Helmut Kreuzer / Reinhard Döhl | Georg Kulka und Jean Paul.
Ein Hinweis auf expressionistische Centonen

Der Lyriker Georg Kulka (geboren in Weidling 1897, 1927 in Wien freiwillig aus dem Leben geschieden) (1) wurde v. a. durch seine Veröffentlichungen in Wolf Przygodes Zeitschrift "Die Dichtung" (1918-1923) und den Band "Der Stiefbruder. Aufzeichnung und Lyrik", Wien 1920, in literarischen Kreisen der expressionistisch gestimmten Nachkriegsjahre bekannt (2). Er wurde von der Wiener Philosophischen Fakultät 1921 zum Dr. phil. promoviert, mit einer Arbeit (über die Unsterblichkeitsidee bei Jean Paul), die bis vor kurzem als verschollen galt (3). Kurz nach Erscheinen des "Stiefbruders" attackierte Karl Kraus den jungen Autor in der "Fackel" (Juli 1920) wegen eines Plagiats an Jean Paul. Er deckte auf, daß Kulka in den "Blättern des Burgtheaters" (1, 8) Auszüge aus Jean Pauls "Vorschule der Ästhetik" unter seinem Namen als einen Aufsatz "Der Gott des Lachens" veröffentlicht hatte. Ohne den Sachverhalt zu bestreiten, verteidigte sich Kulka in einer Gegenschrift, die zusammen mit Angriffen Albert Ehrensteins und Przygodes auf Karl Kraus erschien (4). Er wies darin nach - den unsinnigen Vorwurf eines kriminellen Betrugs aus finanzieller Gewinnsucht widerlegend -, daß er sein Honorar dem Kopisten des Textes überlassen hatte, und erklärte, den ihm wichtigen Jean-Paul-Text aus "törichter Leidenschaft" (5) unter eigenem Namen publiziert zu haben, um den Text überhaupt mit Sicherheit unterzubringen und um ihm "tiefere Wirkung" zu verschaffen (6). Die Freunde Kulkas hielten diese Angaben für ehrlich, da sie an ihm exzentrische, ja pathologische, aber keine niedrigen Charakterzüge kennengelernt hatten. Daher stellten sich Albert Ehrenstein, Karl Ettlinger, Alfred Grünewald, Walther Heller, Hermann Kasack, Edlef Köppen, Fritz Lampl, Oskar Loerke, Wolf Przygode mit einer öffentlichen Erklärung vor den Angegriffenen (7).

An diese Affäre wird hier nur erinnert, weil noch ein anderer, unbekannter Zusammenhang zwischen Jean Paul und Kulka besteht, nämlich eine verblüffende Verwertung von Prosastellen aus dem epischen Werk des ersten für eine Folge von Gedichten und "Aufzeichnungen" (so nannte Kulka eine Kurzform lyrischer Prosa), die der junge Expressionist in der zweiten Folge der "Dichtung" 1920 und 1923 erscheinen ließ. Wir veröffentlichen exemplarische Belege, verzichten jedoch auf detailliert auswertende Erörterungen, in denen manches zwischen den Verfassern kontrovers bleiben mußte. Erstes Beispiel sei Kulkas Gedicht "Szene" (I. Buch, 1920, S. 120), zusammen mit den Stellen, die in das Gedicht eingegangen sind (8),

Georg Kulka | Szene

Vorhang fliegt auf. Schmerzendes Jahr ist gespendet,
Aus seiner wolkigen Hand überschneiend das Grün.
Schweigen, von keinem Vertrauen gekühlt und vollendet,
Welkt und ergibt sich schwärmerisch in das Verblühn...

Durch die Lippen flattert ein Krampf. Eingedrückt
Siehst du den Mond noch; aber die Erde beherzt.
Mond, von dem Schatten der Erde verspottet, zerstückt,
Starrt in bewölkte Bühne, wenn sie schon lächelnd verschmerzt,

Was wir im Blutsturz des Auges und Herzens vergessen,
Redende Stunde, die frostig das Glühn überscholl: -
Wer diesen stündlichen Zwischenraum übermessen,
Dem hängen die Augen am Himmel, dem quellen die Augen voll.

Welten und Sonnen brechen vom Morgen auf.
Menschen stehn im Gebirg. Aus [sic] den Staubfäden stehen die Käfer.
Doch am Fuße des Bergs wankt des Zwittertags dunkler Vcrlauf.
Dampf des Abends war heiß und zog auf und fiel kalt in die Erdem zurück wie menschliche Schläfer.

