Hermann Finsterlin
Aus den Aphorismen
 

Geschichte ist das Kläglichste von der Welt; sie besteht tatsächlich nur aus Namen.

Masse ist Unvermögen zu Qualität.

Es gibt Gazellen und Mastschweine.

Es gibt nur ein Verbrechen in der Welt: Gewalt.

Wo der Mensch das Wort Zweck in den Mund nimmt ist es stets ein Zeichen, daß er mit etwas nicht fertig geworden.

Ich teile die Menschen ein in Sadisten, Masochisten und Hedonisten; die letzteren sind die einzig Diskutablen.

Denken ist eine Mangelkrankheit, Wissenschaft und Religion sind Prothesen und Arznei.

Wissenschaft ist eigentlich geistiges Schmarotzertum, die Ausdehnung der Erlebnisebene geschieht passiv nicht aktiv wie in der Kunst daher auch die Gefährlichkeit für Subjekt, Objekt und Erde.

Der Irrtum ist ein Bestandteil des All.

Nirwana ist ein Nicht-Geborenes, Nicht-Gewordenes, Nicht-Festgestaltetes, Nicht-Zusammengesetztes, Un-Erschaffenes, ohne Ursprung und Ende.

Laotse als das einzige großartige Beispiel eines Religionsstifter, der zu Lebzeiten nie in Erscheinung getreten war, nie gepredigt hatte, nie Jünger besaß, dessen wenige Bekenntnisse in aphoristischer Form zufällig durch die Bitte eines Grenzoffiziers der Nachwelt erhalten blieb und von da aus Millionen in ihren, freilich wie immer pervertierten Bann zog.

Alle Leben sind nur Experimente, in irgendeiner Individualform, vom Bakterium bis zum Sonnensystem und höheren sog. Göttern organisch optimal zu existieren und restlos glücklich zu sein.

Es kommt nicht darauf an, daß etwas Wahrheit ist, sondern daß etwas Wahrheit sein könnte, auch in der Kunst.

Alle Phantasie ist Spielart. Die Variante, die Spiel-Art der belebten Welt ins Unendliche hinein ist doch der intensivste Reiz zu künstlicher, nach vorne, aber auch nach rückwärts ins Einfachste, unnatürlich Einfache.

Schauen und Hören ohne jegliches Denken, wer das wieder erreicht hat, ist dem Paradiese nah.

Das Produkt ist das Wesentliche in aller Kunst, nicht der Schöpfer.

Jede menschliche Manufaktur hat neu, beispiellos, einmalig zu sein.

Daß in der Malerei die Leistung oder gar die Gesinnung maßgebend geworden, statt die reine Augenweide, das war ihr Ende.

Abstracte Malerei ist von vorn herein sowohl als Begriff wie als Ausdruck reinster Unsinn. Abstract können nur Gedanken sein. Letzten Endes gibt es überhaupt ebenso wenig Abstractes, wie es keinen absoluten Punkt, keine Linie und Fläche gibt.

Die sechstonige Tonleiter als Reinigungserlebnis unseres Gehörs.

Die zunehmende Mißklangliebe der neueren Musik als unbewußter Weg zum Richtigen. Unsere bisherige Harmonie ist reine Gewohnheit, die die Geschmäcke der Kochkunst und pervers wie diese.

Dichtung ist die größte Sublimation, das Unbildbare, Musik noch feiner, das Unsagbare.

Jede Handlung ist Verwandlung. Das ist die wichtigste Erkenntnis für alle Darstellungskunst.

Musik als Vorstufe zur Malerei, gleichsam die Wasser, über denen der blühende Geist schwebt. Das Bild als fertige Musik

Mindestens einmal im Leben müßte jeder Mensch bauen können wo, wie und was er will.

Wirkliche Phantasie ist das Zurückfinden zur Mutterlauge, wenn ihr wollt, Gottvaterlauge, zum Urborn der gestalteten Welt, der aller Weltkörper Zustände und Ereignisse schuf.

Farben gibt es drei, fünf, sieben und unendliche, Töne gibt es drei, fünf, sieben und unendliche, Geschmäcker gibt es drei, fünf, sieben und unendliche, aber es gibt nur eine unendliche Liebe.
 
 





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