Reinhard Döhl | Gertrud Kolmar: Ludwig XVI., 1775 Der neue Herrscher wird in Reims gekrönt.
Die Glocken läuten. Ein Gefangner stöhnt.

Und Kutschen rollen nach Paris zurück.
Die Hohe Schule wünscht in Ehrfurcht Glück.

Die Knaben singen; ein Erkorner spricht
Begrüßend sein lateinisches Gedicht,

Ein Stipendiat, der dürftig und verwaist
An Königs Freitisch Brot und Bildung speist,

Mit fahlem, starrem Auge, blasser Stirn.
Der Große duldets; seine Blicke irrn

Und ruhen träge aus beim letzten Satz.
Er greift ein huldreich Wort aus seinem Schatz,

Sieht an, wirft hin und schiebt mit lässigem Schuh
Dem schüchtern Wartenden den Brocken zu.

Die Lehrer dienern vor und ziehn gewandt
Das Lob, die Gabe, aus des Jünglings Hand,

Des scher Name weder tönt noch blinkt
Und morgen flügellos in Alltag sinkt.

"... ein Schüler aus Arras." Der Herrscher führt
Die Rechte unbewußt zum Nacken, spürt -

Nichts. Das ist Märchen. Nein. Er hört und nickt
Gleichgültig-gnädig, lächelt ungeschickt:

Ein Mensch mit friedlich dumpfendem Gesicht.
Man nennt ihn König. Seher ward er nicht.

Der Text Gertrud Kolmars kann wegen seiner epischen (erzähltes Geschehen), dramatischen (Begegnung von Protagonist und Antagonist) und lyrischen (formal) Elemente wohl als Ballade bezeichnet werden. Er ist sechster einer 45 Texte umfassenden Sammlung hymnischer und balladischer Gedichte mit vornehmlich historischer Thematik (Zeitler, 555), aus deren Kontext er sich interpretatorisch nur bedingt lösen läßt. Er muß darüber hinaus im Zusammenhang von Interessen Gertrud Kolmars an der Französischen Revolution, speziell der Figur Robespierre, gelesen werden, Interessen, die ein noch unveröffentlichtes Drama, "Cécile Renault", und eine Prosa in der Mittellage zwischen wissenschaftlichem Denken und essayistischer Sprechweise (Zeitler, 559), "Das Bildnis Robespierres", belegen, ferner Formulierungen im übrigen lyrischen Werk:
O seht! O seht! Welch einen Kopf muß ich tragen!
Rot und gelb, halb Schwefel, halb Ton.
Der meine ward mir zerbrochen und abgeschlagen
Vom Fallbeil der großen Revolution.
Wie für "Das Bildnis Robespierres"sind auch für den Gedichtzyklus "Robespierre" Entstehungsbedingungen und -daten nur annähernd genau zu bestimmen. Johanna Zeitler hat als Entstehungszeit der Prosa den Herbst 1933 sehr wahrscheinlich gemacht und den Gedichtzyklus auf Grund der thematischen Verwandtschaft als in zeitlicher Nähe entstanden angenommen. Die Datierung des Dramentyposkripts, 24.XI.34-4.III.I935, scheint fast schon das datum ante quem. Über die thematischen Zusammenhänge und Entsprechungen hinaus muß man für Prosa und Gedichtzyklus noch eine engere Verbindung vermuten. Dies legt nicht nur ein Brief des Schwagers vom 8.2.1952 nahe, dem zufolge "Das Bildnis Robespierres"den Zyklus "Robespierre. Religiöse Gedichte" einleiten sollte. Dafür sprechen auffallende bildliche Parallelen, etwa der stillen, bebenden Flamme ("Das Bildnis", 576) mit der Bildschicht der beiden "Die Kerze" überschriebenen Gedichte des Zyklus. Dafür läßt sich schließlich auch der nicht ganz eindeutige Schluß der Prosa heranziehen:

Robespierre ‘nach der Natur’ zu malen, bietet so große Schwierigkeiten, daß man sich lieber mit den althergebrachten Phantasiestücken weiter behilft, wenn auch berufener Mund erklärt, daß seine Bildnisse mit ihm selber keine Ähnlichkeit haben ("Das Bildnis", 580).

