Sein Gelehrtenfleiß ist legendär. Professor Fritz Martini zum 60. Geburtstag | Versuch mit Altershausen. Doppelt belichtete Porträt: Fritz Martini zum Siebzigsten | "... immer bei einem Anfangen. Zum Tode Fritz Martinis
Sein Gelehrtenfleiß ist legendär. Professor Fritz Martini zum 60. Geburtstag
[Reinhard Döhl, Assistent am Institut für Literatur und Sprachwissenschaft an der Universität Stuttgart und Verfasser des Buches "Das literarische Werk Hans Arps 1903-1930", ha zum 60. Geburtstag von Professor Dr. Fritz Martini diese Würdigung geschrieben.]
Sehr verehrter Lehrer, gebeten, mich öffentlich in den Kreis der Gratulanten, die anläßlich Ihres 60. Geburtstages Ihnen alles Gute wünschen und versuchen werden, Ihre fast 40jährige Tätigkeit als Gelehrter und etwa 25jährige Tätigkeit als Lehrer an der hiesigen Universität zu würdigen, möchte ich mich dieser Verpflichtung nicht entziehen, wenn ich ihr auch nur mit Skrupeln nachkomme. Denn es ist mir unmöglich, Ihrer Forschertätigkeit auch nur annähernd gerecht zu werden, Ihre zahlreichen Veröffentlichungen zu beschreiben und als wissenschaftliche Leistungen im vielstimmigen Konzert der Literaturwissenschaft gebührend zu werten. Und auch über Sie als Lehrer kann ich nur subjektiv als der Schüler sprechen, der vor zehn Jahren zum erstenmal eines Ihrer Seminare, eine Ihrer Vorlesungen besuchte; und der es diesem Besuch, aber ebenso Ihrer geduldigen Bereitschaft zur privaten Unterweisung, zum privaten Gespräch verdankt, daß er wieder Freude an einer ihm fragwürdigen Germanistik bekam.
Wenn ich es richtig sehe, ist es wesentlich die Erkenntnis, daß Literatur ein Prozeß ist, daß Literaturwissenschaft als die Rede von Literatur an diesen Prozeß gebunden ist und in ihn hinein muß, will sie nicht selbstherrlich werden, die Sie unermüdlich zu vermitteln suchen in der Beschreibung einer literarischen Welt, die mit Goethes Worten "das Eigene" hat, "daß in ihr nichts zerstört wird, ohne daß etwas Neues daraus entsteht." Die Verpflichtung, immer nach diesem Neuen zu suchen, die Bereitschaft, dabei ständig in Frage zu stellen, das Wissen, daß derjenige, der wie auch immer mit Kunst zu tun hat (in Schwitterscher Überspitzung), den Begriff der Kunst erst loswerden muß, um zur Kunst zu gelangen, sind drei der nicht geringsten Lektionen, die ich bei Ihnen gelernt habe.
Als Leser Ihrer "Deutschen Literaturgeschichte" (15. Auflage 1968) habe ich anhand der rasch folgenden Auflagen eingesehen, daß und wie sehr man sich der Vorläufigkeit des einmal Formulierten bewußt sein muß. Als Leser Ihrer Prosa-Interpretationen ("Das Wagnis der Sprache", 5. Auflage 1964) und Teilnehmer an Ihren Interpretationsübungen habe ich verstanden, wie sehr Literatur zunächst wesentlich ein Ereignis der Sprache und wie wichtig der methodische Zugriff des Interpreten ist, aber auch, daß das so an Erkenntnis Gewonnene nur einen Vorschlag für das Verständnis darstellt, einen Diskussionsbeitrag für das Gespräch, das bereit ist, dem anderen zuzuhören und seine begründende Meinung als ebenso berechtigt und richtig zu konzidieren wie das Ergebnis der eigenen Arbeit. Als Mitarbeiter an Ihrer Wieland-Ausgabe (1964 ff.) konnte ich dies alles in Praxis erfahren, aber auch die Gewissenhaftigkeit schätzen lernen, mit der Sie bereit waren, die geringsten Einwände zu prüfen und selbst in Zweifelsfällen zu akzeptieren. Ihr Forschungsbericht, aber vor allem Ihr umfangreiches Werk über den sogenannten bürgerlichen Realismus (Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, 2. Auflage 1964) zusammen mit zahlreichen diesen Zeitraum betreffenden Aufsätzen seit Ihrer Dissertation über Wilhelm Raabe sind für mich schließlich nicht nur beispielhaft für einen eigentlich schon legendären Gelehrtenfleiß, sondern gleichzeitig schöner Beleg für Ihre Forderung, daß Darstellung von Literatur zugleich Geistes- und Formengeschichte umfassen, daß sie die kulturelle und soziale Umwelt, innerhalb derer Literatur lebt, mit einbeziehen müsse.
