Helmut Engisch | Sioux-Indianer bei Straßburger
Edel-Bräu
Die Berühmte "Esslinger Taverne"
im Stuttgarter Bohnenviertel
Zimmermaler war der Wilhelm Heritier eigentlich von Beruf. Doch dachte er, als er im Jahr 1874 aus seiner lothringischen Heimat in die Hauptstadt der Württemberger gekommen war, keineswegs daran, den Stuttgartern die Plafonds zu weißeln oder ihnen mit leichter, kunstsinniger Hand die Fassaden zu verschönern. Er hatte weit Nachhaltigeres im Sinn. Das berühmte Straßburger Bier, so rechnete er sich‘s aus, sei gerade recht, um sangesfrohe Schwabenkehlen zu kühlen und die kulinarischen Köstlichkeiten des Elsaß eine längst überfällige Herausforderung für spätzleverklebte Magenwände. Also machte sich Wilhelm Heritier von der Wohnung in der Gaisburger Straße Nummer 14 - parterre - auf, seinen Ideen einen möglichst vielversprechenden Ort zu suchen.
In der Esslinger Straße mit der Nummer 31 ½, im Bohnenviertel also, wo die Trollinger-Seligkeit nicht erst spätabends, sondern auch schon zur Vesperzeit über die landestypische Arbeitswut triumphierte, entdeckte der Herr Heritier ein geeignetes Gelass für seinen wohlabgeschmeckten Missionsdrang. Es war ein äußerst schmaler Raum, eigentlich kaum mehr als ein Durchgang in jenem Gebäude, in dem noch drei Jahre zuvor die Belegschaft der Firma Theodor Friedrich Müller Herde gebaut hatte. Immerhin, so rechnete sich’s der Gastronom in spe aus, würde sich in diesem Schlauch von einem Raum ein mächtiger Tisch kommod plazieren lassen, um den er so rund 35 Gäste zu geselligen Genuss versammeln konnte. Und so eröffnete der "Gastgeber Heritier" am 52. Geburtstag des König Karl, am 6. März des Jahres 1875 also, seinen "Spezialausschank der Brauerei Gruber in Straßburg" und nannte sein Lokal, um dessen Anziehungskraft werbewirksam zu steigern, "Elsässer Taverne".
Begeistert labten sich die Stuttgarter bald am Gebräu aus den Fässern der Brauerei Gruber, und wer sich nicht unter die Stammtischgäste mischen wollte, der holte sich sein Feierabendbier eben im Krügle beim Maitre Heritier. Doch auch seine Zwiebel- und Schneckensüpple goutierten die Hauptstadtschwaben sehr. Wobei sich’s manche grimmige Veteranen aus dem Siebzigerkrieg nur schwer verbeißen konnten, über ihren bedeutenden Anteil an der Eroberung der linksrheinischen Gefilde zu schwadronieren und zu fortgeschrittener Stunde den "Erbfeind" abermals, wenn auch nur am Biertisch zu besiegen.
Jedenfalls war der Zulauf zur "Elsässer Taverne" im Bohnenviertel bald so heftig, dass Monsieur Heritier nach kurzer Zeit schon seinen gastlichen Schlauch die Montageräume der einstigen Flaschnerwerkstatt angliedern und sein friedliches Reich der kultivierten Gastlichkeit auch in den ersten und zweiten Stock des schmalbrüstigen Hauses ausdehnen konnte.
Längst hatte sich Herr Heritier mit seiner Taverne aufs Beste in Stuttgart etabliert, als in den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein junger Mann sein renommiertes Lokal mit einer solchen Leidenschaft und Ausdauer frequentierte, dass solch beispiellose Treue selbst den weltläufigen Gastgeber ein wenig stutzig machte. Es dauerte nicht lange, da hatte der Wirt das Geheimnis um den so ausnehmend anhänglichen Gast gelüftet. Es waren nicht die Köstlichkeiten aus Keller und Küche, die diesen Jüngling so übermächtig anzogen. Dem Charme und Liebreiz seiner Tochter war der jugendliche Kavalier erlegen. Nicht unbedingt beunruhigt, doch immerhin um das Seelenwohl seines Töchterleins besorgt, holte der Vater nun beflissen Erkundigungen über den eifrigen Tavernenbesucher ein. Der war, so erfuhr er ohne viel Mühe, der Sohn des Wirts von der Weinstube am Alten Postplatz und ein ausgemachter Filou. Dieser Jüngling namens Willy Widmann, so wurde ihm zugetragen, widersetze sich nicht nur seit Jahren mit ausdauernder Energie dem väterlichen Wunsch, das ehrbare Handwerk eines Kochs zu erlernen, er übe sich stattdessen in magischen Künsten und theatralischen Tändeleien. Eine Zeit lang habe er sich als Schauspiel-Eleve am Heidelberger Stadttheater herumgetrieben, dabei allerdings mehr überrascht als geglänzt. Allerdings, so erfuhr Herr Heritier glücklicherweise auch, habe das schwarze Schaf der ehrbaren Familie Widmann inzwischen seinen lausigen Ruf wieder etwas aufzupolieren vermocht. Und zwar dank eines Auftritts bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im "Königsbau", bei er dieser Willy Widmann nicht nur das bürgerlich-biedere Publikum, sondern den König höchstselbst mit seinen magischen Kunststücken bezaubert und den Monarchen zur öffentlichen Belobigung seiner schillernden Talente ermuntert habe.