Denn Bildnis meint im Sprachgebrauch Gertrud Kolmars nicht Portraitzeichnung, bildliche Darstellung, vielmehr dichterisches Bild, sprachlich fixiertes Portrait. Dann könnte sich der Satz auf schon vorliegende Literatur, z. B. die beiden Danton-DramenGeorg Büchners und Romain Rollands, beziehen, deren Aufführungen in Berlin Gertrude Kolmar wiederholt gesehen hatte. Der Satz kann aber auch - und so möchten ich ihn lesen - die selbstgewählte Aufgabe der Dichterin formulieren, nachdem im Essay das überlieferte Zerr- und Scheusalsbild [...] von der Leinwand gewischt ist, an die Stelle des nicht möglichen objektiv richtigen ein subjektiv richtiges Bild aus Gedichten (Phantasiestücken) zu setzen.

Innerhalb des Zyklus stellt "Ludwig XVI., 1775" formal eine Ausnahme dar. Im gesamten lyrischen Werk finden die aus fünfhebigen Jamben gebildeten, paarig stumpf gereimten zweizeiligen Strophen nur zweimal eine Entsprechung ("Die Müde", "Winter"). In ihnen wird - ganz im Gegensatz zu anderen Gedichten des Zyklus - scheinbar ohne große Anteilnahme die Begegnung Ludwigs XVI. mit dem 17 Jahre alten Robespierre erzählt, doch verrät - bei lautem deutlicher als bei stillem Lesen - bereits die Syntax dieses Erzählens einiges von der 'Spannung' dieser Begegnung. Fallen zunächst noch Satz und Vers zusammen, ziehen sich bald immer komplexere Sätze, gereiht oder hypotaktisch gestaut, über mehrere Verse und Strophen hin. Verschleifen einmal Vers- und Strophenenjambement die strophische Struktur, so werden ein andermal Vers und Strophe durch Satzschlüsse aufgesprengt, so daß sich am Schluß Satz- und Versstruktur der ersten Strophe wiederholen. Den strophenübergreifenden Sätzen entsprechen umgekehrt kurze, gelegentlich auf ein Wort verknappte Sätze, die zu zweien oder dreien (XI, I) einen Vers füllen. An zwei Stellen verstößt die Dichterin gezielt gegen die metrische Grundstruktur des Gedichts, in VII, I:

Sieht an, wirft hin und schiebt mit lässigem Schuh
durch eine zusätzliche unbetonte (lässige) Silbe und in XI,1
Der Herrscher führt
Die Rechte unbewußt zum Nacken, spürt - /
Nichts. Das ist Märchen. Nein. Er hört und nickt,
wo das erste Wort des Verses (Nichts), das, metrisch streng gesprochen, unbetont bleiben mußte, auch durch den Gedankenstrich des vorhergehenden Strophenendes eine deutliche Sinnbetonung erfährt. In beiden Fallen wird man von sprachlicher Nachbildung geschilderten Geschehens sprechen können, von einer den Gedichten Gertrud Kolmars eigenen Art, Geschehen zu Gebärden umzustilisieren (Hinck), durch eine Geste Erniedrigung, Demütigung (wirft hin und schiebt mit lässigem Schuh) wie künftiges Schicksal (Der Herrscher führt / Die Rechte unbewußt zum Nacken) darzustellen bzw. anzudeuten, so daß der auch akustisch sehr dicht gefügte Text (zu den Paarreimen treten, oft über mehrere Strophen, zahlreiche Alliterationen) bereits formal eine hintergründige Spannung zum vordergründig Erzählten entwickelt.

