Vielleicht müßte ich, die heutige Ausstellung einleitend, mich noch einmal auf das einladende Faltblatt beziehen, das offensichtlich zu kleinen Mißverständnissen geführt hat. Selbstverständlich sind die hier gezeigten Exponate kein Beitrag zum Totensonntag. Doch haben alle an dieser Ausstellung beteiligten Künstlerinnen - jede auf ihre Weise - in ihrem Werk den Tod als unabdingbaren Teil des Lebens ebenso wie als vom Menschen verschuldete Gefährdung des Lebens thematisiert, so daß bei den Vorgesprächen zu dieser Ausstellung Tod der gemeinsame kleinste Nenner war, auf den sich drei sehr unterschiedliche Künstlertemperamente bringen ließen.
Auch ist es ja so, daß der Tod in der bildenden Kunst ein von ihren Anfängen an gewichtiges Thema darstellt, am exemplarischsten in den Totentänzen, unübersehbar auch dort, wo das 17. Jahrhundert dem carpe diem ein memento mori stets zur Seite stellte. Und noch in der Tradition der Arcadia-Bilder, also der Anspielung des goldenen Zeitalters in der Schäferidylle, sind Totenkopf oder Sarkophag Bestandteile dieser Landschaft, welcher derart ein et in Arcadia ego eingeschrieben ist, was den Hirten und über sie dem Betrachter besagen will: selbst in Arkadien herrsche ich, der Tod. (Ich habe dies vor einiger Zeit bei meiner Erklärung der Zeh'schen Landschaftsmalerei in dieser Galerie etwas ausführlicher dargestellt und darf heute aus Zeitgründen einfach darauf verweisen).
Die augenblickliche Ausstellung in der Euskirchener Rathaus Galerie präsentiert Werkbeispiele dreier Künstlerinnen, die gleichsam drei Generationen angehören. Und wie im Längsschnitt zeigt sie ansatzweise auch im Querschnitt, in welcher Breite Künstlerinnen heute in der Kunstszene präsent sind. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ich möchte im folgenden keine Damenrede halten. Festhalten möchte ich dagegen, daß Künstlerinnen heute durchaus gleichberechtigt den Kunstmarkt beliefern, ja daß sie auf ihm eine durchaus eigene Position einnehmen. Indem zum Beispiel Heide Göller gegenüber der Popularisierung und Verflachung des Surrealismus durch René Magritte eine sehr eigene Hintersinnigkeit ihren Farbstiftzeichnungen unterlegt; indem zum Beispiel Ursula Laquay-IHM ihren durchaus kritischen Materialbildern und -kästen dennoch Poetisches attribuiert; indem das umfängliche Werk Alida Treichlers sich seit langem durch eine Eigenständigkeit auszeichnet, die der Selbständigkeit der Hölzel-Schülerin Ida Kerkovius durchaus vergleichbar ist.
Ida Kerkovius, schon früh Schülerin Adolf Hölzels und ihrem Lehrer Zeit ihres Lebens verpflichtet, hatte aufgrund ihrer ursprünglichen farbigen Phantasie (Venzmer) und infolge eines konsequenten Fortschreitens des einmal eingeschlagenen Weges sehr schnell zu einem persönlichen unverwechselbaren Stil gefunden; sie hatte dem absoluten und gegenstandslosen Bild an der Grenze zur gegenständlichen Assoziation Möglichkeiten gewonnen, die in einem Ansatz auch fur Alida Treichler impulsgebend wurden. Einen weiteren Ansatz für die Ölbilder, Pastelle, Materialbilder und die hier auch ausgestellten Grabtücher Alida Treichlers dürfen wir fraglos in der Ausbildung der Künstlerin als Bildweberin sehen. Durch sie war vor der Ausbildung als bildende Künstlerin ein Verständnis der Kunst auch als Handwerk garantiert, das manchem jungen Wilden von heute gut anstünde; das im Falle Alida Treichlers zu einer Solidität des Handwerklichen führte, die alle ihre Arbeiten auszeichnet. Ein dritter wesentlicher Ansatz der Kunst Alida Treichlers erhellt aus ihrer Biographie. In Antofagasta in Chile geboren, waren für ihre Kindheit Eindrücke der Volkskunst bestimmend und damit ästhetische Fixierungen traditioneller Rituale, die für die Einschätzung der Objektbilder und Grabtücher nicht unwichtig sind.