Und gehn wir auch noch durch Nächte, von Winden zernagt, und durch einen Nebel voll Giften
Und endigen mit der trubelnden Kugel - was ist dann Trost?
Ein verschleiertes Aug', ein verstiebendes Herz jenseits der Laute und Schriften
Knüpft die verschlissene Erde an kindliche Triften,
Blickt aufs verwirrte Tochterland Erde, eh' es verglost.

Aus "Hesperus" (Jean Paul's Werke, Siebenter bis zehnter Theil):

Viktor... wandte das schmerzende Auge gegen den auffliegenden Vorhang.
(S.327, Z.15ff.)

Und hier sagte eine tugendhafte Stimme in Viktor: "... hebe von diesem wundgepreßten Herzen die Last des Schweigens ab - vielleicht welkt sie an einem Gram, den ein Vertrauter kühlt und nimmt!"
(S.328, Z.6ff.)

... vielmehr schwollen die Wunden seines Herzens... höher: durch jenes kalte, fast schwärmende Ergeben ins Verblühen...
(S.326, Z.25ff.)

... der Blick war oft zu flatternd, oft zu stehend; durch die Lilienwangen flog oft ein Fieberroth, durch die untere Lippe einmal ein zerdrückter Krampf...
(S.331, Z.15ff.)

In Viktor's Herzen zog ein dreischneidiges Mitleiden schmerzlich hin und her, da er sich die schreibende und weinende und vom Schicksal verspottete Klotilde in der Mitternacht unter dem vom Erdschatten zerstückten und bewölkten Mond vorstellte; er sagte nichts, er blickte starr in die trüben Szenen der Bühne und weinte noch fort, als sich auf ihr schon die frohen entwickelten.
(S.329, Z.3ff.)

... aller dieser aufgehäufte Kummer wird lächelnd verschmerzt...
(S.329, Z.19f.)

... und da Klotilde traurig den größern Zwischenraum der Schmerzen und der Tage zwischen sich und ihrem Bruder übermaß, so quollen ihre großen, so oft am Himmel hängenden Augen voll...
(S.328, Z.1ff.)

... Welten und Sonnen zogen von Morgen herauf... ein Mensch stand auf dem Gebirge und ein Goldkäferchen auf dem Staubfaden...
(S.174, Z.31ff.)

Am Fuße des Berges war der Zwittertag dunkler - am Sternenhimmel hob sich der Vorhang auf - der Dampf des Abends, der heiß aufgezogen war, fiel kalt, wie Menschen, in die Erde zurück...
(S.174, Z.42ff.)

... aber unsre Nachkommenschaft geht noch durch eine Nacht voll Wind und durch einen Nebel voll Gift...
(S.344, Z.8f.)

... es kann keine andern Jahrhunderte geben als solche... wo Völker zerfallen, wenn das Menschengeschlecht steigt, wo dieses selber sinkt und stürzt und endigt mit der verstiebenden Kugel... was tröstet uns? - Ein verschleiertes Auge hinter der Zeit, ein unendliches Herz jenseits der Welt.
(S.344, Z.29ff.)

... es muß eine Vorsehung geben, die... diese verwirrte Erde verknüpft als Tochterland mit einer höhern Stadt Gottes...
(S.544, Z.37ff.).

Die zuletzt zitierten Textteile aus dem "Hesperus" finden sich im "Sechsten Schalttag" und in der Schilderung des Besuchs von Viktor bei Emanuel, während alle anderen Klotildes Liebesleiden und das Verhalten der Liebenden während der "Iphigenie"-Aufführung betreffen. Die "Szene", der auffliegende Vorhang haben bei Jean Paul also ihre ganz konkrete und unmetaphorische Bedeutung (wobei freilich nicht vergessen werden darf, daß auch Jean Paul oft die Landschaft als "Theater" zeigt, als "Bühne", auf der Sonne und Mond agieren). Die Funktion der herausgeschnittenen und verändert aneinandergerückten Stellen hat sich im Gedicht wesentlich gewandelt. Im Roman tragen sie zum Zusammenhang der Handlung bei, drücken sie mehr oder weniger situations- und charaktergebundene Stimmungen und Gefühle verschiedener Personen aus, haben sie nur zum kleineren Teil einen unmittelbar (nicht erst durch das Ganze vermittelten) symbolischen Charakter und bilden sie, sprachlich betrachtet, Einzelzüge eines mit Kontrasten spielenden Stils. Im Gedicht wird ihr Gehalt absolut gesetzt; stilistisch bestimmen sie nun kontrastlos ein Ganzes; neue symbolische Aspekte tun sich auf einsinnig-gegenständliche Aussagen werden metaphorisch und vielsinnig. Kulka gehorcht hier Bedingungen, die sich aus dem Wechsel der Gattung ergeben: das "Schweigen" ist abgelöst von Klotilde wie das "Vertrauen" von Viktor; die am Himmel hängenden Augen gehören keiner bestimmten Person mehr, sondern allen und keinem - sie gehören zum subjektiven "Menschenbild" des Gedichts. Nur diese Umwandlungen ermöglichen die bruchlose Verbindung mit den Bildern des "Sechsten Schalttags", dessen geschichtsphilosophische und kosmologische Gedanken, dessen metaphysische Bekenntnisse auf keine Romanfigur bezogen sind, sondern Erfahrungen und Erkenntnisse des Erzählers mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit in der Sprache der Dichtung ausdrücken.