Seine Wertung erfährt das erzählte Geschehen vor allem in der visuellen Dimension. Denn dieses Gedicht ist merkwürdig 'stumm'. Daß Robespierre ein Huldigunsgedicht aufsagt, wird vom Erzähler mitgeteilt. Ebenfalls, daß darauf der König ein huldreich Wort aus seinem Schatz greift, Etikette beides, nicht etwa persönliche Begegnung. Einzige wörtliche Rede ist die bezeichnenderweise anonyme Vorstellung des Laudators: ... ein Schüler aus Arras. Die eigentliche Wertung der Autorin aber liegt im stummen Spiel der Blicke. Der Vortrag des Gedichts wird gespiegelt in der Reaktion des Königs:

Der Große duldets, seine Blicke irrn
Und ruhen träge aus beim letzten Satz.
Daß Gertrud Kolmar Auditives gern optisch wiedergibt, ist wiederholt festgestellt worden. Speziell in "Ludwig XVI., 1775" gehören diesem Bildbereich eine beträchtliche Bedeutung: mit fahlem, starrem Auge, seine Blicke irrn / Und ruhen träge aus, sieht an, lächelt ungeschickt, mit friedlich dumpfendem Gesicht und schließlich noch Seher. Die meisten Formulierungen fallen dabei dem König zu, der durch sie dem starren Auge Robespierres aufs schärfste kontrastiert ist. Unstetes, im Gesicht (bereits) konturloses Ancien régime angesichts des geradlinigen Blicks des später so genannten "Unbestechlichen" (der Zyklus enthält auch ein Gedicht dieses Titels) ließe sich vielleicht diese Kontrastierung paraphrasieren. Wie zentral diese Auge/Blick/Gesichts-Thematik ist, zeigen weitere Gedichte des Zyklus. Noch einmal begegnet in "Der König"das konturlose Gesicht des Ancien régime:
Die Könige sind trüb geworden -
Und dieser auch hat kein Gesicht,
Kein Antlitz, das den Krieg erklärt,
Das Kronen widerscheint und blendet:
Ein Mensch, der morsche Sippen endet,
Verdämmernd seine Stunde währt.
Auf der anderen Seite zeichnet die Autorin ihren Robespierre, der übrigens, mit Ausnahme des Gedichtes "Am achten Thermidor. Aus der Rede Robespierres", im ganzen Zyklus seltsam stumm gezeichnet und damit von der lauten Hektik des revolutionären Geschehens abgesetzt ist - Auf der anderen Seite zeichnet die Autorin ihren Robespierre immer wieder durch einen starren Blick aus: Und dieser mit dem Blick wie blasser Stahl ("Dantons Ende"), Er hält den Blick, der, unbewegter Schein, / Noch spiegelt, was sein mattes Hirn vergißt ("Der Sessel"); Auf den Blick, der über seine Wunde / Hart und elend starrte in die Runde ("Rue Saint-Honoré"); Sein Gesicht zerstürzte (ebd.), um gleichsam nach seiner Auferstehung den unbestechlichen Blick wiederum auf die Menschen zu richten: Und uns ansiehst: wir zerbrechen ("…et pereat mundus").

Ich mußte mit diesen Zitatbelegen so weit ausholen, um anzudeuten, daß sich in "Ludwig XVI., 1775" im Wechselspiel der Blicke nicht nur Ludwig XVI. und Robespierre, Ancien régime und künftige Revolution gegenüberstehen, daß eine derartige optische Auszeichnung mehr als die historische Figur Robespierre meint.