In diesem Dreieck zwischen Volkskunst, Kunsthandwerk und Hölzelschule muß das Werk Alida Treichlers also beschrieben werden, will man seinen vielfältigen Aspekten gerecht werden. Wobei sich interessante hermeneutische Konstellationen ergeben können. Denn das freie Spiel des Zeichenstiftes, das zu Gespinsten und Formansätzen führt, aus denen erst die Malerin Form und oft fantastische Thematik entwickelt, ist einerseits durchaus Konsequenz Hölzelscher Lehre, wäre andererseits für die spielerische Volkskunst gleichfalls geltend zu machen. Ein zweites Beispiel: die von Alida Treichler äls Bildträger bevorzugte grobe Sackleinwand ist einerseits die Hülle, in der wir z.B. aus Südamerika den Kaffee importieren, sie erinnert andererseits aber auch an die für das Teppichknüpfen vorausgesetzten Kette und Schuß. Entscheidend wird immer, auf was Alida Treichler mit ihrer Arbeit hinaus will. So wird bei den Ölbildern dieser Ausstellung neben dem anfänglich freien Spiel der Form auch einiges von Hölzels Farbauffassung und -lehre bedeutend. Wiederum in sehr eigenständiger, allenfalls über Ida Kerkovius vermittelter Weise, etwa, wenn Alida Treichler Blau in Blau arbeitet, um schließlich kühles Rot zuzusetzen; wobei die Farbklänge, etwa in den rötlich-braunen Arbeiten, weitergehende Tendenzen, etwa zum Vegetativen, enthalten. Interpretatorisch ist dabei zu berücksichtigen, daß der gewählte Bildträger oft nicht zur Gänze farblich gedeckt wird, daß seine Fransen strukturell, seine Löcher und Beschädigungen semantisch ins Bildganze integriert sind und als Störung, Verletzung, ja sogar Schmerz interpretiert werden können, wie ich es in dem Einladungsfaltblatt für die Grabttücher vorgeschlagen habe, mit dem Zusatz, daß es gerade der gewählte Bildträger ist, der hier alte volkstümliche Rituale assoziativ herbeiruft, an Raritätenkästen oder Schreine erinnern kann. Und dabei - wie auch die größeren Ölbilder - Mythisches mit ästhetischen Mitteln zu entwerfen scheint.
Mit ästhetischen Mitteln auf Bedrohliches hinweisen wollen die Farbstiftzeichnungen Heide Göllers. Wie das Werk Alida Treichlers beschränkt sich auch das bisher vorliegende Oeuvre Heide Göllers nicht auf eine Kunstart allein, sondern schließt neben den Farbstiftzeichnungen, die fraglos im Mittelpunkt stehen, auch Materialbilder entweder als Vorstufe der Zeichnungen oder als selbständige Kunstäußerung mit ein. Ein derart selbständiges Materialbild hat Heide Göller "Maske" getitelt.
Das ist anders wie bei Alida Treichlers Maskenbild auf der Staffelei in einer Schicht sicherlich assoziiert durch die zufällige Form des dominierenden Gegenstandes; und hier historisch verwandt den für den Surrealismus charakteristischen Objets trouvés und ihrer Interpretation. In einer zweiten Schicht aber verweist das dominierende Fundstück - ein geplatzter Kürbis - auf eine Frucht, die auch als Kürbiskopf bezeichnet, als Hohlkürbis verwendet wird. Positiv und als Ort, "in welche(n) ein Großgeist seine Denkkraft und Alleinvernunft als Kerze hineinsetzt", kennt ihn "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn 1833 in "Merke zum deutschen Volkstum". Aber noch andere Funktionen sind ihm volkstümlich eigen, wenn Mensch oder Fee im Märchen in einen Kürbis verwandelt werden oder eine in einer Kürbismaske angezündete Kerze die bösen Geister vertreiben soll. Und dann ist es in der Tat nicht mehr weit bis zu den Pest- und Schreckensmasken der Peruaner, Australier und Afrikaner, den Angstmasken der primitiven Urvölker, für die sich, in ihrem Kampf gegen die pathologisch wahnsinnigen Zeitläufte, die Dadaisten besonders interessierten. Das alles ist bei Bewertung der Arbeiten Heide Göllers, ohne sie überzustrapazieren, mitzubedenken, bei Arbeiten, die - gemessen an der eher spielerisch-zufälligen Bildentwicklung Alida Treichlers - durchaus als "literarischt" bezeichnet werden dürfen. Denn in der Regel ist bei ihnen ein Gedanke, eine Gedankenkette, allgemein: die thematische Fixierung zunächst da, um dann allerdings mit den Mitteln des Zeichners umgesetzt zu werden.