Soviel wir wissen, streifte kein Verdacht der Entlehnung dieses Gedicht, obwohl die "Fackel"-Kontroverse das Mißtrauen schärfen und den Gedanken an Jean Paul nahelegen mußte. Tatsächlich wirkt es nicht fremd innerhalb des Werkes von Kulka - eines charakteristischen Produkts seiner Zeit. So betrachtet, ist eine "Metamorphose" des Textes eingetreten. Daß ein heimlicher Diebstahl - in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden - nicht beabsichtigt war, bezeugen spätere, aufeinanderfolgende Gedichttitel: "Ausfahrt Giannozzos" (a.a.0., 1923, S.60) und "Brief Horions" (a.a.0., S.60), die unzweideutig auf "Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch" im Anhang des "Titan" und eine zentrale Figur des "Hesperus" verweisen (9). Vergleicht man nun das erstgenannte Gedicht mit dem Text Jean Pauls, ergibt sich wiederum eine weitgehende Übereinstimmung in Bildern, Metaphern, den einzelnen Vokabeln mit der Vorlage, nämlich mit Landschaftsschilderungen (Abendbildern) aus verschiedenen Teilen des "Seebuchs" (10).

Georg Kulka | Ausfahrt Giannozzos

Sonne dämmert hinter den Orkaden,
Aus dem Osten Menschenküsten nebeln,
Weite Länder in dem leeren Meere baden,
Weiße Wasservögel unterm Ferneschleier schnäbeln.

Über der erhabnen Wüstenei schlagen unsre Herzen größer.
Bleicher Engel Sonne geht hinter Eismauern des Pols,
Schwimmend blüht sein Brautgewand mit dem Wolkenflößer,
Luv und Ranke wogenden Symbols.

Auf [sic] den zu zartem Schaum geschlagnen Herzenssternen
Zusammenwallt das Meer.
Warm angeweht von seinen Nebelfernen,
Glitten wir her - weither,

Zwei Schiffe in dem hingedeckten Himmel,
Drin stand der Mond, der Schwan,
Sein Glanz gefiederte durchs Sterngewimmel,
Eh' er herausflog, weiß in blauen Plan.

Nun, statt als Wasservögel flach zu streifen,
Tauchten wir uns in Flut.
Sie ließ uns weich in ihre Saiten greifen,
Der Algen ausgeruhte Glut.

Aus "Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch" (Jean Paul's Werke, Neunzehnter Theil):

In [sic] Norden dämmerte die Sonne hinter den Orkaden - rechts nebelten die Küsten der Menschen - als ein stilles, weites Land der Seelen stand das leere Meer unter dem leeren Himmel - vielleicht streiften Schiffe wie Wasservögel über die Fläche; aber sie liefen zu klein und weiß unter dem Schleier der Ferne - Erhabene Wüstenei! über dir schlägt das Herz größer! - Auch Du gehst fort, bleiche Sonne, und als ein weißer Engel hinab ins stille Kloster der Eismauern des Pols und ziehest Dein blühendes, auf den Wogen golden schwimmendes Brautgewand nach Dir und hüllst Dich ein! -
(S.180, Z.13ff.)

Ich glitt warm angeweht auf einem unabsehlichen, silbernen, aus den zu zartem Schaum geschlagenen Sternen zusammenwallenden Meere weiter... Ich schiffte in dem über die Nachterde hingedeckten Wolkenhimmel, in dessen Fluth der
aufgegangene Mond wie ein Schwan mit seinem Glanzgefieder alle Wogen durchstrahlend stand, eh er herausflog ins Blaue.
(S.159, Z.33ff.)

Statt wie ein Wasservogel länger über der weißen Fläche wegzustreifen, riß ich meine Lufthähne auf und tauchte mich unter in die lichte Fluth der zusammenspringenden Naphtaquellen -
(S.160, Z.4ff.)

Endlich trat die Sonne wie ein Musengott in den Morgen und nahm die Erde als ihr Saitenspiel in die Hand und griff in alle Saiten.
(S.160, Z.37ff.)