Diese Auskunft einerseits und andererseits die Gewissheit, dass die Zauberkraft dieses jungen Herrn offenbar mächtig genug gewesen war, seiner Tochter das hübsche Köpfchen zu verdrehen, mag den Gastwirt Heritier bewogen haben, einer Heirat der beiden ohnehin schon Verlobten nichts in den Weg zu legen. Und als der Vater des künftigen Schwiegersohnes schließlich versprach, seinem "Früchtchen" neben anderen Sicherheiten auch noch den in langen Jahren bewährten Hausknecht Jakob zum Aufbruch in dessen neues Leben als verantwortungsbewusster Ehemann, Haus- und Gastwirt mitzugeben, sah Wilhelm Heritier keinen Grund mehr, seiner Tochter das Lebensglück zu verweigern.
Damit hatte der Patron Heritier, das wurde bald offenbar, eine glückliche Entscheidung getroffen. Und als er seinen Schwiegersohn im Jahr 1900 auch offiziell zu seinem Nachfolger bestellte, hatte sich der einstige Luftikus längst als geschäftstüchtiger Gastronom bewährt. Und sein notorischer Hang zum Künstlerischen hatte dem Wirtschaftsbetrieb keineswegs geschadet. Ganz im Gegenteil, denn seit der muntere Willy über Küche und Zapfhahn gebot, frequentierte das Stuttgarter Künstlervolk mit ausgeprägter Vorliebe die "Elsässer Taverne". So wehte durch ihre verwinkelten Räume nicht mehr nur der Rauch dicker Zigarren, auch ein kräftiger Hauch von Boheme belebte die Wirtshausluft. Und nicht allein die heimischen Maler, Poeten, Literaten und Schauspieler samt deren Anhang genossen die lockere und launige Athmosphäre der Bohnenviertel-Taverne. Auch die Berühmtheiten von Bühne, Zirkus und Varietè, die in Stuttgart gastierten, erholten sich bei ihrem Freund und Bewunderer Willy Widmann und amüsierten sich unter Gleichgesinnten köstlich.
Der Zauberer Rastelli, der Clown Grock und andere Stars der internationalen Zirkuswelt ließen sich nach dem Abschminken zu ausgiebiger Entspannung an den Tischen der Taverne nieder. Und als im Jahr 1900 der große amerikanische Zirkus "Barnum & Bailey" mit hunderten von Artisten in Stuttgart gastierte, da hockte spätabends regelmäßig ein Schar besonders ausgelassener Gäste bei Bier, Edelzwicker und Gewürztraminer. Gäste, deren Anblick so manchen stillen Zecher in schwere Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit und an der Zuträglichkeit der bereits genossenen Alkoholika stürzte. Doch war in Wirklichkeit alles halb so wild, wie der Anschein es bedeuten mochte. Es waren die Sioux-Indianer vom amerikanischen Zirkus, die bei Willy Widmann in Feuerwasser schwelgten und sich ausgiebig darüber wunderten, wie sehr allein schon ihr Anblick die einheimischen Gäste beeindruckte.
Auch manche Premiere am nahen Hoftheater wurde im kleinen Nebenzimmer der "Elsässer Taverne" im ersten Stock nach Kräften begossen. Doch suchte dort auch der Dichter Ludwig Thoma Entspannung, wenn ein Lustspiel aus seiner Feder die Gemüter moralisch besonders unbeugsamer Schwaben wieder einmal zutiefst erschüttert und zu einer Anzeige beim Staatsanwalt genötigt hatte. Wenigstens am Abend eines nervenzehrenden Prozess-Tages konnte Ludwig Thoma bei Willy Widmann die beruhigende Gewissheit gewinnen, das nicht alle Schwaben vom moralischen Eifer angefressen waren, dass es selbst in der Hauptstadt der Pietisten Menschen gab, die eine eher barocke Lebensauffassung zu schätzen wussten.
Und eben diese genussvoll-nonchalante Atmosphäre
der Taverne schätzte auch der Satiriker Dr.
Owlglaß,
der zu jener Zeit unter seinem bürgerlichen Namen Hans
Erich Blaich in Stuttgart lebte, als Arzt arbeitete und nebenher
für den Münchner "Simplicissimus" schrieb. Doch auch Joachim
"Kuttel Daddeldu" Ringelnatz, so die Legende,
habe sich unter der Obhut von Willy Widmann gern seinen poetischen Träumereien
und Steinhäger-Wonnen hingegeben.