Es gibt Ausstellungen, deren Gegenstände es dem Besucher leicht machen. Sie kommen ihm entgegen, er fühlt sich bald mit ihnen vertraut. Es gibt andere Ausstellungen, die es dem Betrachter schwerer machen, Zeit und Geduld fordern. Es sind dies meist "stille" Ausstellungen mit thematisch konzentrierten, oft asketisch anmutenden Arbeiten. Die Stuttgarter Ausstellung neuer Zeichnungen aus den Ägypten-Serien Günther C. Kirchbergers ist eine "stille" Ausstellung.
Bei Ausstellungen, die es dem Betrachter schwerer machen, darf man mit etwas Leichterem beginnen, mit der Anekdote z.B., wie Kirchberger im Februar 1981 am Heiligen See in Karnak auf einem Stein sitzt, den Skizzenblock auf den Knien, und nachdenklich auf den Komplex des Amun-Tempels, auf seine Säulenhallen, Pylone, Obelisken und Stelen schaut, in einer Architekturlandschaft, die schon Jean François Champollion, den Begründer der Ägyptologie, zu der Bemerkung hinriß, daß alles, was er sonst gesehen, was seine "Bewunderung und Begeisterung auf der linken Seite des Nils" erregt habe, "kümmerlich" erscheine "im Vergleich zu der Größe, die mich hier umgab. Niemals hat ein Volk der Antike oder der Neuzeit die Kunst der Architektur zu solch erhabenen, großzügigen und grandiosen Ausmaßen entwickelt, wie es die alten Ägypter taten."
Dieser großartigen Kunst- und Architekturlandschaft saß Kirchberger gegenüber, als sich ein Touristenpärchen aus dem Berner Oberland nähert. Nach kurzem Blick auf den Tempel und längerem Blick auf den untätigen Zeichner und seinen Skizzenblock entspinnt sich ein Gespräch, dessen Tempi und dialektale Feinheiten (Sprache des Berner Oberlandes dort, Kornwestheimer Schwäbisch hier) der Druck leider nicht wiedergeben kann. "Sind Sie Maler?" - "Hm." - "Dann brauchen Sie aber lange, dies alles zu malen." - "Ich male nicht." - "Was machen Sie dann?" - "Ich meditiere." - "Dann sind Sie ein Schriftsteller."
Dieser authentische Dialog enthält zwei bezeichnende Irrtümer. Zunächst die falsche Vorstellung, daß ein Maler etwas abbilde. Je mehr da sei, um so mehr müsse auf seinem Bilde wiederzuerkennen sein, wobei die persönliche Handschrift die Art der Wiedergabe bestimme. Irrig ist zweitens die Folgerung, Meditation
sei eine Vorstufe, Vorübung des Schriftstellers. Kirchbergers lakonische Antwort erschließt sich dagegen, wenn man Meditation als Betrachtung, (religiös motivierte) Versenkung begreift, die mit oder ohne Konzentration auf bestimmte Objekte geübt wird Ihr Ziel ist die "Entwerdung", d.h. das Ausschalten individueller Anliegen zugunsten der Erfahrung des Absoluten, von dem sich der Meditierende in Besitz genommen weiß. Aus Religion, Mystik und Philosophie bekannt, wird Meditation auch in der Psychotherapie angewandt.
Von dieser einem verbreiteten Nachschlagewerk folgenden Definition schlägt sich der Bogen leicht zu den Zeichnungen der Ägyptenserien Kirchbergers, zu den Skizzenbüchern und -blättern seiner Ägyptenreisen seit 1979. Beides wird in dieser Ausstellung gezeigt in einem Umfang, der hinreichend andeutet, daß der
Weg von den Skizzen (die Kirchberger "Überlegungen" nennt, aber auch erste Meditationsschritte nennen könnte) zur Zeichnung (die man vielleicht auch als Meditationsbild oder Mandala bezeichnen darf) nicht, wie üblich, von der Andeutung zur detaillierten Durcharbeitung führt, sondern umgekehrt etwas
Komplexes immer weiter zurücknimmt, alles Daseinszufällige ausklammert, bis schließlich - der meditativen "Entwerdung" vergleichbar - nur noch das übrig bleibt, was dem Künstler als das Wesentliche erscheint. Erst dieses erfährt seine Darstellung in der Zeichnung.