Offenbar geht Kulka davon aus, daß nur ein Werkganzes individuelles Eigentum ist, der geformte Teil jedoch anderen Autoren zur Verfügung steht und die Veränderung der Anordnung der Teile genügt, um ein neues Werk hervorzubringen, das original genug ist, um unter dem Namen des Umgestalters erscheinen zu können: "daß [mit Kulkas eigenen Worten] die dichteste Gestaltung außerhalb ihres Gefüges wieder Rohmaterial wird und, sobald ein anderer Dichter sie empfängt, eine andere" (11). Dabei ist zu beachten, daß Kulka sich nicht auf das vielgebrauchte, "moderne" Kunstmittel des "einmontierten" lyrischen Zitats beschränkt (dergestalt daß der geformte Text eines andern nur als ein Baustein unter vielen für das neue Gedicht fungiert, welches grundsätzlich die Freiheit hat, aus dem Gesamtrepertoire der Sprache, mit allen ihren Möglichkeiten der Neubildung, zu schöpfen) (12), sondern versucht, soweit wie ohne Preisgabe eines künstlerischen Anspruchs möglich, mit einem begrenzten Text Jean Pauls als dem Gesamtrepertoire des Gedichts auszukommen (womit er also noch beträchtlich über Centonen hinausgeht, die das Gesamtwerk eines vorbildlichen Autors als "Steinbruch" benutzen). Diese Intention ist erkennbar, wiewohl das Kunststück nicht ganz geglückt ist: Um des Reimes und um der Strophe willen war Kulka gezwungen, auf zusätzliche "Materialien" auszugreifen. Die Metapher der "Umschmelzung" oder "Umgießung in eine andere Form" läßt sich hier nicht mehr anwenden, da die Form Jean Pauls nicht in ein "Elementares" entformt, sondern in geformte Einzelteile (Bilder, Sätze usw.) zerlegt wird, die in Kulkas Gedicht centoartig wieder zusammengefügt sind. Daher trifft hier in besonders hohem Maß der Begriff einer poetischen "Montage" zu - die Prosa wird zum Gedicht "ummontiert" (13), wobei in diesem Fall eine "Zitat-Montage" im prägnantesten Sinn des Begriffs vorliegt, da schon die Überschrift auf den Zitat-Charakter anspielt und dem Leser den Kontext nennt (im Unterschied zur "Szene").

Einen künstlerischen Gewinn ergibt dieser Versuch offenbar nicht. Bedenkt man, daß Kulka sich unter seinen selbstauferlegten exzeptionellen Bedingungen nicht ein freirhythmisches, sondern ein in vierzeilige Strophen gegliedertes, regelmäßig gereimtes Gedicht als Aufgabe gesetzt hat, dann verwundert es freilich nicht, wenn das Produkt sowohl gegenüber der Prosa Jean Pauls als auch gegenüber den besten unter Kulkas sonstigen Gedichten zurückbleibt (die Oskar Loerke geschätzt und wiederholt öffentlich angezeigt hat) (14). Kulka sieht sich zu relativ verbrauchten Reimen gezwungen (Sternen/Fernen, Flut/Glut, u.ä.), und die Übertragung in sein metrisches Schema (das er ohnehin nicht durchhält) erkauft er mit einem Verlust an Bewegung: Die flutenden Bilder scheinen immer wieder zu erstarren. Der Sprachfluß bricht sich an expressionistischen, Satz- und Zeilenschlüsse meist zur Deckung bringenden Strophenblöcken, die die "singende Prosa" Jean Pauls nicht ästhetisch zu steigern vermögen; diese,
"selbstgetrieben und blitzschnell wechselnd in göttlichen Launen", ist "scharf unterschieden vom Gedicht, das die Tonstufen vereinfacht und das Zuckende der rhythmischen Kurve meidet" (15).

Entsprechend Bedenkliches ließe sich, detailliert, auch an unserem letzten Exempel zeigen, dem Gedicht "Nebeneinander knieend" (a.a.O., 1. Buch, 1920, S.117), das in allen Versen auf einem Brief Emanuels an Horion beruht, dem Brief über den "Sommertag... den schönsten, wo ich mit Deinem Julius zum ersten Male betend durch Lichtwolken und durch Harmonien drang, und mit ihm vor einem donnernden Throne niederfiel... " (16).

Georg Kulka | Nebeneinander knieend

Wälder liegen saugend am Himmel. Himmel hat Röte und Ränder.
Trunken von Wolken stehen die Gipfel in Wollust fest.
Seufzer haucht in rauchendes Korn und verläßt
Fliegende Ernten der Länder.

