Sebastian Blau

Ottilie Wildermuth
 
 

Mein Vater, Gottlob Rooschüz, war, als er 1816 seine Gattin Leonore, geb. Scholl, an ihrem zwanzigsten Geburtstag heimführte, Kriminalrat in Rottenburg am Neckar. Durch eine neue Gerichtsorganisation des Königs Friedrich, die Einrichtung der Kriminalsenate, war eine Anzahl junger württembergischer Familien in die ehemals österreichische Stadt gekommen, die sich noch 'neuwürttembergisch' fühlte... Diese jungen Ehepaare führten nun in dem schön gelegenen Städtchen ein heiteres, geselliges Leben, in welchem das anmutig zwischen Tannenwald im grünen Thale gebettete Bad Niederau ein häufiges Ziel für fröhliche Spaziergänge bot...

Als ich, das erste Kind meiner Eltern, geboren wurde, am 22. Februar 1817, war ich ein zartes, schwächliches Kindlein und sollte bald getauft werden. Der evangelische Pfarrer war im Augenblick nicht zu Hause; da bot ein katholischer Geistlicher, der als Altertumsforscher wohlbekannte Domdekan Jaumann, meinem Vater gutmütig an, er wolle ihm sein Kindlein nach evangelischem Ritus taufen, wenn ihm eine Liebe damit geschehe. Der evangelische Pfarrer kam aber noch zu rechter Zeit, und so war das Opfer nicht nötig...

Von meiner Geburtsstadt habe ich keine Erinnerung behalten, als daß wir in einer grünen Stube gewesen, auch das Haus meiner Geburt weiß ich nicht mehr zu finden...

Es ist nicht gerade viel, was Ottilie Wildermuth über ihre Geburtsstadt zu erzählen weiß; freilich wurde sie dort kaum zwei Jahre alt, denn schon 1819 kam ihr Vater als Oberamtsrichter nach Marbach. Dem Neckar aber, der ihre Wiege umrauscht, bewahrte sie zeitlebens eine warme Anhänglichkeit und blieb ihm treu: Rottenburg, Marbach, Tübingen - in diesen drei Städten erfüllte sich ihr Leben.

Immerhin blieb ihr mit ihrem Vornamen ein stetes Gedenken an die Stadt ihrer Geburt: sie glaubt, daß sie den damals noch seltenen Namen Ottilie nicht Goethes Ottilie, die zu jener Zeit die gebildete Welt in Aufruhr versetz habe, verdanke, sondern der Heiligen, der eine Kapelle in Rottenburg geweiht sei; sie meint das Thodriskirchle.

Ganz seltsam klingt die erstaunliche Nachricht, daß einmal in unserem Rottenburg Wiener Umgangsformen im Schwang gewesen. Ihre Mutter, erzählt Ottilie Wildermuth, sei vom Amtsdiener nach österreichischer Sitte imme gnä' Frau betitelt worden! Fehlt nur noch das Küß die Hand, und der charmante Ragozer verdiente, ins Goldene Buch der Stadt eingetragen zu werden. Übrigens hieß er Letzius.

Vergebens haben immer wieder Heimatfreunde jene grüne Stube gesucht und die Ehre, Ottilie Wildermuths Geburtshaus zu sein, bald dem jetzigen bischöflichen Palais, bald dem Eckhaus an der Königstraße und Zwiebelgasse (oder Seminargasse, wie sie feiner heißt) zugeschrieben.

Papier ist vergänglich, als Tapete, und wäre sie noch so hoffnungsgrün, noch schneller als in Buchform. Denn dem literarischen Ruhm der liebenswürdigen Erzählerin sind die zehn Bände ihrer "Gesammelten Werke" schon heute nur noch eine schwache Stütze. Und doch verdient die warmherzige und gescheite Frau, die als vielgeschäftige Gattin und Mutter, als gastfreie Hausfrau, freiwillige Mägdeverdingerin, Wohltäterin und Trösterin in vielerlei Nöten noch Zeit fand, zwischen Spätzlesbrett und Flickkorb humorvolle Bücher zu schreiben und mit Gott und der Welt Briefe zu wechseln, die Uhland und Kerner zu Freuden und einen Adalbert Stifter zu ihren Bewunderern zählte, nicht ganz vergessen zu werden.

Wenn man ihre Sachen liest, dies Kompliment macht ihr die Gattin des Dichters Bodenstedt in einem Weihnachtsbrief, so weiß man auch, daß sie Strümpfe stopfen können. - O hausbackenes Glück biedermeierlicher Tage, da schreibende Frauen mit dem Lorbeer nicht nur die Dichterstirne zu schmücken, sondern auch Suppen schmackhaft zu machen verstand!
 
 
 
 

Aus Schattenrisse. In: Rottenburger Hauspostille, Stuttgart: Konrad Theiss Verlag 1976.





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