Ich weiß, wie sehr Sie Goethes Rede auf Wieland schätzen. Was Goethe dort unter anderem für Wieland betont, "Er lehnt sich auf gegen alles, was wir unter dem Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie, kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde, und wie diese Ungeister nur alle zu bezeichnen sein mögen" - das können Ihre Schüler und Mitarbeiter auch an Ihnen schätzen.
Vielleicht läßt sich von einem guten Literaturwissenschaftler schließlich nichts Besseres sagen als das, was Goethe an Wieland beobachtet hat, daß er sich "in der Klemme" finde "zwischen dem Denkbaren und dem Wirklichen, und indem er beide zu gewältigen und zu verbinden Mäßigung anraten muß, so muß er selbst an sich halten und, indem er gerecht sein will, vielseitig werden" - zum Beispiel zu jenem vielleicht letzten Polyhistor, den ich in Ihnen bewundere.
Und entgegen aller Gepflogenheit, nur demjenigen, der Geburtstag hat, Gutes zu wünschen, wünsche ich mir, anders als in der berühmten Legende von der Entstehung des Buches Taoteking: daß es Sie noch lange nicht nach Ruhe drängt, daß Sie - obwohl die Güte im Lande wieder einmal schwächlich ist und die Bosheit an Kräften wieder einmal zunimmt - den Schuh nicht gürten und daß es keinesfalls ein Zöllner ist, der Ihnen Ihr vielseitiges Wissen und Fragen abverlangt, sondern Ihre Studenten, Ihre Schüler, Ihre Mitarbeiter und Ihr
Versuch mit Altershausen. Doppelt belichtete Porträt: Fritz Martini zum Siebzigsten
Überstanden!
"Der das sagte, lag in seinem Bette, und nach dem Licht auf dem Fenstervorhang zu urteilen, mußte die Sonne eines neuen Tages bereits ziemlich hoch am Himmel stehen. Es war dem befreienden Seufzer-Wort ein längeres Zusammsuchen, erst der körperlichen Gliedmaßen, sodann der noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten voraufgegangen. Das Alter spricht oft der Kindheit ein Wort nach, weil es von Natur kein besseres weiß und, wenn es im Laufe der Jahre danach gesucht haben sollte, keins gefunden hat. Man braucht sich nicht immer an einer Tischecke gestoßen zu haben, es kann einem auch sein siebenzigster Geburtstag freundschaftlichst, ehrenvollst begangen worden sein."
Wenn auch nicht am 23. August, wie Friedrich ("Fritz") Feyerabend in Raabes Romanfragment "Altershausen" - am 5. September wird einer der letzten großen Historiker der deutschen Literatur, Fritz Martini, siebzlg Jahre alt. Ein Gelehrtenleben setzt damit einen Jahresring an, der den Dichtern wiederholt Anlaß bot für lyrische Reflexion ("Mit siebzig 'ne Jubiläumsfeier, Artikel im Brockhaus und im Meyer", Fontane), für Hexameteridyllik ("Der siebzigste Geburtstag", Voß) und eben für jenes diese Idyllik gehörig ironisierende Romanfragment Raabes, dessen die autobiographischen Bezüge nur wenig verschleiernde erste Niederschrift in diesem Herbst genau achtzig Jahre zurückliegt.