Samenstaubwolke stäubt auf, liebend und tötlich,
Taube im blendenden Blau schneeflockenleicht.
Sonne gießt warm aus sich ihr Blut und erbleicht.
Aber die Erde schwillt rötlich.

Luftmeere wanken. Ströme brausen die Laufbahn der Sonne zurück,
Brechen die Wälder in ihrem Bett und richten sich auf: das Gewölbe zerreißt.
Dämpfe werfen sich unter den Himmel zerstückt,
Der durch zerrissenen Vorhang Sternallerheiligstes gleißt.

Denn der Gedanke hat seinen Namen in donnernden Sternen gesät
Und hat ihn gesät in irdischen Krumen,
Er spült meine Stirn in dem glühenden Umkreis des Raums und der Majestät
Und er schleudert sich neben mich und sammelt mich sanft aus den Blumen.

Aus "Hesperus" (Jean Paul's Werke, Siebenter bis zehnter Theil):

... die Wälder liegen saugend am Himmel, und trunken von Wolken stehen alle Gipfel in stiller Wollust fest. - Ein Zephyr, nicht stärker als ein warmer Seufzer der Liebe, hauchet vor unsern Wangen vorbei unter die rauchenden Kornblüthen und treibt Samen-Staubwolken auf, und ein Lüftchen ums andere gaukelt und spielt mit den fliegenden Ernten der Länder; aber es legt sie uns hin, wenn es gespielt hat.--
(S.355, Z.25ff.)

Jetzo flieht eine weiße Taube, wie eine große Schneeflocke, blendend über das tiefe Blau.
(S.355, Z.41ff.)

... 0, Du holde, so sanft hinter dem Erdenufer zurückblickende Sonne, Du Mutterauge der Welt, Dein Abendlicht vergießest Du ja so warm und langsam wie rinnendes Blut aus Dir und erblassest sinkend; aber die Erde, in Fruchtschnüren und Blumenbändern aufgehangen und an Dich gelegt, röthet sich neugeschaffen und vor schwellender Kraft.
(S.356, Z.13ff.)

Das hohe Luftmeer wankte, und ein breiter Strom, in dessen Bette Wälder niedergebogen lagen, brauste durch den Himmel die Laufbahn der Sonne zurück.
(S.356, Z.28ff.)

Am Fuße des Gewölbes leckten durchsichtige Blitze, und der Donner schlug dreimal an das schwarze Gewölbe. Aber der Sturm richtete sich auf und riß es aus einander; er trieb die fliegenden Trümmer des zerbrochenen Gefängnisses durch das Blau und warf die zerstückten Dampfmassen unter den Himmel hinab - und noch lange braust' er allein über die offene Erde fort, durch die lichte gereinigte Ebene... Aber über ihm, hinter dem weggerissenen Vorhang glänzte das Allerheiligste, die Sternennacht.
(S.356, Z.33ff.)

... das Herz, das auf ihr ruht, ist noch größer als die Erde und größer als die Sonne... Denn es allein denkt den größten Gedanken.
(S.356, Z.24ff.)

Denn der Unendliche hat in den Himmel seinen Namen in glühenden Sternen gesäet; aber auf der Erde hat er seinen Namen in sanften Blumen gesäet.
(S.357, Z.3ff.)

Wir knien hier auf dieser kleinen Erde vor der Unendlichkeit, vor der unermeßlichen über uns schwebenden Welt, vor dem leuchtenden Umkreis des Raums.
(S.357, Z.11ff.)

Auch hier macht sich der Formzwang des Gedichts negativ bemerkbar. Beispielsweise sind die "Ränder", die der Himmel in der ersten Zeile "hat", nur durch "Länder" provoziert; und das "verläßt" der 3. Zeile antwortet auf Jean Pauls "fest", kann sich jedoch mit dessen "aber es legt sie uns hin, wenn es gespielt hat", nicht messen.

Lyrische Prosa verwandelt sich also zu stellenweise unlyrischem Vers. Dennoch erscheinen diese Experimente Kulkas in mancher Hinsicht interessant. Sie können, wie schon angedeutet, mit als praktische Exempel dienen für die Erörterung von Gesetzlichkeiten und Bedenklichkeiten des Versuchs, geformte Sprache der Erzählkunst zum Gedicht umzuformen, als Belege für eine Extremform der "Montage", der Nutzung des Zitats in der lyrischen Kunst, für einen prosa-abhängigen, nichtparodistischen Sonderfall des modernen Cento-Gedichts (16a).

Unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt dokumentieren sie einen Zusammenhang zwischen dem Expressionismus und Jean Paul (17) - hier dem lyrischen Jean Paul der ins Metaphysische verweisenden Landschaftsvisionen. Da Kulkas esoterische Lyrik außer Else Lasker-Schüler, Trakl und Stramm auch Stefan George als Vorbild voraussetzt, darf man annehmen, daß dessen Jean-Paul-Enthusiasmus eine Vermittlerrolle gespielt hat (18). Wenn ein junger Autor von dezidierter Modernität - wie Kulka - sich Jean Paulsche Sprachbestandteile ostentativ anzueignen versucht, zeigt das an, daß er diese als aktuell empfindet, ihren Schöpfer in einer wesentlichen Hinsicht als Verwandten seiner eigenen Generation. Kulkas Dissertation bestätigt dies; in ihrer Einleitung bestimmt er den "Wechsel von Rausch und ratio, von Einfühlung und Abstraktion" (S.11) als ein "allgemeines Hauptmerkmal" des Schaffens von Jean Paul; er erfaßt diesen dergestalt mit charakteristischen Formeln aus Selbstdeutungen und Manifesten, Kunst- und Literaturdiskussionen expressionistischer Zirkel (19). Während der Hauptteil der Arbeit ausdrücklich "nicht literarhistorischen noch philologischen" Fragen nachgeht, sondern bemüht ist, in einer Darstellung der Unsterblichkeits-"Beweise" Jean Pauls, "einen Beitrag zur Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts zu liefern" (S.3), versucht Kulka im letzten Kapitel die "Affinitäten" des "Jean Paulschen Unsterblichkeitsproblems zur Gegenwart auf-zu-zeigen" (S.67). Er führt es auf das zugrunde liegende "Ich-Erlebnis" (ein Absolutbeitserlebnis) zurück. Doch stehe neben dem "Ich" als "dem ursprünglich empfundenen Absoluten im Wirbel der Relationen" bei Jean Paul der "Wahn", "der Ich" als "unheimliches Gespenst der Selbstentfremdung mit der Wirkung des Basiliskenblicks" (S.66). Der Reflexionstrieb Jean Pauls hänge damit zusammen: "einen halben Tag geht er dann, wie er sagt, um sein Ich herum, und sieht bei diesem stillen Himmel in das ruhige Meer seines Innern hinab, bis zu seinen grünen Wiesen und zu den alten Schiffen, die längst versunken sind" (S.66) - (eine Stelle, die zugleich auf ein Motiv der modernen Lyrik anzuspielen scheint). Aus diesen Spannungen deutet Kulka - in der extremistischen Sprache seiner literarischen "Generation" - einen Teil des Werkes. "Es war damals, als hätten sich die latenten, noch unausgebeuteten Kräfte seines Innern mit einemmal ihrer Fesseln entledigen wollen und als wäre sein Organismus nicht im Stande gewesen, diesen Ansturm aus-zu-halten. Seine ersten großen Romane haben alle einen explosiven Charakter, zeigen alle einen Vulkanismus des Gefühls, der seinesgleichen nicht findet..." (S.65). Er schließt seine Jean-Paul-Analyse mit dem Satz: "Nie hatte die deutsche Philosophie vor Jean Paul und nie hat sie nach ihm wieder in der deutschen Dichtung solche Formen gefunden "(S.66f.).

[Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Jg. 40 (1966) Heft 4, S. 567-576]

