. Doch ist hier nicht der Ort, einen lückenlosen Bericht seiner Entwicklung zu geben. Es war vielmehr nur meine Absicht, anzudeuten, mit welcher Beharrlichkeit und Konsequenz Kirchberger seine Möglichkeiten erprobt und sein Repertoire aufgebaut hat.
[Werkkunstschule Krefeld
1965 (Katalog); Nachdrucke: Katalog Galerie Geiger, 1978; Katalog Kulturamt
der Stadt Sindelfingen, 1981]
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