In seinem Forscherleben hat sich Fritz Martini immer wieder einmal mit Raabe beschäftigt - der übrigens von 1862 bis 1870 in Stuttgart lebte -, angefangen mit seiner Berliner Dissertation 1934 - auch Raabe hörte 1854 in Berlin philosophische und historische Vorlesungen - über einzelne Aufsätze ("Wilhelm Raabes 'Prinzessin Fisch'" 1959) bis zu den Raabe-Kapiteln seiner "Deutschen Literatur im bürgerlichen Realismus" (1962). Noch im vorigen Jahr wich Fritz Martini einer Umfrage nach einem Gedanken, einer Devise oder einem Satz aus der Literatur, der besonders haften geblieben sei, aus mit dem Verweis auf die unbekannten Aphorismen Raabes und der Begründung: "Man soll das Persönliche nicht auf den Markt zu den Unbekannten fragen - denn wen geht eigentlich es so an, daß er vielleicht in seinem Eigenen, auf das er angewiesen ist, sich gestört oder verwirrt erfahren mochte? Darf man dem Verbindlichen zumuten, daß es dem flüchtigen Moment oder Reiz des Interesses an der Frage ausgesetzt wird, was nun sie oder er vorzubringen habe - oder: wie verhüllen, wie verraten sie sich?"
Lohnt es sich noch?
Es sind Aphorismen über das Alter, das Altern, mit denen Fritz Martini der Umfrage antwortet: "Und dann die behagliche Frage: 'Lohnt es sich noch?'. In früheren Zeiten war es die bittere Frage: 'Lohnt es sich?'."
Oder: "Das Alter. Man muß sich so mit dem Menschenvolk umher abgeben, daß man die besten Bekannten aus seiner Kinder-Jugendzeit darüber vergißt. Der Käfer, die Raupe. der Schmetterling usw., denen man seit einem Menschenalter und länger nicht wiedee begegnet ist."
Wir dürfen vielleicht in einem derartigen der Antwort ausweichenden und dennoch auf die Frage antwortenden Wechselspiel von Verrätseln und Verschlüsseln privater Existenz im Spiegel des Zitats eine Haltung wiedererkennen, eine Lebensstufe, die wiederum Raabe vorformuliert hat. "Es kommt für den wirklichen Menschen die Zeit, wo er in den Werken der Autoren nicht mehr die Kunst, das Ästhetische sucht, um sich selbst Raum zu schaffen im Sturm des Lebens, sondern. die Fingerzeige, wie jene sich in dem großen Kampfe zurecht gefunden haben."
Einmal auf dem Weg nach "Altershausen", sind weitere Parallelen leicht zu ziehen, etwa zwischen dem Pfeife rauchenden Historiker der Literatur und dem Professor der Medizin und Wirklichen Geheimen Rat: "Er schnupfte nicht, aber er rauchte und - es kam ein schöner Herbst. Er sah von seinem Fenster aus durch das Gewölk seiner Pfeife die Regenwolken sich verziehen, und blies immer künstlichere, aber auch immer nachdenklichere Ringe dem wieder in Blau erscheinenden Zeus zu. Dabei faßte er sich von Zeit zu Zelt an seinen fachgelehrten Puls."
Wie alle Fachgelehrten erfocht auch der Geheime Rat Feyerabend keine "größesten Siegesschlachten". "Aber eine Autorität in seinen Wissenschaften war er gewesen und hatte auf seinen Berufsfeldern seine von den Fachgenossen anerkannten Siege gewonnen. Lassen wir uns herab von der Terrasse zu Sanssouci auf seine arbeit-, erfolg-, sorgen-, freuden- und verdrußbeladene Scholle im Dasein."
In Magdeburg, wo Wilhelm Raabe 1849 bei der Creutzschen Buchhandlung eine Buchhandelslehre versuchte, am 5. September 1909 geboren, besuchte Fritz Martini das Gymnasium. Nach dem Abitur studierte er in Berlin, promovierte ebendort 1934 und wurde wissenschaftlicher Assistent. Nach zeitweilig freier wissenschaftlicher Tätigkeit 1939 Privatdozent in Hamburg, folgte er 1943 einem Ruf an die Technische Hochschule, heute Universität Stuttgart. Nach dem Kriege war Fritz Martini einer der ersten, die auf die Literatur des Expressionismus und damit auf verschüttete Traditionen wieder aufmerksam machten ("Was war Expressionismus?", 1948).