Anmerkungen
1) Zur Biographie vgl. das Nachwort des Auswahlbändchens von Georg Kulka, Aufzeichnung und Lyrik, Stuttgart 1963, das Hermann Kasack und Helmut Kreuzer in Max Benses Schriftenreihe "rot" als Nr.20 herausgegeben haben.
2) Kulka arbeitete auch an der "Aktion" mit, ferner an den Zeitschriften "Menschen" (Jg. 1929), "Die schöne Rarität", "Der Mensch", ,Der Friede", "Daimon", am Jahrbuch "Die Erhebung" (1920), den Anthologien "Die Botschaft" (1920) und "Verkündigung" (1922). Vgl. den Katalog Nr.7 (von P. Raabe und H.L. Greve unter Mitarbeit von I. Grüninger) der Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums Marbach a.N.: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923. Im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft herausgegeben von Bernhard Zeller, 1960. Vgl. ferner P. Raabe, Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus 1910-1921, Stuttgart 1964.
3) Georg Kulka, Der Unsterblichkeitsgedanke bei Jean Paul bis zum Jahre 1797, mit besonderer Berücksichtigung des Kampanerthales. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte des 18. Jhs. - Das verstellte Exemplar der Universitätsbibliotbek Wien (Nr. 15086) ist im Frühjahr 1964 aufgefunden worden. In der Jean-Paul-Forschung ist die Arbeit u.W. nie benutzt worden; Eduard Berend nahm ihren Titel in die Neuauflage seiner Jean-Paul-Bibliographie (neu bearbeitet und ergänzt durch Johannes Krogoll, Stuttgart 1963) als "verschollen" auf.
4) Vgl. "Die Fackel", Jahrg. 1920-22, Nr.546-550, S.45-67 (Ein neuer Mann); Nr.552/553, S.5-13 (Die Gefährten) und S.24-22 (Der Gott des Lachens); dazu: A. Ehrenstein, Karl Kraus; mit Anhang (den wir im folgenden mehrmals zitieren): Kulka, Der Götze des Lachens, in: Die Gefährten, Jahrgang 3, Wien 1920; Kulka/Przygode, Der Zustand Karl Kraus (Der Götze des Lachens. Fahrt wohl), Potsdam 1920 (Beilage zum 2. Buch der 2. Folge der "Dichtung").
5) Kulka, Götze, a.a.O. S.VII (in der Quelle gesperrt).
6) a.a.O. S.II: "Verlage und Editoren, die ich ... ermahnte, Ausgaben von Jean Pauls Werken zu veranstalten, und an den gewaltigen ungedruckten Nachlaß erinnerte (den ich gefahrlos hätte benützen können) ... entschieden, Jean Paul dürfe und müsse warten... Wen solche Möglichkeit eines Unternehmens, in dem eine Arbeit von Kulka bereitwilliger und mit Aussicht auf tiefere Wirkung gedruckt wird als eine Jean Pauls, verwundert, der erwäge, daß die Exhumierung eines Toten... nur pflichtgemäße Neugierde erweckt, und erfahre, daß Fragmente über das Theater von Novalis, die ich für das 3. Heft jener Zeitschrift ausgewählt, und Szenen aus Claudels Agamemnon, die ich für ihr 9. Heft übersetzt hatte, zugunsten gegenwärtiger oder lokaler Belanglosigkeiten um die Hälfte gekürzt, ja daß Hölderlins allerheiligste Anmerkungen zum Ödipus beschnitten wurden, weil die Dringlichkeit eines neunseitenlangen Inszenierungsplaidoyers es gebot." - Kulka hatte für seine Dissertation auch unveröffentlichtes Material benutzt: "die Handschriften, soweit sie im Faszikel auf der kgl. Bibliothek zu Berlin erhalten sind" (S.3). In seiner Arbeit äußert er sich über das Fehlen einer revidierten Gesamtausgabe, "zu der wir das unsere beizutragen im Begriffe sind" (S.13 Anmerkung 3). Die erwähnten Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden, mögen die Verwirklichung des Plans zunächst verhindert haben, den Kulka nach der Plagiatsaffäre wohl endgültig begrub.
7) a.a.O. S.III: "Die Unterzeichneten erklären in Kenntnis der makellosen Ehrenhaftigkeit Georg Kulkas ihre Überzeugung, daß hier weder von 'Dieberei', noch von einem Betrugsfall", 'der nur zufällig in der literarischen Sphäre spielt', noch von der Spekulation, 'daß die Unbildung ihn (G.K.) nicht entdecken werde', die Rede sein kann".
8) Zitate nach der wohl von Kulka benutzten Ausgabe: Jean Paul's Werke, Berlin, Hempel o.J. In der Quelle kein Kursivdruck.
9) Zu "Brief Horions" vgl. "Hesperus", a.a.0. S.354, Zeile 4ff. - Als Beispiel für die Übernahme von Jean-Paul-Stellen in eine "Aufzeichnung" vgl. Kulkas Text "Beschwichtigen" in der "Dichtung" (2. Folge 2. Buch, S.68). Darin heißt es: "Lege dich auf dein Kissen voller Freudenblumen, die du zertreten hast... Kleiner Sarg glitt aus zwei Armen in die weite Wiege wie in einen Blumenkelch - sinke nur gerne zurück". Vgl. dazu im Dritten Bändchen der "Herbst-Blumine" Jean Pauls (a.a.0. 45-47.Teil, S.263): ".... zuweilen glitt aus zwei Armen ein kleiner Kindersarg in die zweite Wiege des Lebens wie in einen Blumenkelch... sinket nur gern zurück auf das letzte weichste Kissen, von Blumen angefüllt!"