In Postkartengröße hat Kirchberger 1979 seine Ägypten-Serien begonnen und damit ein Format wieder aufgegriffen, das ihm vor rund 20 Jahren schon einmal zur Erprobung ästhetischer Lösungen diente. Bei den Ägypten-Serien hat diese Formatwahl einen zusätzlichen Sinn. Von ihren Reisen pflegen Touristen durch zahlreiche Ansichtskarten Kunde zu geben. Entsprechend signalisieren die Kunst-Postkarten Kirchbergers zunächst Reiseziele: Obelisken, Scheintüren, Stelen, Pylone, dann den Atem, den Hügel des Chepri, das mittlere Tor des Binsengefildes, den Weg des Rosetau, Memnon, das Tor des Westens, die Feuer der elften Stunde. Die Serien, zu denen sich diese Kunst-Postkarten in der Regel zusammenschließen, machen zweitens deutlich, wie verschieden man etwas sehen kann, daß es eine eindeutige Ansicht von etwas nicht gibt. Bereits in ihren Gegenständen, in ihrer Anordnung zur Serie verraten Kirchbergers Kunst-Postkarten drittens, daß seine Reiseziele anderer Art waren als die eines
normalen Ägyptentouristen. Zwar wird auch dieser in den Museen, Gräbern, Tempeln immer wieder auf Scheintüren stoßen Aber was ihm allenfalls Kuriosum ist: eine Treppe, die vor einer Wand endet, auf der sich das plastische Bild einer Tür befindet, das ist für Kirchberger das Wesentliche: die Erfahrung, daß sich solche Türen in der Vorstellung durchschreiten lassen, daß in der Phantasie nachvollziehbar ist, was der Seele (ba) des Verstorbenen in der Unterwelt unter bestimmten Voraussetzungen möglich war.
Man würde Kirchbergers "unterirdische Reise" gründlich mißverstehen, interpretierte man sie als eine Realitätsflucht. Sie ist weder Indienreise mit leichtem Gepäck noch Konversion zu einem Sonnenmythos, der wesentlich vom immergleichen Sonnenlauf durch Ober- und Unterwelt geprägt ist. Was Kirchberger in Bann schlug, war der bildnerische und architektonische Ausdruck, den religiöses Denken hier gefunden hatte. war das hohe Ordnungsgefüge altägyptischer Kunst. Das traf auf eine eigene künstlerische Entwicklung, die sich in den 70er Jahren zunehmend auf Suche nach formarchetypischer Sinnbildlichkeit gemacht hatte. Vergleicht man mit zwischen 1970 und 1978/79 entstandenen Arbeiten, entdecken sich schnell zahlreiche Korrespondenzen: den Obelisken, den Stelen entsprechen die Leuchttürme, Türbilder sind seit 1977 nachweisbar, die aus "Überlegungen zu einer Memnon-Serie" entwickelte Knieform ist seit 1975 anzutreffen, schließlich ließen sich die Pylone als Negativformen der Leuchttürme (natürlich auch der Obelisken) ansprechen. Und das mit wenigen Ausnahmen allen Ägypten-Zeichnungen charakteristische Regenbogenzitat ist bereits seit 1970 zunehmend Bestandteil der zeichnerischen Welt Kirchbergers.
In den letzten drei Jahren gehen die Korrespondenzen noch weiter, erfahren auch frühere Malweisen eine neue Sinnentfaltung, der eingeschriebene Text ebenso wie die spontane, die strenge Kontur auflösende Geste, die bereits in den Bildern, den Comic strips, den Do-it-yourself-Arbeiten der 60er Jahre erprobt wurden.