Als Historiker einer literarischen Welt, die nach Goethe "das Eigene" hat, "daß in ihr nichts zerstört wird, ohne daß etwas Neues daraus entsteht, und zwar etwas Neues derselben Art", stets auf der Suche nach diesem Neuen, folgt in den Stuttgarter Jahren eine Vielzahl von Büchern, Aufsätzen, Editionen, die alle aufzuzählen hier unmöglich ist Es entsteht die inzwischen sechzehn mal aufgelegte und erweiterte "Deutsche Literaturgeschichte", mit der inzwischen ganze Schülergenerationen traktiert wurden, vor allem aber entstehen das Schule machende "Wagnis der Sprache" (6. Aufl. 1970) mit seinen exemplarischen Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn und die zum Standardwerk gewordene Darstellung der "Deutschen Literatur im bürgerlichen Realismus" (3. Aufl. 1972).
In den sechziger Jahren rasch einander folgende Analysen deutscher Lustspiele seit dem achtzehnten Jahrhundert deuten eine Wendung von einer primär historischen zu einer mehr strukturell und theoretisch ausgerichteten Interessenlage an, die dennoch den historischen Aspekt nie vernachlässigt ("Lustspiele - und das Lustspiel", 1974). Editionen und Nachworte der siebziger Jahre verweisen in den Barock, andere Editionen, ein umfänglichstes Aufsatzwerk - "Ausflüge", wie Fritz Martini in einer persönlichen Widmung einmal untertreibt - betreffen die Aufklärung, die Klassik, den Sturm und Drang mit zumeist über die Ausgangsfrage hinausweisenden Ergebnissen und Erkenntnissen. Der Mitherausgeber einer zweiundzwanzigbändigen Sammlung "Klassische deutsche Dichtung" (1962 ff.) versucht einen Kanon deutscher Literatur zusammenzustellen; die Mitherausgabe einer fünfbändigen Wieland-Ausgabe (1964 ff.) läßt persönliche Hinneigung erkennen.
Spektrum gelehrter Tätigkeiten
Fritz Martini ist Mitherausgeber des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft, Präsidialmitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt Vorstandsmitglied der Goethegesellschaft, Weimar. In diesem Spektrum gelehrter Tätigkeiten darf das Interesse am didaktischen Aspekt nicht Vergessen werden, belegbar mit zahlreichen unter seiner Obhut entstandenen Dissertationen, der Mitherausgeberschaft der Zeitschrift "Der Deutschunterricht" Die in Stuttgart ausgebildeten Deutschlehrer, der hier betreute akademische Nachwuchs haben von diesem Interesse profitiert.
Wer sich zu seinen Schülern rechnen durfte, lernte im Lehrer zugleich den stets Wohlwollenden, verläßlichen väterlichen Freund kennen. In langen Gesprächen in der Grüneisenstraße 5, in gemischter Runde im "Goethe-Zimmer", wie wir es nannten, oder privat in seinem Arbeitszimmer, in dem eine vielbeneidete Wieland-Ausgabe letzter Hand steht und in dem einmal infolge einer zu früh entleerten Pfeife der Papierkorb brannte, gab es selten eine aufgeworfene Frage, auf die er keine Antwort wußte, kaum eine vorgeschlagene Antwort, die sich nicht zugleich wieder in Frage stellen ließ.
In Gesprächen, die sich oft bis an die Haltestelle der Straßenbahn fortsetzten, an der er zurückblieb, die Pfeife im Mund, die Hand winkend zum Abschied erhoben, möglicherweise noch eine seiner zahlreichen Anekdoten, einen Schüttelreim mit auf den Weg ins Tal gehend. "Solang im Kopf ihm Heine schwirrt, wird er kein guter Schweinehirt". Schweinehirten sind sie alle nicht geworden, die Bibliothekare, Lektoren, auch Schriftsteller, die Schul- und Universitätslehrer, die in seinen Seminaren und Vorlesungen saßen.
