Ein seit 1963 auf den Bildern Günther C. Kirchbergers immer deutlicher auszumachender Moment der Konstruktion entspricht Kirchbergers Tendenz, auf seinen Bildern etwas sichtbar zu machen, nicht Gefühlsimpulse zu vermitteln, vielmehr etwas zu zeigen, was der Betrachter rational nachvollziehen kann und soll. Das führte 1963/1964 konsequenterweise zur Versachlichung der Syntax, zur Reduktion der Farbskala auf ungebrochene Töne, zur Beschränkung auf immer einfachere, schließlich banale (geometrische) Formen wie Kreis, Halbkreis, Bogen, Band, Balken, Rechteck, Dreieck usw. Damit hat Kirchberger zugleich das andere Extrem zu seinem malerischen Ansatzpunkt erreicht. Konnte sein malerischer Einsatz verstanden werden als eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Farbe (und weniger mit dem Problem der Form), so zeigen die Bilder der letzten Zeit genau das Gegenteil. Nicht mehr die Farbe determiniert die Struktur und in der Folgezeit also de Form, sondern genau umgekehrt: die Form determiniert die Farbe. Die emotional bestimmte Farbqualität noch der dialektischen Bilder bis 1963/964 spielt für Kirchberger jetzt keine Rolle mehr. Dieser Verzicht auf die Möglichkeit vager, unkontrollierbarer Emotionen wird nun aber nicht etwa durch einen metaphysischen Überbau sozusagen von hinten herum wieder aufgehoben wie zum Beispiel historisch bei den vergleichsweise interessanten Arbeiten von Mondrian, Arp, Taeuber-Arp, aber auch von Malevich, die etwa - um Arp zu zitieren - Sinnbilder für das göttlich gebaute 'Geschäft', geistige Übungen, Exerzitien, Meditationstafeln, Mandalas, Wegweiser sein sollten in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit. Es geht Kirchberger gerade nicht um eine solche mystische Urwirklichkeit, auch nicht - wie Mondrian - darum, reine schöpferische Schönheit zu offenbaren.
Kirchbergers neue Bilder sind mögliche Konstellationen aus Form und Farbe, aus farbigen Formen. Form und Farbe haben für ihn keinen emotional indifferenten, mystisch vagen Beigeschmack, sie stehen um ihrer selbst willen und vermitteln ihren ästhetischen Reiz durch ihre jeweilige Konstellation.
Das wird schnell deutlich, wenn man an die letzten Arbeiten Kirchbergers, an die sogenannten Spiel- und Do-it-yourself-Bilder denkt. Die aus zwei und mehr Teilen zusammengesetzten Spielbilder können zum Beispiel vom Betrachter neu und anders geordnet werden, ihre Konstellation ist jeweils veränderbar zu neuen Konstellationen. Sie besteht gewissermaßen aus ästhetisch vorgeformten Bausteinen, mit denen sich der Betrachter die mit einer vorgegebenen Syntax (Farb- und Formkonstellation der einzelnen Bausteine) möglichen ästhetischen Welten (Konstellationen) selbst zusammensetzen kann. Der Betrachter wird zum Mitspieler.
Ähnlich verhält es sich mit den Do-it-yourself-Bildern, bei denen Teile des Bildes, Farbkomplexe oder besser Farbformen nur unvollständig, als Leerform vorhanden sind, in der die Farbe durch den eingedruckten Worthinweis ersetzt ist. Hier wird der Betrachter provoziert, in die Leerstelle des Bildes einzutreten, die ihm der Maler hinterlassen hat. Ja, er könnte das Bild sogar realiter weitermalen, abschließen.
Um es im Extrem zu verdeutlichen: Es ist der Fall vorstellbar, wo der Maler nur noch die für eine Konstellation ihm erwünschte Syntax (Formen und Farben) angibt, wo die endgültige Konstellation aber dem mitspielenden Betrachter und seinen ästhetischen Vorstellungen und Entscheidungen freisteht. Eine Kunst dieser Art ist - weit entfernt vom tierischen Ernst ganzer Bereiche gegenwärtiger Malerei, aber auch weit entfernt von einer traditionellen Tendenz zum metaphysischen Überbau und mystischer Selbstinterpretation - wesentlich zunächst ästhetisches Spiel. Sie ist konkretes Spiel im strikten Sinne. Daß sie dies ansatzweise bereits bei den dialektischen Bildern der Jahre 1962/1963 war, erklärt nicht zuletzt das Interesse Haroldo de Campos, des Theoretikers der südamerikanischen Konkreten. Gerade er deutete ja bereits an, daß diese dialektische Malerei auf dem Wege sei zur puren Konstellation, zum ästhetischen Spiel mit der Konstellation.