Bei ihrer thematischen Fixierung und gleichsam als Hilfsmittel für die ästhetische Umsetzung bedient sich Heide Göller - so im Falle der auch im Einladungsfaltblatt wiedergegebenen Zeichnung - gerne der Materialcollage, die dann zeichnerisch trasponiert wird. Indem sie Eier, Federn, Blütenblätter in einer Glasschale arrangiert, tut sie stellvertretend das, was die endgültige Zeichnung beklagen wird, nämlich, daß der Mensch in alles eingreifen muß, mit der Gentechnik noch in den letzten tabuisierten Naturablauf. Und sie zeigt dies, indem sie z.B. Ei und Feder dem Bereich entzieht, dem sie eigentlich zugehören: der Nestwärme, und in der Kälte einer Glasschale zur Schau stellt.
Nicht anders wollen eigentlich alle hier ausgestellten Arbeiten Heide Göllers "gelesen" werden; der "Zauberlehrling" beispielsweise unter Zuhilfenahme von Goethes gleichnamigem Gedicht. Die Zeichnung "Am Anfang war..." zeigt mit deutlicher Anspielung auf die Genesis einen in seiner Vorlage von Heide Göller selbst gestalteten Stein und Wasser, also einen Zustand, aus dem alles entstanden sein könnte (auch wenn Vulkanisten und Neptunisten wie zu Goethes Zeiten die Federn spitzen würden). Und zugleich zeigt die Zeichnung einen Zustand, aus dem vielleicht noch einmal alles entstehen könnte, wenn wir das, was einmal entstanden war, gründlich zerstört haben.
Diese hier implizit enthaltene Hoffnung Heide Göllers wird explizit sichtbar in der Zeichnung "Geschenk", denn auf ihr ist nicht nur der Himmel eingesperrt in das Gitter einer Lampe, die als Geschenk von der Fragwürdigkeit einer Pandorabüchse wäre; auf dieser Zeichnung verteilen sich auch Blätter als Zeichen einer Hoffnung.
Von diesem Prinzip Hoffnung (und vielleicht ist dies sogar etwas, daß dem komplexeren Denken einer Künstlerin eher eignet als der Radikalität ihrer männlichen Kollegen) - von diesem Prinzip Hoffnung wäre schließlich auch bei der dritten der Ausstellerinnen zu sprechen. Und wiederum beginnt auch bei Ursula Laquay-IHM die Bestandaufnahme zunächst negativ. Das Bild, auf das ich dabei aus bin, zeigt einen künstlichen Baum, künstlich, was seine Stoffkrone betrifft, und zugleich künstlich ernährt über ein Ader- und Schlauchsystem, das in/auf vielen Arbeiten dieser Künstlerin eine Rolle spielt. Die Baumkrone aus drapiertem weißem Stoff ist zugleich geeignet, weiter in die letztjährigen Arbeiten vorzudringen. Wobei festzuhalten wäre, daß das, was ursprünglich Bildträger ist, die Leinwand, auffallend häufig zum Bildelement mit fast ikonographischer Funktion wird, zum Beispiel in einem auf Beschädigung, Vergänglichkeit, Endzeit verweisenden Bild mit dem bezeichnenden Titel "Nekropole". Was auf ihm zu besichtigen ist, ist Stoff als Bildmaterial und -element, drapiert in einem Assoziationsfeld zwischen Bett- und Leichentuch, Verband und letzter Hülle.