Doch müssen wir uns hier zurückrufen: "Man soll das Persönliche nicht auf den Markt zu den Unbekannten tragen." Goethe-Leser - und das war vielleicht das Wichtigste, das man bei ihm lernen konnte: das Lesen -, Goethe-Leser wissen, daß dies auch den Markt meint, auf dem der ewige Philister ohne Einsicht in die gemalten Fensterscheiben der Kapelle Poesie steht. Philisterei hat er nir gemocht und es ist erlaubt, in diesem Zusammenhang aus dem Nachruf Goethes, "Zu brüderlichem Andenken Wielands" zu zitieren:
"Er lehnte sich auf gegen alles, was wir unter dem Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie, kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde und wie diese Ungeister, deren Name Legion ist, alle zu bezeichnen sein mögen.
Hierbei verfährt er durchaus genialisch, ohne Vorsatz und Selbstbewußtsein. Er findet sich in der Klemme zwischen dem Denkbaren und dem Wirklichen, und indem er beide zu gewältigen oder zu verbinden Mäßigung anraten muß, so muß er selbst an sich halten und, indem er gerecht sein will, vielseitig werden."
Erträge eines Gelehrtenlebens
Morgen wird Fritz Martini siebzig Jahre alt - Grund, Glück zu wünschen, den Fleiß und die Erträge eines Gelehrtendaseins zu bewundern und - nicht nur als Schüler - sich zu bedanken, ~ auch wenn die spärliche Sonne dieses Jahres wieder einmal nicht scheinen sollte. Wir dürfen deshalb noch einmal an das andere Geburtstagskind erinnern, an Friedrich ("Fritz") Feyerabend, das uns in den letzten Abschnitten wie weiland der Abu Telfan seinem Erzähler am Schluß des ersten Kapitels ein wenig abhanden gekommen war.
Das zweite Kapitel des "Abu Telfan" beginnt: "Und die Erde drehte wieder einmal ihre Ostseite der Sonne zu"; und in "Altershausen" lesen wir: "Was ging den Alten bei seiner Morgenpfeife jetzt noch das Wetter an. Selbst wenn ihn dann und wann so ein bißchen Rheumatismus drauf aufmerksam machte, daß auch er einige Rücksicht auf es zu nehmen habe seinet- nicht der Witterung wegen. Er war doch wahrlich in seinem Leben genug gelaufen und gefahren durch gutes und schlechtes Wetter, um sich nun zu all dem ihm eben erwiesenen Guten auch das Seinige tun zu dürfen: endlich mal auch seinem eigenen Leibe (die Seele eingeschlossen) die Ehre zu geben und in jegliches Wetter mit vollendeter Gleichgültigkeit seine Rauchwolken hineinzublasen."
[Stuttgarter Zeitung 4.9.1979]
"... immer bei einem Anfangen". Zum Tode Fritz Martinis
Am 5. September wäre Fritz Martini 82 Jahre alt geworden. Er starb am 5. Juli. Und er, der in den letzten Jahrzehnten so manchem Kollegen und Schriftsteller den Nachruf geschrieben hatte, bekam jetzt selber die Nachrufe, in Fachorganen, dem Rundfunk, den Zeitungen. Und bereits dies deutet an, wie vielfältig sein Tod als Verlust empfunden wird, in welche Breite er gewirkt hat. Nicht nur als Verfasser einer umfassenden "Deutsche(n) Literaturgeschichte" (19. Auflage 1991), mit Hilfe derer sich seit ihrem ersten Erscheinen, 1949, ganze Studentengenerationen ihre ersten Einsichten in die komplexen geschichtlichen Zusammenhänge von Literatur verschafften, mit der auch der Verfasser Anfang der 50er Jahre, wie zahlreiche Schülergenerationen bis heute, vom zuständigen Deutschlehrer traktiert wurde, ohne in seiner damaligen Abwehr zu ahnen, daß dieser "Martini" bald sein akademischer Lehrer werden sollte, daß er in der von Martini mit herausgegebenen Zeitschrift "Der Deutschunterricht", im "Schiller-Jahrbuch" eines Tages publizieren würde.