Historisch gesehen zeichnet das Gedicht die Begegnung des gerade gekrönten Königs mit dem Schüler aus Arras relativ genau nach. Für den feierlichen Einzug Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes in Paris sah das Programm auf dem Wege von Notre Dame nach der Kirche Ste Geneviève als Station auch einen Halt vor dem Collège Louis-le-Grand vor, dessen Schüler Robespierre war. Wegen seiner Leistungen als Sprecher des obligaten Huldigungsgedichtes ausgewählt, kniete er, wie eine kürzlich erschienene Biographie schildert, im Feiertagsgewand mit unbedecktem Haupt in […] heftigen Regenschauern vor der Kutsche am Boden, um im Namen der Schule das junge Herrscherpaar zu begrüßen. Er liest, noch immer im Regen, die Begrüßungsansprache in Versen, die sein Professor ausgearbeitet hat. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung, ohne daß man an Maximilien das Wort gerichtet hätte (Gallo, 31). Nicht ganz gesichert scheint die Verfasserschaft des Huldigungsgedichts. So soll der Autor – wie in unserem Zitat – ein Professor des Collège gewesen sein. In anderer Quelle liest man von einer Zensur durch den Rektor des Collège, der die republikanischen Gedankengänge des Lobgedichts eliminiert habe. Danach wäre Robespierre selbst der Autor seiner Ansprache, die die Tugenden des Monarchen pries und ihm eine glückliche Regierung voraussagte (zit. Rhoden, 78). Diese Auffassung teilt auch Gertrud Kolmar, die, wie "Das Bildnis Robespierres" mit seinen zahlreichen Fußnoten beweist, eine wenn auch zufällige, so doch umfangreiche Lektüre zu ihrem Thema getrieben hatte. Warum sie den gewiß wirkungsvollen strömenden Regen, der ihr von dieser Lektüre her bekannt sein mußte, wegließ, ist nicht leicht zu entscheiden. Möglicherweise paßte er ihr nicht so recht in ihre marionettenhafte Szenerie.

Auf jeden Fall hatte sie, wie unser Gedicht zeigt, wie die meisten Autoren und Biographen Robespierres die interpretatorische Bedeutung dieser Begegnung erkannt. Noch heute verfolgt mich, erinnert sich der Gegner Robespierres, Abbé Proyart, das Bild, wie das Herrscherpaar seine Blicke freundlich auf der Schlange ruhen ließ, die sich zu ihren Füßen wand. Daß Gertrud Kolmar in ihrem Gedicht Robespierre nicht vor der Kutsche knien läßt, sondern in ihrer Schilderung sein starres Auge, sein schüchternes Warten betont, rückt ihn näher an den König heran. Wenn dieser ihm jetzt den Brocken hinwirft und mit lässigem Schuh zuschiebt, ist dies das einzige, was auf seine (äußerlich) erhöhte Stellung hinweist. Mit seinen irrenden Blicken hat er gegenüber dem starren Auge des vor ihm Stehenden bereits verloren. [Ob, was interpretatorisch nicht unwesentlich wäre, der hingeworfene Brocken – bezogen auf an Königs Freitisch – eine Anspielung auf Lukas 16.21 ist, kann hier nicht entschieden werden.] Man nennt ihn König, drückt diese Niederlage noch einmal aus, macht zugleich deutlich, daß seine Größe (Der Große duldets) nur noch äußerlicher Schein ist.

Ein naheliegender Vergleich des Gedichtes "Ludwig XVI., 1775", des ganzen Zyklus mit dem "Robespierre"-SonettGeorg Heyms - naheliegend wegen der auch bei Gertrud Kolmar zu beobachtenden Verschmelzung von Realistik und phantastischer Vision, vor allem an anderen Stellen des Zyklus, - mit Heinrich Heines "Karl l.", einem Gedicht, das ebenfalls die Begegnung eines Königs mit seinem späteren Henker thematisiert, sei hier für's erste mit den Hinweis auf Walther Wiesingers vergleichende Interpretatation "Gertrud Kolmar: Rue Saint-Honoré und Georg Heym: Robespiere" sowie weitere entsprechende Einzelinterpretationen wenigstens vorgeschlagen.