10) Dieser Text wurde alsbald als Jean-Paul-"Übertragung" erkannt: Hermann Kasack gewährte uns freundlicherweise Einblick in sein Exemplar des "Seebuchs", in dem er schon vor Jahrzehnten mehrere der oben zitierten Stellen angekreuzt hatte. Außer ihm sind wir Frau Anna Höllering-Kulka (Wien) und Professor Eduard Berend (Marbach) für ihre Unterstützug zu Dank verpflichtet.
11) Kulka, Götze, a.a.O. S.IV.
12) Vgl. R. Döhl, Lyrik nach 1945, Hefte für Literatur und Kritik, Jahrgang 1, Heft 2, Wien 1960, S.70f.
13) Nicht ganz ohne freiwillige, unaufgedrungene Änderungen: z.B. wird der Singular "ich" zum Plural "wir"; der formalen Modernisierung dient die Beseitigung von "Wie"-Vergleichen ("Bleicher Engel Sonne", "der Mond, der Schwan").
14) Vgl. Oskar Loerke, Gerichtstage, in: Die Neue Rundschau 1920, Band 2, S. 860f.; die Kritik ist teilweise abgedruckt im Expressionismus-Katalog (s. Anmerkung 2), S.274. Vgl. ferner Oskar Loerke, Der Bücherkarren. Besprechungen im "Berliner Börsen-Courier" 1910-1928. Band 34 der Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Heidelberg/Darmstadt, 1965.
15) Vgl. Max Kommerell, Jean Paul, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 1939, S.30 und S. 32f.
16) Hesperus a.a.O. S.354ff.
16a) Die Literaturwissenschaft bat sich u.W. bisher nur mit der Cento-Technik der antiken Tradition befaßt, noch nicht mit der des 20. Jahrhunderts.
17) Einen Hinweis auf eine Verwandtschaft zwischen den Landschaften Jean Pauls und expressionistischen Stilzügen hat wohl zuerst Rudolf Henz gegeben (Die Landschafts-Darstellung bei Jean Paul, Wien 1924, Deutsche Kultur, H. 1). Kurze Bekenntnisse zu Jean Paul findet man z.B. bei Ludwig Meidner (Im Nacken das Sternenmeer, Leipzig 1920, vgl. S.74ff.), Kurt Hiller (in der Rede zur Eröffnung des Berliner "Cabaret Gnu" [1912], abgedruckt in der "Weisheit der Langenweile", Bd. I, Leipzig 1913, S.246), Kasimir Edschmid (im Manifest "Über die dichterische Jugend", von 1918; wiederabgedruckt im Band "Frühe Manifeste", Neuwied/Rh., 1960, S.22). Den Jean-Paul-Enthusiasmus Georges vermittelte sein Verehrer Johannes Nohl sowohl an die anarchistisch-radikalen wie an die avantgardistischen deutschen Literatenzirkel zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg, in Berlin und München, Paris und Ascona. "Er hatte die Werke Jean Pauls nicht nur bis zum letzten Buchstaben gelesen, sondern mit philologischer Genauigkeit studiert" (E. Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1958, S.113; vgl. Nohls Jean-Paul-Publikationen in Berends Bibliographie). Ein anderer Lobredner Jean Pauls unter den Expressionisten war der Stirnerianer Anselm Ruest, Mitherausgeber des "Einzigen" und der "Bücherei Maiandros" (mit dem "Mistral"), der 1911 eine Jean-Paul-Anthologie "Im Garten der Freude" erscheinen ließ. - Jean-Paul-Texte wurden in den "Weißen Blättern", den "Argonauten" und dem "Hohen Ufer" abgedruckt (vgl. Raabe, Die Zeitschriften... [s. Anm. 2]).
18) Bezeichnenderweise hat Kulkas Gedicht "Klang" (Die Dichtung 2/2, S.65) ein Motto von George; und am gleichen Ort S.54 wird Treuge in einem Vers genannt. Die von George und Wolfskehl herausgegebene Anthologie "Jean Paul. Stundenbuch für seine Verehrer", Berlin 1900, enthält auch die oben aufgewiesenen Vorlagen für Kulkas "Brief Horions" und "Nebeneinander knieend" aus "Hesperus".
19) Wilhelm Worringers Dissertation "Abstraktion und Einfühlung" erschien 1908 im Handel und lag 1920 bereits in 9. Auflage vor. Das erste Formelpaar begegnet in zahlreichen Vatiationen (bis bin zu Edgar Lohners auf Benn bezogenen Titel "Passion und Intellekt", Neuwied/Rh. 1961); vgl. z.B. die "intellektischen Ekstasen", die Kurt Hiller (a.a.O. S.118) gefordert hat oder Yvan Golls These (von 1914): "Expressionismus nähert sich der Klassik. Er hat mehr Gehirn als Gefühl, er ist mehr Extase als Traum". (Zit. nach Pörtner, Literatur-Revolution 191O-1925. Dokumente, Manifeste, Programme, Band 2, Neuwied/Rh. 1961, S.177).