Aber noch etwas möchte ich zu Kirchbergers neuen Bildern anmerken. Wenn ich bei den anfänglich zugemalten Flächen ohne eindeutige Farbigkeit, der engen Struktur und beschränkten Chromatik der frühen Arbeiten Kirchbergers in der Sprache der Gestalttheorie Christian von Ehrenfels' von "Gestatung" (im Sinne von Struktur) sprechen würde, könnte ich bei den späteren Arbeiten Kirchbergers - ebenfalls in der Sprache Ehrenfels' - von zunehmender "Reinheit als dem Prinzip ästhetischer Produktion sprechen und von den letzten Arbeiten gar von Demonstrationen dieses Prinzips. Und dies so sehr, daß sich fragen ließe, ob Bilder dieser Art nicht beliebig herstellbar seien von irgendjemand, der die Technik hat und die Regeln kennt. Daß diese Frage um so leichter zu stellen ist, je festgelegter, je kalkulierter Farbe, Form und ihre Konstellationen sind, liegt auf der Hand.
Das macht zugleich deutlich, daß eine traditionelle Vorstellung vom Original in der bildenden Kunst nicht mehr gilt, wenn an die Stelle der traditionellen Fiktion vom Bild als einem originalen einmaligen Gebilde die Erfindung von Mustern oder Modellen möglicher ästhetischer Welten (Konstellationen) tritt.
Man könnte Kirchberger heute als einen Erfinder von Mustern und Modellen bezeichnen, einen Erfinder ästhetischer Welten, der seine Bildinhalte auf kalkulierte geometrische Formen, Figuren und Linien, die farbig sind, reduziert hat. Allerdings dürfen die unter dem Gesichtspunkt der "Reinheit" so konstruierten Muster und Modelle, sollen sie nicht leer laufen, um ihrer ästhetischen Botschaft willen die vorstellbare Grenze der "Reinheit" nie erreichen. Vermutlich auch deshalb provoziert Kirchberger den Betrachter zum Mitspielen, indem er ihm entweder eine Leerstelle hinterläßt, wenn die Do-it-yourself-Bilder nicht fertig gemalt sind, oder indem auf der anderen Seite die Konstellation der Spielbilder nicht einmalig ist, sondern veränderbar, offen, der Entscheidung des Betrachters überlassen. Die Leerstelle also, ihr mögliches Fort-Spiel zeichnen vor allem die konkrete Malerei Kirchbergers aus, nennen ihre wesentlichen Spielregeln. Sie sind die Spielregeln einer Kunst, von der Max Bill gesagt hat, sie diene der Erzeugung von Gegenständen zum geistigen Gebrauch. Die letztjährigen Arbeiten Kirchbergers sind solche Gegenstände.
Die heutige Kunstkritik neigt zu zwei scheinbar unausrottbaren Fehlern. Sie unterschlägt die historische Rückgebundenheit jedes Kunstwerks, und sie spiegelt eine jeweilige Phase künstlerischer Entwicklung nicht auf dem Gesamtrepertoire des Künstlers. Beides ist aber als Koordinatensystem nötig, um den ästhetischen Ort eines Künstlers einsehbar zu machen. Was den historischen Ort Kirchbergers anbetrifft, so hebt sich seine heutige Malerei durch ihren Verzicht auf metaphysischen Überbau deutlich von den vergleichbaren Tendenzen der Zwanziger Jahre ab. Gewiß steht Kirchberger in dieser Tradition. Aber seine Bilder sind nicht Ausdruck mystischer Welten, sie bedeuten nichts außerhalb ihrer selbst. Sie wollen nur zeigen, was auf ihnen drauf ist, mit den vorgeschlagenen Konstellationen ästhetische Welten sehbar machen, die nur um ihrer selbst willen da sind, Gegenstände zum geistigen Gebrauch: Anregung zum ästhetischen Spiel, intellektuelle Herausforderung des Betrachters.
Werkgeschichtlich hat Kirchberger mit dem Schritt in die pure Konstruktion, seiner Lösung einer konkreten Malerei eine Gegenposition seines ursprünglichen Malstils, seines Ausgangspunktes bezogen. Man sagt gelegentlich, daß die Produktion eines Künstlers bis etwa zu seinem vierzigsten Lebensjahr der Entwicklung und Vergewisserung des eigenen Repertoires diene. Mir will scheinen, als habe Kirchherger in der Tat mit den Arbeiten der letzten Zeit sein Repertoire weitgehend abgesteckt, als könne seine Malerei jetzt eigentlich beginnen.
[Werkkunstschule Krefeld
01.06.1965]
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