Mit seiner wahrscheinlichen Niederschrift in den Jahren 1933/l934, also nach Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, steht Gertrude Kolmars "Ludwig XVI.,1775", und mit ihm sein Kontext, im Zusammenhang eines seit Beginn der 30er Jahre auffallend großen Interesses an der Französischen Revolution, speziell an der Figur Robespierres. So erschienen im nationalsozialistischen Deutschland u. a. 1935 Peter Richard Rhodens "Robespierre. Die Tragödie eines politischen Ideologen",Charlotte Sempels "Maximilian Robespierre als doktrinärer Revolutionär", Friedrich Sieburgs nach dem Kriege neu aufgelegter "Robespierre" und 1937 – also immer noch in zeitlicher Nähe zu Gertrud Kolmars Texten - Emil Müllers "Robespierre. Revolutionär und Redner".

Es ist zeitgemäß, leitet Müller seine Dissertation ein, eine Biographie. Robespierres zu schreiben. Eine nach der anderen erscheint, vor allem in Deutschland und England. Revolutionäres Geschehen der Gegenwart sucht man zu begreifen, indem man zurückgreift in die Vergangenheit, zu Zeit und Zustand der großen französischen Revolution, zum Bild ihrer Vorkämpfer. Wenn all dieses Zurückgreifen dazu dienen soll – was manchmal fast den Anschein hat – die Begeisterung für die gegenwärtigen Dinge zu kühlen, [...] an unserem Glauben zu rütteln, so müssen wir uns dem entgegenstemmen und solche Geschichtsbetrachtung ablehnen. (Müller, 1).

Mit diesen Sätzen sind Hintergrund und Tendenz der damals in Deutschland erscheinenden Robespierre-Literatur hinreichend angedeutet. Nicht um Reinewaschung (Müller) Robespierres in der Tradition eines A. Mathiez, einer Société des Études Robespierristes, auf deren Forschungen man weitgehend fußt, geht es, sondern darum, Robespierres Leistungen im Seelenfangen (Müller), seine revolutionäre Bedeutung und Rolle zur nationalsozialistischen 'Revolution' in Bezug zu setzen und zu relativieren. Natürlich kann er Adolf Hitler als Praktiker und auch Theoretiker des Wortes (Müller) das Wasser nicht reichen. Das ist es, was Robespierre fehlt, um großer Führer zu sein: In der Entscheidung steht er nicht vorn und übernimmt die volle Verantwortung, sondern er hält sich im Hintergrund und lenkt die Dinge durch seine Geschöpfe (Müller, 5). Er ist der Rolle des Führers, die ihm das ironische Schicksal für 365 Tage [...] zuweist, [...] nicht gewachsen (Rhoden, 9), denn der Unbestechliche war kein Staatsmann; [...] ein Staatsmann weiß, was er den Menschen, die sich seiner Führung anvertrauen, zumuten darf. Der Ideologe Robespierre hat das nie gewußt. Daher ist er nicht nur als Politiker, sondern auch als Moralist gescheitert (Rhoden, 502).

Ob Gertrud Kolmar diese und andere Veröffentlichungen zur Kenntnis genommen hat, wissen wir nicht. Ihre aus den Jahren 1938 bis 1943 erhaltenen Briefe deuten ein über die Niederschrift von Prosa, Gedichtzyklus und Drama hinausreichendes Interesse am Gegenstand an, so ein Brief vom 22.7.1941: Und schreibe inzwischen weder meine Erinnerungen an Ebermergen nieder, noch eine Robespierre-Biographie, obwohl ich zu beidem das notwendige ‘Material’ mitbrächte (Briefe an die Schwester Hilde, 105). Und in einem Brief vom 18.11.1942 zitiert sie Saint-Just: Die Völker sterben, auf daß Gott lebe, den Schluß des Rollandschen "Danton", den sie als Motto schon dem Gedicht "Gott"des Zyklus vorangestellt hatte. Natürlich könnten auch die zahlreichen Robespierre-Biographien und ihre Tendenz sie von einem eigenen Versuch abgehalten haben. Doch ist diese Mutmaßung ebensowenig zu klären wie die Frage zu beantworten, ob sie von den Biographien Kenntnis genommen hat. Sicherlich nicht mehr gelesen hat sie Romain Rollands "Robespierre"(1938), in dem sich dieser Autor enger als in irgendeinem meiner anderen Dramen zur Französischen Revolution an die Quellen hielt. Ich wage zu hoffen, heißt es im Nachwort vom 1.1.1939,."daß sich das wahre Antlitz der Geschichte in diesem "Robespierre" widerspiegelt - getreuer, als es mir in meinem "Danton" möglich war, der niedergeschrieben wurde zu einer Zeit, da jene fruchtbaren Untersuchungen, welche die Revolutionsgeschichte erneuert haben, noch unbekannt waren.

