Jedem Studenten der Theaterwissenschaft aber auch der Germanistik sollten die berühmten Berliner Aufführungen bekannt sein, die Erwin Piscator in Szene setzte (z.B. "Rasputin" nach A. Tolstoj). Und sie sind ihm fraglos ebenso bekannt wie der Eisenstein-Film "Panzerkreuzer Potjomkin". Was man dabei aber gerne übersieht, sind die Zusammenhänge, und so kann es geschehen, daß in einem theaterwissenschaftlichen Seminar zwar ausführlich über Stanislawski gehandelt wird, seine drei Schüler jedoch nicht einmal erwähnt werden, z. B. Wsewolod Meyerhold, der eine gigantische Inszenierung von Wladimir Majakowskis "Mysterium buffo" nicht nur auf die Bretter, ja sogar in den Moskauer Staatlichen Zirkus brachte. Wir erwähnen Meyerhold, weil die Piscator'schen, gewiß wichtigen. Experimente hier eine Wurzel haben. Und weil auch im Falle Eisensteins unübersehbare Beziehungen zum Meyerholdschen Theater und zu der (radikalen) Kunstzeitschrift LEF, die Majakowski bekanntlich seit 1923 herausgab, bestehen. Sowohl die Piscastor'schen Experimente auf dem Theater wie die Eisensteinschen Experimente im Film sind also nicht ohne die dramaturgischen Experimente Meyerholds zu verstehen; diese aber auch nicht - und das ist in unserem Zusammenhang das wichtigste - ohne die Figur Wladimir Majakowskis, der theoretisch und praktisch sozusagen an der Spitze dieser Theaterbewegung steht.
Aber weder in Ost noch West scheint man bisher in der Lage zu sein, das Werk dieses Mannes vorurteils- und vorbehaltlos zu betrachten, gar literaturhistorisch auszuwerten. Sowohl bei der Kritik wie beim Konsumenten scheinen Unsicherheiten zu herrschen, die ihren politischen Akzent hier wie dort deutlich vorweisen. In Rußland z.B. folgte einer Werkausgabe zu Lebzeiten die Majakowski-Ausgabe des Instituts für Weltliteratur, hrsg. von Dr. Perzow und einem Team von Literaturwissenschaftlern (1953-1961), die inzwischen so etwas wie ein Kuriosum darstellt, indem die "Prawda" zwar 1953 die Aufgabe einer "wissenschaftlichen" Gesamtausgabe stellte, ein anderes sakrosanktes Regierungsorgan - das "Parteileben" - jedoch nach Fertigstellung dieser Ausgabe 1961 eine scharfe Kritik an just diesem "wissenschaftlichen" Apparat übte, der mit seinen Anmerkungen und Kommentaren für den Leser eine Last und außerdem reine Papierverschwendung sei; diese Kritik wurde nach Widerspruch Dr. Perzows noch dahingehend detailliert, daß die Ausgabe unnötige biographische Angaben über die "Weißen" im Bürgerkrieg enthalte und sich überhaupt zu einer politischen Erklärung Chruschtschows in Gegensatz befinde; man empfahl die richtigen Schlußfolgerungen (sprich: Selbstkritik). - Was nun die Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" über diese Vorgänge berichtete, hatte fraglos mehr politischen [als] feuilletonistischen Tenor.
Zu der Publikation der Stücke Majakowskis in der Bibliothek Suhrkamp schrieb der Übersetzer Hugo Huppert ein Nachwort, das als Versuch gedacht ist, Majakowski literarisch (und auch in dem schon oben angedeuteten Sinne) einzuordnen. Dieser Versuch wurde von der "Weltwoche" (Zürich) flugs als ein Stück "ordinärster kommunistischer Propaganda" erklärt, womit man wieder beim Politischen war. Das zitiert denn auch das christmilitante Wochenblatt "Christ und Welt" mit der nuancierenden Einschränkung, "ordinär ist es (sc. das Nachwort) nicht, aber raffiniert". Zu Majakowski fiel den Rezensenten im allgemeinen auch nicht viel ein, allerdings immer noch mehr als Siegfried Melchinger, der in seinem "Theaterm der Gegenwart" (Fischer-Bücherei, 118) noch in der "verbesserten [sic] Auflage" Wiadimir Majakowski schlicht unterschlägt.
Immerhin gibt es inzwischen
in deutscher Sprache (zwar nicht die "Opere" Majakowskis, 5 Bände
1958, Rom, dennoch) eine Handvoll schmale Übertragungen, die Wichtiges
einer jedenfalls wünschenswerten Auswahlausgabe enthalten, so "Mysterium
buffo und andere Stücke" ("Die Wanze", "Das Schwitzbad") in der Bibliothek
Surkamp (Bd 58, Frankfurt 1960); eine kleine Auswahl "Gedichte", zweisprachig,
bei Langewiesche-Brandt (Ebenhausen 1959) in der Übertragung durch
Karl Dedecius; und eine Auswahl der "Schriften + Gedichte", "Vers und Hammer",
in der Sammlung Horizont (Arche, Zürich 1959), und darin einige wesentliche
programmatische Arbeiten
zum Thema Film und Theater, eine Biographie, den berühmten Essay "Wie
macht man Verse", das interessante erste Bühnenwerk Majakowskis: "Wladimir
Majakowski", sowie eine Anzahl Gedichte in der Übertragung von Hugo
Huppert (die aber schwächer erscheinen als die Übertragung von
Karl Dedecius, was sich durch den Paralleldruck und einige in beiden Bänden
gleichzeitig abgedruckte Gedichte sehr gut studieren läßt).
An den Verlegern liegt es also nicht, wenn gute Stücke russischer Poesie, wenn ein in Folge einer gedachten Weltrevolution notwendig entstandenes "Welttheater" großen Stils, wenn eine folgenreiche agitatorische Dramaturgie, wenn gegen eine Funktionärsbürokratie gerichtete Satiren, wenn Futurismus und Antifuturismus, kurz, wenn ein Stück qualifizierter Literatur in unsern Buchläden zwar nicht gerade ein Ladenhüter ist, so doch ein sehr behütetes Dasein fristet. Es ist endlich an der Zeit, Wiadimir Majakowski sine studio et ira zu lesen, bevor er musealer Bestandteil der Weltliteratur wird - oder/und bevor ein gewisser McCarthyanismus unserer öffentlichen Kritik Ergebnisse zeitigt, die zu befürchten wir Grund und die zu vermeiden sogenannte Geschichtsbücher bisher nicht gelehrt haben.
[forum academicum, Jg 13, H. 4, Dezember 1962, S. 18]