Akademischer Lehrer mit Auswirkungen bis in den Deutschunterricht nicht nur des Inlandes, langjähnger Mitherausgeber des "Deutschunterricht(s)" vom ersten Jahrgang 1948/49 bis 1980 mit gewichtigen eigenen Beiträgen zur Poetik des Romans, zum Lustspiel, zur Klassik, Romantik, zum Expressionismus und der "Sprache und Literatur in der DDR", zu Wieland, Raabe und vielen anderen, Mitherausgeber des "Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft", das er 1957 begründen half Präsidialmitglied der Darmstädter "Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung", Vorstandsmitglied der Schiller- sowie der Ost und West verbindenden Goethe-Gesellschaft, wobei es ihm nie möglich wurde, mit seinen Stuttgarter Studenten einmal gemeinsam nach Weimar zu reisen, Gastprofessor in den USA, wohin man ihn gerne auf Dauer berufen hätte, in Australien und Neuseeland, Jurymitglied und Referent, Autor nicht nur in den einschlägigen Fachorganen, Vortragender hier wie dort, und noch vor wenigen Jahren hörsaalfüllend - das skizziert in Stichworten das Bild eines Gelehrten, der sich wie kaum ein zweiter darauf verstand, in der Vermittlung von Literatur für Literatur zu werben. Und dies noch zu einer Zeit, in der das zunehmende Spezialistentum seiner Fachkollegen dem willigen Leser den Zugang zur Dichtung eher verstellte als öffnete; in der auch die Literatur, im Kontext der anderen Künste, eine Entwicklung nahm, die ihn schließlich fast resigniert fragen ließ, wohin dies führe, ohne darauf eine Antwort zu wissen. Dennoch: noch am Ende seines langen Weges durch Forschung und Lehre standen wie an seinem Anfang Neugier und Fragen, und nie erfolgten Antworten, die nicht sogleich wieder Fragen in sich einschlossen.
Fritz Martini wurde 1909 in Magdeburg geboren, einer Stadt, die, wie der Freund der Anekdote mit der ihm eigenen Ironie gerne erzählte, Bruno Taut zu Beginn der 20er Jahre "anstreichen" wollte. Er promovierte 1934 als Schüler Robert Petschs in Berlin mit einer Dissertation über Wilhelm Raabe, dessen Werk und Humor ihn ein Leben lang begleiten sollten. 1939 habilitierte er sich in Hamburg mit einer Arbeit über "Das Bauerntum im deutschten Schrifttum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert" (erschienen 1944) und wurde 1943 - während er seinen Militärdienst ableistete - an die Technische Hochschule nach Stuttgart berufen. Das bot ihm - einem späten Lehrstuhlnachfolger Friedrich Theodor Vischers - nach dem Kriege neben seiner Lehrtätigkeit genügend Zeit für seine Forschungen und ihre Publikation. Und so konnte er sich bereits recht bald zu Worte melden, über "Die Goethezeit" zum Beispiel (1949), oder schon 1948 zur Frage "Was war Expressionismus?", mit einer anschließenden kleinen Anthologie übrigens, und dies lange bevor Ende der 50er Jahre die großen Anthologien erschienen, 1960 die berühmte Marbacher Ausstellung den "Expressionismus" nachdrücklich in Erinnerung brachte.
Daß Schüler Martinis zu Beginn der 60er Jahre nicht nur über Autoren des Expressionismus, sondern ebenso über die Boheme, sehr früh schon über den Dadaismus und dies auch fächerübergreifend (vor allem in Richtung der bildenden Kunst) arbeiteten und publizierten, sei hier nebenbei erwähnt, weil es bezeichnend war für das geistige Klima eines Lehrstuhls, der, für "Literaturwissenschaft und Ästhetik" ausgewiesen, zu einer solchen Offenheit wissenschaftlichen Fragens gleichsam herausforderte.