In welchem Maße es den Ägypten-Zeichnungen Kirchbergers auch um Sinnbildlichkeit geht, verraten die Regenbogenzitate mit ihrem über die formalästhetische Bildfunktion hinausweisenden Mythenbezug ebenso wie die in letzter Zeit häufiger in die Zeichnung eingeschriebenen Zitate, auch dort, wo sie nachträglich wieder unleserlich gemacht wurden. Diese Zitate sind u.a. dem "Amduat" und dem "Pfortenbuch" entnommen, also Unterweltsbüchern, die wie das "Totenbuch" für das Verständnis der letztjährigen Zeichnungen Kirchbergers wenn auch nicht Voraussetzung, so doch hilfreich sind als literarische Zeugnisse eines Denkens, in dem Unterwelt (Nacht/Tod) und Oberwelt (Tag/Leben) untrennbar waren, für das der Tod als Durchgangsstadium keinen Schrecken hatte. Die Kultur, der solches Denken eignete und aus der abendländischer Kunst und Literatur manche Quelle floß, ist nicht wiederholbar. Möglich dagegen ist, sie in Opposition zu einer immer sinnentleerteren Welt und ihrem Mythenverlust als Modell einer faszinierenden Sinnordnung zu studieren. Und für solch ein Studium haben die Ägypten-Serien Kirchbergers Hinweisfunktion.
Wenn Kirchberger in letzter Zeit seine Zeichnungen "Vor-Bilder" nennt, meinte dies zunächst den Zustand vor dem endgültigen Bild. Aber dieses definitive Bild verlor für ihn zunehmend an Bedeutung, wurde abgelöst von einem Bemühen, die Ausgangsfragen nicht mehr bis zu einer bildnerischen Antwort durchzuspielen, sie vielmehr immer wieder neu und anders zu steilen. Diese Verlagerung des Interesses vom definitiven Bild auf den Prozeß, die Annäherung an etwas letztlich Unerreichbares ist erklärbar aus der Unmöglichkeit, den Mythos zurückzuholen. Er ist im "Vor-Bild" allenfalls noch anspielbar, nicht jedoch darstellbar (was ein definitives Bild möglicherweise suggerieren würde). Man kann dies verdeutlichen, indem man Bild im Sinne des griechischen eidos versteht, was Idee, Urbild, Ideal einschließt. So verstanden rekapitulieren Kirchbergers Ägypten-Zeichnungen in figüricher Reduktion Urbilder (ein Vergleich mit den Registern der Totenbücher wäre hier zusätzlich aufschlußreich), in denen eine Idee unendlich wirksam und zugleich unerreichbar bleibt.
Aber Kirchbergers Charakterisierung seiner Arbeiten als "Vor-Bilder" meint noch ein Drittes. Darf man - wie vorgeschlagen - die Ägyptenzeichnungen auch als Mandalas verstehen, verweist dies im heutigen Sprachgebrauch zugleich auf die komplexe Psychologie Jungs, die in mandalaähnlichen bildhaften Gestaltungen Symbole einer im Individuationsprozeß sich vollziehenden Selbstwerdung sieht (vgl. auch das sogenannte Mandalmotiv). An anderer Stelle trifft man auf die Überzeugung, daß jede Therapie einer Reise ins Totenreich gleichkomme, bei der man gewissermaßen in seine eigene Unterwelt hinabsteige, wo dann der Minotaurus oder vergleichbare Ungeheuer und Türwärter hocken. Ob tibetanisches oder andere Totenbücher, sogar noch die Odyssee, sie alle erzählen von einer Reise durch zahlreiche Schrecknisse hindurch.
Da auch der Weg durch die ägyptische Unterwelt solch ein Erfahrensweg ist, lassen sich Kirchbergers Ägyptenzeichnungen schließlich noch als Stationen einer Reise durch das eigene Unbewußte, durch die eigene Gegenwelt des Künstlers betrachten. Daß diese unterirdische Reise bald abgeschlossen sein könnte, ist zu vermuten. Hinweise darauf sind im teilweisen Auflösen der strengen Kontur gegeben, sie sind vor allem einigen der "Vor-Bilder" der "Pforten-Serie" unübersehbar eingeschrieben: "Die Tür ist offen. Der Himmel ist geöffnet."
[Faltblatt zur gleichnamigen
Ausstellung, Galerie der Stadt Stuttgart 1984]
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