"Überall zuhause und nirgendwo sicher" hat Ursula Laquay-IHM andere Arbeiten genannt. Aber - und hier beginnt das Prinzip Hoffnung zu greifen - sie hat in letzter Zeit auch das Bildmaterial Stoff bzw. Leinwand, also den ursprünglichen Bildträger mit Gegenständen unterlegt, die nicht sichtbar werden, sich dennoch unübersehbar andeuten. Und sie hat eine ihrer letzten Arbeiten "Arche Noah" genannt. Wohl kaum zufällig tritt der quer durch die "Nekropole" gelegte, sie wesentlich determinierende Stoff im Falle der "Arche Noah" fast in eine Rahmenfunktion zurück, nichts mehr verschleiernd, vielrnehr den Blick auf die Arche gleichsam frei machend.
Spricht man, was überdies ein weiterer gemeinsamer Nenner wäre, auf den man das Werk der hier ausstellenden Künstlerinnen partiell bringen könnte - spricht man von den Material- und Objektbildern Ursula Laquay-IHMs als Raritätenkästen oder -schreinen, genügt jedoch das, was sie als Raritäten aufheben, keinesfalls dem Anspruch des seltenen oder vorzüglichen Gegenstandes und hat dennoch seine Tradition. Auf dem Jahrmarkt - und was anderes ist unsere Welt weiß Gott nicht - Auf dem Jahrmarkt, lese ich bei Abraham a Sancta Clara, "kam mir unter die Augen eine Hütte, in welcher ein bekannter Spitalmeister feil hatte, Wunder wegen wolt ich erfahren, was doch dieser für Handelschaft führe, indem seine Waaren in lauter alte Spitallumpen eingewickelt, gar schlechte Raritäten versprachen."
Daß sich so "gar schlechte Raritäten" unter den Stoffen der Objektkästen und Bildobjekte Ursula Laquay-IHMs verbergen, ist allerdings nicht anzunehmen. Dafür ist die "Arche Noah" ein erster Garant. Und sie ist für mich in einem archetypischen Sinne zugleich ein zweiter Garant, wenn ich die "Nekropolen" Ursula Laquay-IHMs als Spiegelungen einer Reise durch die eigene Gegenwelt lese. Was übrigens auch mit den "Grabtüchern" Alida Treichlere möglich ist. Hier wie dort ist die Plazierung im Werk, die Reihenfolge des Entstehens von interpretatorischem Gewicht. Im Falle Ursula Laquay-IHMs würde ich in folgender Reihenfolge lesen: "Der künstliche Baum", "Nekropole", "Überall zuhause nirgendwo sicher" und "Arche Noah". Allerdings, so ganz ausgemacht will mir eine solche Reihe noch nicht scheinen. Dazu sind mir die Möglichkeiten, die die hier ausgestellten Arbeiten Ursula Laquay-IHMs (aber auch Heide Göllers und Alida Treichlers) andeuten, noch zu verdeckt. "Verdeckte Möglichkeiten" heißt auch eine der Arbeiten Ursula Laquay-IHMs, "mutiert" ist ein häufig anzutreffendes Titel-Epitheton ("Mutierte Gottesanbeterin", "Mutierter Nachtfalter", "Octopus mutiert").
Mit Mutationen ist das aber so eine Sache. Je nach Standpunkt schließen sie Möglichkeiten wie Gefahren ein. Nehme ich einmal an, der menschliche Erwerb des aufrechten Ganges sei eine Folge einer positiv zu bewertenden Mutation, muß ich andererseits feststellen, daß derjenige, der heute mit Atomen und Genen manipuliert und herumexperimentiert, unter dem Vorwand der Wissenschaft, wenig aus seiner positiven Mutation gemacht bat. Das aber wäre nicht die schlechteste Erkenntnis für den Betrachter einer Ausstellung, deren Arbeiten - alle in allem genommen - auch Gegenstände zum geistigen Gebrauch sind. Das würde die "Arche Noah" Ursula Laquay-IHMs, die dem gefangenen Himmel kontrastierten fliegenden Blätter Heide Göllers, die ästhetischen Mythen Alida Treichlers nicht überflüssig machen. Sie alle näm1ich bedeuten für die eingeläutete Endrunde möglicherweise eine Verlängerung.
[Rathaus Galerie Euskirchen, 21.9.1986]