An dieser Breite und Offenheit des Fragens und Forschens änderte sich auch nichts, als Ende der 60er Jahre die Technische Hochschule in eine Universität Stuttgart umgewandelt wurde, wobei aus dem Lehrstuhl für Literaturwissenschaft und Ästhetik ein Lehrstuhl für "Neuere deutsche Philologie", dann "Literatur" wurde, dem sich im Institut für Literatur- und Sprachwissenschaft, dessen Ausbau Martini, für wissenschaftliche Entwicklungen stets hellsichtig, wesentlich mitprägte, alsbald Lehrstühle für "Linguistik" sowie "Sprache und Literatur des Mittelalters" (heute: "Altere deutsche Philologie") gesellten, denen sich weitere, fremdsprachige Philologien anschlossen. So daß man wohl sagen darf, daß Martini, als er in den 70er Jahren den Ordinarius mit dem Emeritus vertauschte, sein wissenschaftliches Haus wohlbestellt hatte; ein Haus, das seit Mitte der 50er Jahre von Käte Hamburger mitbewohnt wurde, die, von Martini aus dem schwedischen Exil nach Stuttgart geholt, sich hier habilitierte und vor allem für literaturtheoretische und philosophische Fragenstellungen kompetent war.
War die "Deutsche Literaturgeschichte" Martinis für breitere Leserschichten mitbemessen, dienten "Die Goethezeit" und "Was war Expressionismus?" auch der eigenen wie allgemein der Neuorientierung ihrer Leser, folgten erst danach die Bücher, die für die Nachkriegsentwicklung der Germanistik wichtig wurden und unersetzbar sind. Als Historiker einer literarischen Welt, die nach Goethe "das Eigene" hat, "daß in ihr nichts zerstört wird, ohne daß etwas Neues daraus entsteht, und zwar etwas Neues derselben Art", stets auf der Suche nach diesem Neuen, veröffentlichte Martini jetzt eine Vielzahl von Aufsätzen und Büchern, die vollständig aufzulisten in diesem Zusammenhang unmöglich ist. 1954 erschien das Schule machende "Wagnis der Sprache" (7. Auflage und zugleich Linzenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984) mit seinen exemplarischen "Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn", an dessen Pars-pro-toto-Verfahren die Leser studieren konnten, was auch die Studenten in den Seminaren lernten: daß Literatur zunächst ein Ereignis der Sprache und wie wichtig der methodisch richtige Zugriff ist. Aber auch, daß das als Einsicht in den Text Gewonnene nur einen Vorschlag darstellt, einen Diskussionsbeitrag für das Gespräch über Literatur.
"Wer sich", sagte Martini angesichts der studentischen Unruhen Ende der 60er Jahre, und was er damals formulierte, war für ihn keine neue Einsicht - "Wer sich der Literaturwissenschaft als ein Lehrender und Lernender (...) durch Jahrzehnte verpflichtet hat, kann sich solcher Unruhe nicht entziehen; er weiß, mitunter verzagt, mitunter zu neuem Anlauf bereit, daß er nur immer bei einem Anfangen ist, und er verhehlt sich selbst am wenigsten das Bruchstückhafte, (...) das ihm jedes akademische Jahr von neuem einprägt. (...) Er versucht, mit und in dieser Zeit zu leben, in der sich täglich Zukünftiges bereitet. Er muß zugleich versuchen, sich in allen jenen Zeiten zurechtzufinden, in denen zumindest der Sinn der Literatur unbezweifelt blieb."
Die Zeit, in der Martini vor allem versuchte, sich zurechtzufinden, war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, also jene Zeit, in der er auch die Wurzeln der Wissenschaft wußte, die er forschend und lehrend vertrat. Sein Forschungsbericht (1960), vor allen seine zum Standardwerk avancierte Darstellung der "Deutsche(n) Literatur im Bürgerlichen Realismus 1848 - 1898" (1962, 4. Auflage 1981) sind, zusammen mit einer Vielzahl hier einschlägiger Aufsätze seit der Dissertation über Raabe, nicht nur beispielhaft für legendären Gelehrtenfleiß, sondern sie belegen zugleich eine Forderung Martinis, daß Darstellung von Literatur nicht ausschließlich Geistes- und Formengeschichte umfassen dürfe, daß sie vielmehr die kulturelle, aber auch soziale Umwelt, innerhalb derer Literatur entstehe und lebe, miteinbeziehen müsse.