Auch Rolland ist sich der Bedeutung des Zusammentreffens von Ludwig XVI. und Robespierre sehr wohl bewußt, blendet es aber retrospektiv als Erinnerung Robespierres erst am 10. Thermidor 1794 als vierfache Vision in das Spielgeschehen ein:

1. Die St.-Jakobstraße vor dem Kollegium Louis-le-Grand. Man sieht die abschüssige Straße und den Zug der königlichen Wagen, der den St. Genovevenberg hinaufklimmt. - Der junge Robespierre in seinem feierlichen Staat kniet im Regen auf der Straße vor dem Wagenfenster, an dem die gelangweilten Gesichter der königlichen Besucher auftauchen …

2. Das lnnere der Karosse; man sieht, wie der König gierig einen Hühnerflügel verschlingt, ohne auf den jungen Mann zu achten, der draußen seine Adresse vorträgt. Die Königin gähnt und tauscht ein paar spöttische Worte mit der Prinzessin von Lamballe, die ihr gegenübersitzt und frech auflacht, wahrend sie den knienden Schüler durch ein Lorgnon betrachtet.

3. Wieder die Straße im Regen. Die Karosse fährt ab und bespritzt den Schüler mit Schmutz; er steht auf, sein Manuskript in der Hand - er hat es nicht zu Ende lesen können -, beschämt und finster ... Die Karosse entfernt sich langsam - fährt die St.-Jakobstraße hinauf …

4. Im Nebel, der sich über dem Bild zusammenzieht, erscheint der Umriß der Guillotine …

(Kein erklirrendes Wort begleitet diese vierfache Vision. Jedes Wort ist überflüssig. Silet, sed loquitur …).

Die Ähnlichkeiten dieses 'Stummfilms' mit dem stummen Spiel der Blicke bei Gertrud Kolmar sind verblüffend, bemerkenswert die Unterschiede. So ist Rolland im Detail konkreter, wenn er den Regen, den Schmutz, den Umriß der Guillotine erwähnt. War auf die Guillotine im Gedicht nur durch eine unbewußt[e] Geste verwiesen, so ist hier direkt auf sie und - von der Plazierung im Stück her doppeldeutig - auf den König wie auch auf Robespierre angespielt. Grundsätzlich aber unterscheiden sich Drama und Gedichtzyklus in ihrer Intention. Rollands Drama ist das letzte einer Reihe von Stücken, die das große Heldenlied der Französischen Revolution ‘singen’ sollten, der Versuch, das wahre Antlitz der Geschichte widerzuspiegeln, die sittliche Wahrheit einer historischen Figur aufzuzeigen; Gertrud Kolmar will zu Beginn nationalsozialistischer Schreckensherrschaft, deren Opfer sie selber werden sollte, etwas ganz anderes: sie wählt die Form des Gedichts und damit die Möglichkeit privater Selbstaussprache ihrer Ängste und Hoffnungen. Für sie ist Robespierre weniger darzustellende Figur als vielmehr Projektion. Immer wieder wird er direkt angesprochen:

Bau, du Türmer, wieder Ewigkeit,
Starke Himmel, die uns weisen,
Da die Machtgestirne unsrer Zeit
Wild in Untergänge kreisen
lautet zum Beispiel eine Strophe aus "…et pereat mundus", und wir gehen sicher nicht fehl, wenn wir die letzten beiden Verse auf die Gegenwart der Dichterin beziehen, wenn wir in Versen wie Ich werde sterben, wie die Vielen sterben; / Durch dieses Leben wird die Harke gehn mehr als nur lyrische Attitüde vermuten. Versteckte Hinweise auf die Gegenwart der Dichterin lassen sich mehrfach aufspüren, insbesondere in der Darstellung pervenierter Massen:
Nackt und glitzernd ritt die Goldne Jugend
schon ihr geiles, rosig fettes Schwein,
Stand in Gassen, an den Türen lugend,
Zu entehren die erschlagne Tugend,
Auf die sterbende zu spein.
Schaum und Schmähung brach aus vollem Munde
("Rue Saint-Honoré"). Was Gertrud Kolmar angesichts eines entfesselten Pöbels, angesichts des von Anfang an besiegten Robespierre, in den Anfängen nàtionalsozialistischer Schreckensherrschaft immer wieder beschwor, ist Gerechtigkeit.
Ja, nimm die Waage, nimm das Schwert,
fordert die den Zyklus einleitende "Beschwörung"Robespierre auf. Aber er muß, damit diese Gerechtigkeit Wirklichkeit wird, seine Leidensgeschichte durchleben, gleichsam wiederauferstehen:
Knick den morschenden verkrümmten Stock,
Der uns Richtstab heißt und Segen,
Schnitz ihn streng und bleibend aus dem Block,
Da dein Haupt besiegt gelegen,
Bis du schweigend mit dem Henkerschlag
Dich erhöhtest, Recht zu sprechen
In dem tausend Jahre großen Tag,
Und uns ansiehst: wir zerbrechen
(...et pereat mundus). Wie vieles in den Gedichten der Kolmar sind auch diese Strophen nicht eindeutig. Da klingen sowohl Himmelfahrt, das Aufgefahren gen Himmel […], zu richten die Lebendigen und die Toten an wie der 90. Psalm (tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag) wie die grausame Wirklichkeit des ‘Tausendjährigen Reiches’. Und keiner dieser Anklänge kann ausgeschlossen werden. Vor allem die Parallelisierung Robespierre/Christus ist mehrfach im Zyklus anzutreffen.
Von Schmach durchstochen beide Hände: / Sind deine Ostern jetzt?
fragt Gertrud Kolmar in "Beschwörung",und in "Der Tisch" lesen wir:
Wie schön die Linnenkrone paßt,
Die Priesterbinde, die dich krönt,
Du Gottessohn, du Herrscherstolz,
Nun bist du Menschen wieder gleich.
Nun ist die Parallelisierung Robespierre/Messias nichts Neues. Vom Blutmessias hören wir bereits in "Dantons Tod", einem Drama, das Gertrud Kolmar ja kannte und schätzte. Nicht also die Parallelisierung, ihre positive Wendung durch die Kolmar ist verwunderlich.

Es muß in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß auch die nationalsozialistische Literatur damals mehrfach die Passio Christi bildlich verwandt hat und dabei sogar auf eine Tradition zurückgreifen konnte: Die alte Vorstellung von der Passion Deutschlands als Passio Christi, von der vulgären Predigt- und Traktatliteratur katholischer Provenienz weitergereicht, verschmolz mit dem Glauben, daß das politische Heil nur von dem Führer kommen könne, der sich selbst immer mehr als der seit langem erwartete Messias des deutschen Volkes stilisierte. (Klaus Sauer, German Werth, "Lorbeer und Palme. Patriotismus in deutschen Festspielen". München 1971, S. 192.) Richard Euringers "Deutsche Passion 1933", in der es vom unbekannten, vom namenlosen Soldaten heißt:

Aus seinen Wunden bricht ein Glanz.
Sein Geist strahlt als der Dornenkron.
Unsterblich stirbt der Mutter Sohn,
oder Paul Beyers "Düsseldorfer Passion"sind Belege derartiger Parallelisierungen, und die "Deutsche Passion",die am Gründonnerstag 1933 in der "Stunde der Nation" über alle deutschen Sender zu hören war, konnte Gertrud Kolmar sogar bekannt gewesen sein. Dann ware ihr Robespierre/Messias zugleich so etwas wie eine radikale Gegenfigur, Gegenentwurf, projizierter Repräsentant absoluter Gerechtigkeit angesichts des Unrechts, das jetzt ihr und ihrem Volke geschah. So gesehen ist es nur konsequent, wenn sie ihren Robespierre in die Reihe der großen Puritaner einreiht, eine Reihe, die sich bei ihr von Moses über Savanarola und Milton zu den Besiegten, Zerschmetterten, den Stummen des Thermidor herschreibt, zu Marat, Saint-Just und vor allem Robespierre:
Ihr aber habt den Weg mit spitzen Dornen besät;
Ihr ginget ihn selbst, und die blutige Stapfe rann.
Ihr straucheltet, rafftet euch, weintet: verleumdet, geschmäht.
Drüben lag Kanaan.
Wenn es von Robespierre in "Das Fest des Höchsten Wesens" heißt:
Seine Rede über allem Volke,
Seine Sohle auf des Berges Gipfel,
dann gemahnt das zugleich an Moses, der auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote erhält. Wie sehr Gertrud Kolmar Robespierre in die jüdische Leidensgeschichte einband - und wir dürfen noch einmal an den zunächst rätselhaften Zweittitel, Religiöse Gedichte, erinnern, den ihr Schwager 1952 mitteilte -, wie sehr Gertrud Kolmar ihren Robespierre in die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes eingebunden wissen wollte, machen bereits die vorangestellten Mottos deutlich. Denn die ersten drei stammen von Jesaja, und sie sind so ausgewählt, daß sie durchaus auch auf Robespierre bezogen werden können, von dem erst das vierte Motto stammt.

Indem sich die jüdische Schriftstellerin mit den Thermidorianern, mit Robespierre solidarisiert, indem sie ihre Hoffnungen auf Figuren der Geschichte, eine Figur, die scheiternd Geschichte gemacht hat, projiziert und sie hineinnimmt in die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, kann sie innerhalb dieser Leidensgeschichte Trost und Gewißheit erfahren - wenn auch nur im Gedicht. Und noch etwas darf man nicht übersehen. Gertrud Kolmar war Jüdin, nicht Christin. Für sie war Jesus - auch wenn sie, wie wir aus ihren späten Briefen wissen, Bücher über ihn; gelesen hat - nicht theologiegeschichtliche Wirklichkeit, sondern der dem jüdischen Volke verheißene Messias, heilsgeschichtliche Zukunft, Prospekt. Daß sie diesen Prospekt mit einer Beschwörung Robespierres füllt, verrät auch die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation.

[1979]

Textnachweise
Gertrud Kolmar, "Das lyrische Werk". München 1960.
Gertrud Kolmar, "Briefe an die Schwester Hilde (1938-1941)". München 1970.
Gertrud Kolmar, "Das Bildnis Robespierres". Mitgeteilt von Johanna Zeitler. In: "Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft", Jg 9, Stuttgart 1965.

Literaturhinweise
Walther Wiesinger: Gertrud Kolmar: Rue Saint-Honoré und Georg Heym: Robespierre". In: Rupert Hirschenauer und Albrecht Weber (Hrsg.), "Wege zum Gedicht II. Interpretationen von Balladen". München u. Zürich, 1964.
Hans Byland, "Zu den Gedichten Gertrud Kolmars". Diss. Zürich 1971.
Max Gallo, "Maximilien Robespierre. Histoire d'une solitude". Paris 1968. Deutsche Ausgabe Oldenburg u. Hamburg, 1970.
Romain Rolland, "Robespierre". Übers. von Eva Schumann. Berlin 1950.