In den 60er Jahren rasch einander folgende Analysen und Interpretationen deutscher Lustspiele seit dem 18. Jahrhundert deuten eine Wendung von einer primär historischen zu einer mehr strukturell und theoretisch ausgerichteten Interessenlage an, die dennoch den historischen und sozialen Aspekt nicht aus dem Auge verliert ("Lustspiele - und das Lustspiel", 1974). Editionen und Nachworte der 70er und 80er Jahre verweisen in den Barock, zahlreiche Aufsätze und Vorträge - "Ausflüge", wie Martini es einmal in einer ihm typischen Weise untertrieben hat - betreffen Aufklärung, Klassik, Sturm und Drang und weisen doch stets über den Einzelfall hinaus, so daß sich auch dieses Aufsatzwerk unschwer thematisch bündeln ließ zu "Geschichte im Drama - Drama in der Geschichte. Spätbarock, Sturm und Drang, Klassik, Frührealismus" (1979), "Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zur Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute" (1984), "Vom Sturm und Drang zur Gegenwart" (1990). Das ist viel und dennoch nicht alles. Hinzu kommt nämlich eine ebenfalls der Vermittlung von Literatur dienende rege Herausgebertätigkeit, der Versuch zum Beispiel, als Mitherausgeber einer 22bändigen Sammlung "Klassische(r) deutsche(r) Dichtung" (1962ff.) der deutschen Literatur einen Kanon zusammenzustellen, während die Mitherausgabe einer 5bändigen Wielandausgabe (1964 ff.), das Nachwort zu einer Edition des Raabeschen "Horacker" (1981) auch persönliche Hinneigungen erkennen lassen.
Dennoch wich Martini 1978 einer Verlagsumfrage
nach einem Gedanken, einer Devise oder einem Satz aus der Literatur, der
besonders haften geblieben sei, aus mit dem Verweis auf die unbekannten
Aphorismen Raabes und dem Zitat: "Man soll
das Persönliche nicht auf den
Markt zu den Unbekannten tragen - denn wen geht eigentlich es so an, daß
er vielleicht in seinem Eigenen, auf das er angewiesen ist, sich gestört
oder verwirrt erfahren möchte? Darf man dem Verbindlichen zumuten,
daß es dem flüchtigen Moment oder Reiz des Interesses an der
Frage ausgesetzt wird, was nun sie oder er vorzubringen habe - oder: wie
verhüllen, wie verraten sie sich?" Goethe-Leser - und das war vielleicht
sogar das Wichtigste, das man bei Martini lernen konnte: das Lesen - Goethe-
und Raabe-Leser wissen, daß dieses Zitat den Markt meint, auf dem
der ewige Philister ohne Einsicht in die gemalten Fensterscheiben der Kapelle
Poesie steht. Philisterei aber hat Martini nie gemocht. Nicht nur deshalb
sei es erlaubt, abschließend aus dem Nachruf Goethes "Zu brüderlichem
Andenken Wielands" zu zitieren: "Er lehnte sich auf gegen alles, was wir
unter dem Wort Philisterei zu begreifen gewohnt sind, gegen stockende Pedanterie,
kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußere Sitte,
beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit,
anmaßliche Würde und wie diese Ungeister, deren Name Legion
ist, alle zu bezeichnen sein mögen. Hierbei verfährt er durchaus
genialisch, ohne Vorsatz und Selbstbewußtsein. Er findet sich in
der Klemme zwischen dem Denkbaren und demn Wirklichen, und indem er beide
zu gewältigen oder zu verbinden Mäßigung anraten muß,
so muß er selbst an sich halten und, indem er gerecht sein will,
vielseitig werden."
[Der Deutschunterricht, Jg 43, 1991, H. 5, S. 97-99]